Magazinrundschau - Archiv

CulturMag

3 Presseschau-Absätze

Magazinrundschau vom 18.08.2020 - CulturMag

Georg Seeßlen denkt über die Systemrelevanz von Kultur nach. Dass sich weite Teile des Betriebs in den letzten Monaten dazu bekannt, beziehungsweise diese Selbsteinschätzung aggressiv nach außen gekehrt haben, findet er mindestens zwiespältig: Schließlich habe noch jede Krise dazu geführt, dass es Kulturschaffenden im allerweitesten Sinne danach nicht besser gehe, sondern der Druck in unserer "neoliberalen, proto-faschistischen politischen Ökonomie" eher erhöht werde. Dieser "Anspruch der Systemrelevanz würde allerdings bedeuten, Kultur müsste eines der Mittel  zur 'Rückkehr zur Normalität' sein, oder umgekehrt ein Teil der Normalität, zu der man so dringlich zurück kehren will. Aber das würde doch zumindest das Selbstverständnis eines Teils der Kultur arg tangieren: Wollte man nicht das System in Frage stellen, es verändern und verbessern, es sogar ablehnen oder verhöhnen, jedenfalls ein Teil von Utopie und Transzendenz sein? Eine Kultur, die im Namen der 'Rückkehr zur Normalität' gerettet würde, wäre, im 'modernen' und sogar noch im postmodernen Verständnis diese Rettung nicht wert. ... Was aber, wenn Teile dieser Kultur sich ein Herz fassten, und behaupteten, wenn schon sonst niemand, so hätten doch wenigstens diese Kulturteile die Krise verstanden und das System nicht als Opfer sondern als Verursacher der größten Probleme dabei durchschaut? Die Anerkennung der 'Systemrelevanz' und damit die Unterstützung der 'Zurück zur Normalität'- Politik und -Ökonomie wäre damit beim Teufel. Die Kultur würde, wenn sie sich aus der Krise moralisch retten wollte, dazu gezwungen, ihre politisch-ökonomischen Grundlagen zu opfern. ... Wir ahnen fürchterliches: In der Krise und nach ihr soll überhaupt erst so etwas entstehen wie 'systemrelevante Kultur'. Eine Versöhnungs- und Bewältigungskultur, die die Rückkehr zur Normalität gentrifizieren soll."

Magazinrundschau vom 06.08.2019 - CulturMag

Für seine Sommerausgabe hat das CulturMag einen bunten Strauß an Essays, Rezensionen, Textauszügen und weiteren Varia zum Thema "Natur" zusammengestellt. Georg Seeßlen etwa macht sich beim Sommernachmittag unter einem Baum summende und brummende Gedanken zum Thema Mathematik, Natur und Katastrophen - und erzählt dabei auch von einer schönen Betrachtung aus der Zikadologie, denn Zikaden und Primzahlen haben ein eigentümliches Verhältnis, schließlich schlüpfen die Larven nur alle paar Jubeljahre und zwar im Primzahlen-Abstand. Dies "scheint ein besonders genialer Trick, sich vor den Fressfeinden zu schützen, die auf das Überangebot reagieren. Denn eben diese Fressfeinde vermehren sich in Rhythmen von zwei, vier, fünf oder sechs Jahren, so dass es zu keiner häufigen Synchronität kommt. Schlüpft ein Fressfeind zum Beispiel im Fünf-Jahresrhythmus, dann dauert es mindestens 85 Jahre, nämlich 5 mal 17 Jahre, bis sich die Schlüpfzyklen von Zikaden und Fressfeinden überschneiden."

Der auf Naturbetrachtungen spezialisierte Germanist Ludwig Fischer nimmt uns derweil zu einem Ausflug mit ins Moor, dessen Kulturgeschichte er umreißt: Viel vom Moor ist in Deutschland nicht übrig geblieben, aber auch dessen heutige Bewahrung aus ökologischen Gründen ist in erster Linie eine Kulturleistung, schreibt er: "Erstens: Die ästhetische 'Entdeckung' des Moors (im 19. Jahrhundert) erfasste, sieht man genau hin, gar nicht die 'unberührte Natur' des Hoch- oder Niedermoors. ... Zweitens: Auch diese ästhetische Überhöhung der 'ersten Stufe', also der vorindustriellen Phase der Moorkolonisierung hat, mit ihrer agrar-romantischen Tendenz, einen regressiven Zug, stellt das gesamtgesellschaftlich schon weithin Überholte vor."

Außerdem: Brigitte Helbling hat erstmals den Essay "Die braunen Wespen" des Naturbeobachters Loren Eiseley aus dem Jahr 1956 ins Deutsche übertragen - "ein seltsamer Essay", wie die Übersetzerin im Anhang selber einräumt: Sehr aufmerken lässt allerdings, dass der Text ursprünglich in der von Joyce Carol Oates herausgegebenen Anthologie "The Best American Essays of the Century" berücksichtigt wurde. Und der Schriftsteller Johannes Groschupf, der gerade für seinen Thriller "Berlin Prepper" (unsere Kritik) gefeiert wird, schreibt über seine Reise nach Sibirien auf den Spuren des Naturforschers Georg Steller, über den Groschupf eigentlich einen Roman schreiben wollte. Dazu ergänzend der Hinweis: Beim NDR gibt es derzeit noch Peter Leonhard Brauns wunderbar lakonisch getextetes, sehr radiophonen Feature-Klassiker "Hyänen" aus dem Jahr 1971 zum Nachhören.

Magazinrundschau vom 17.01.2017 - CulturMag

Wohl kein zweiter schreibt so sinnlich wie kundig über die Geschichte des BRD-Kinos wie der Filmemacher Dominik Graf. Das CulturMag bringt die "Director's Cut"-Fassung von Grafs Beitrag zur filmhistorischen Aufsatzsammlung "Geliebt und verdrängt" über das deutsche Kino der 50er Jahre, die anlässlich der Retrospektive beim Filmfestival in Locarno erschienen ist. In seinem Essay ertastet der Regisseur die Konturen des Männerkörpers im Nachkriegskino, die sich ihm unter anderem auch in den Synchronisationen amerikanischer Filme offenbaren: Diese Praxis mag als Ausweis von Provinzialismus gelten, doch sie hat auch "deutschen Schauspielern sprachliche Coolness gelehrt, wenn sie Jean Paul Belmondo oder Humphrey Bogart sprechen konnten. Hinzu kommt, daß die deutschen Mimen im Synchronstudio vollends die Sau rauslassen konnten, ja mußten, wenn sie sich an Louis de Funes' oder Alberto Sordis Tempi angleichen sollten. Und so sah man bzw hörte, was sie alle technisch-schauspielerisch konnten!  Zu solchen Höchst-Leistungen gab ihnen nämlich das deutsche Kino ab den 70ern nur noch selten Gelegenheit. ...Um zu einem gerechten Urteil des westdeutschen Kinos (im Grund bis in die Jetzt-Zeit) zu kommen, muß man solche erstaunlichen Sonderwege des deutschen Films auch ans Herz drücken können, will sagen: erspüren, wie sehr die Grenzen, die Übergänge stets ineinander flossen. Wahnsinn und Modernität, Tradition und Lüge, Verdrängung und wunderbares Understatement, Aufrichtigkeit, Kunst und Kunstgewerbe sind Nachbarn im deutschen Film und erzeugen so ein schmerzhaftes Quietschen in den Scharnieren der Darstellung, der Herstellung - aber auch oft eine wirklich einzigartige Schwingung der Filme."

Sehr unterhaltsam und erfreulich ausführlich geraten ist auch ein Beitrag von Lee Child, in dem der Bestsellerautor erklärt, wie er seine Thrillerfigur Jack Reacher ersonnen hat. Unter anderem erfahren wir auch, dass die ikonische Figur ihren Namen auf sehr unkonventionelle Weise erhalten hat - beim Einkauf: "Im Supermarkt trat - was für große Männer eine alltägliche Erfahrung ist - eine kleine alte Dame zu mir und sagte: 'Sie sind ein recht großer Mann, könnten Sie mir bitte diese Dose reichen (Englisch: 'to reach')?' Meine Frau sagte zu mir: 'Wenn das mit dem Schreiben nicht funktioniert, kannst du jederzeit als Reicher (Englisch: 'reacher') im Supermarkt arbeiten.' Ich dachte, was für ein toller Name! Und ich nahm ihn und muss jedes Mal schmunzeln, wenn ich im Internet Kommentare lese, in denen es heißt, dass ich den Namen gewählt hätte, weil das Zielstrebige und Unaufhaltsame darin enthalten seien." Dazu ein Hinweis in eigener Sache: Bereits 2007 hat Perlentaucher Ekkehard Knörer einen Essay über diesen großartigen Thriller-Zyklus geschrieben, der Reacher-Neulingen gut als Einstieg dienen kann.

Außerdem: Ein Auszug aus Georg Seeßlens neuem Buch, in dem der umtriebige Kulturkritiker das Phänomen Trump aus Perspektive der Popkultur deutet.