Mord und Ratschlag

Der strenge Besänftiger

Die Krimikolumne. Von Ekkehard Knörer
01.09.2008. Still ruht der See in Heinrich Steinfests neuem Roman "Mariaschwarz". Scheint es. Schnell kommt aber Unruhe auf. Eine Leiche taucht auf, eine Symbiose wird gestört, das ganz normale Unheil nimmt seinen Lauf. Kommissar Lukastik muss verhindern, dass die Inkongruenzen überhand nehmen, und der Erzähler schreibt noch auf geraden Linien krumm.
Die Romane von Heinrich Steinfest kennen keine Grenzen. Oder anders: Sie kennen Grenzen, aber sie schrecken nicht davor zurück, diese, wenn es nötig wird, zu überschreiten. Nicht aus Jux und Dollerei, sondern nur, wenn es der Wirklichkeitsfindung dient. Es sind die erstaunlichsten Dinge, die den Flug seiner Fantasie kreuzen, aber Steinfest fabuliert nie leichtfertig vor sich hin. Ganz im Gegenteil. Wenn er sich aufmacht, über Dinge zu schreiben, die über Menschenverstand gehen, dann aus Respekt vor dem, was da jenseits des von Menschen üblicherweise Gedachten und alltäglich Gemachten möglich sein kann.

Zuletzt, in "Die feine Nase der Lili Steinbeck", ging es hinaus in die Welt, schickte Steinfest seinen Helden hinein in eine Verschwörung vom Ausmaß griechischer Mythologie. Auf das expansiv systolische Werk folgt nun eine Art Diastole, ein Roman, der aufs Heterogene nicht verzichtet, es aber nach Möglichkeit sammelt und konzentriert. Wie es stets der Fall ist im sanften Chaos der Steinfest-Romane, tauchen Figuren auf und verschwinden, und selbst wo die Linien der Intrige gerade sind, schreibt der Autor darauf noch krumm. Den Halt, den es braucht im Universum dieser Bücher, gibt nicht der Plot und gibt nicht die Aktion, die nämlich niemals die Verhältnisse zur Action verfestigt. Den Halt geben viel eher dem Einzelding und dem Individuum und erst recht der Kriminalhandlung übergeordnete Rhythmusprinzipien. Und so stiebt eben, was zuletzt auseinanderstob, diesmal zusammen.

Freilich stiebt es. In sich ruhend ist das Zentrum des neuen Steinfest-Romans "Mariaschwarz" (erstmals im Hardcover) nur auf einen oberflächlichen ersten Blick. Zwar ist der Schauplatz ein abgelegener Ort namens Hiltroff in den österreichischen Bergen. Zwar ereignet sich dort, wie es scheint, insgesamt nur sehr wenig. Zwar haben sich, fast als wäre es eine Erzählung von Stifter, die Dinge und Menschen und die Menschen, als wären sie selbst eigentlich Dinge, dort eingerichtet für eine Zukunft von Dauer. Zwar ist dieser Ort Hiltroff ein Ort, an dem perfekte Symbiosen möglich scheinen wie die zwischen einem Mann namens Vinzent Olander und seinem Gastwirt mit Namen Job Grong. Zwar gehen die Dinge ihren geregelten Gang und zwar ruht denkbar still oben am Berg jener See, der dem Buch seinen Titel gibt.

Mit dem Erzählen, das ausgerechnet mit der Frage "Gibt es Perfektion in der Welt?" seinen Ausgang nimmt, gelangt das große Aber in diese Welt. Das Aber ist die Ereignishaftigkeit, nach der das Erzählen verlangt, schon gar das Erzählen des Kriminalromans, der ohne Intrige schlecht auskommt. Mit der Ruhe und Stille und dem reinen So- und Dasein der Menschen wie des Sees in Hiltroff ist es, sobald das erste Wort des Romans fällt, vorbei. Die Perfektion, nach der der erste Satz von "Mariaschwarz" fragt, ist nur vorstellbar als ein Zustand vor dem Roman.

Ein solcher Zustand ist, versteht sich, bei Lichte besehen, unmöglich, aber als einen Ort, an dem man diesen Zustand als denkbaren im Auge behalten sollte, sieht Heinrich Steinfest die Welt. Um die Unmöglichkeit dieses Denkbaren weiß er, aber weil er auf der Denkbarkeit beharrt, weiß er auch, dass alle Regeln und Ordnungsprinzipien nichts anderes sind als Provisorien und Hilfskonstruktionen und halbe Sachen. Es ist kein "memento mori", das in seinen Romanen alles, was einfach nur ist, relativiert. Steinfests Romane sind radikal, weil, wie in ihnen die Menschen und die Dinge einander begegnen, immer vor der Folie eines "bedenke, es könnte auch perfekt sein" geschieht. Der Erzähler setzt diese fundamentale Inkongruenz zueinander ins Verhältnis durch Humor. Der Humor besänftigt, weil er im Angesicht denkmöglicher Perfektion das nur Halbgute nicht verwirft. Aber er ist ein strenger Besänftiger, weil er das Halbgute mit der als Denkbarkeit in der Hinterhand gehaltenen Perfektion auch nicht verwechselt.

In "Mariaschwarz" senkt Steinfest eine Art Ewigkeitsanker tief hinein ins Herz des Romans, nämlich in den titelgebenden See, in dem sich, sagt man in Hiltroff, das Weltall spiegelt. Auf dessen Grund befindet sich, unterm ohnehin stillschwarzen Wasser, ein uraltes Wasser, als ein ewiges Licht sozusagen, nur dass es natürlich ganz im Gegensatz zum ewigen Licht in katholischen Kirchen stockfinster ist. Auch kann von einem Gott gar keine Rede sein. Die Ewigkeit ist mit anderen Worten ganz und gar immanent - und ewig ist sie, auch wenn es um Jahrmilliarden geht, bei genauer Betrachtung ebenfalls nicht. Außerdem muss man auch erst mal erzählend da hinuntertauchen, um auf dieses finstere Licht zu stoßen und durch dieses Tauchen gerät sofort diese Ewigkeit selbst in beträchtliche Unruhe. Aber so geht es, wenn ich Steinfest richtig verstehe, eben immer zu, wenn das Vollkommene aufs Wirkliche trifft.

Kurz also scheint, zu Beginn des Romans, Perfektion möglich, aber alles verkompliziert sich sogleich. Beinahe ertrinkt Olander, seine Rettung zerstört die Wirt-Gast-Symbiose. Ein Seeungeheuer taucht auf, auch wenn es mutmaßlich nicht echt ist. Eine Vorgeschichte des Olander erscheint, auch wenn an ihr manches nicht stimmt. Die Erzählung verlässt Hiltroff, bewegt sich nach Mailand, nach Wien, bringt den Kommissar Lukastik ins Spiel. Den kennt man noch aus Steinfests Roman "Nervöse Fische". Damals glaubte er erstens an Ludwig Wittgenstein und zweitens, dass es in Wahrheit gar keine Rätsel gibt. Beides glaubt er nun nicht mehr. Ein Menschenfreund ist er aber immer noch nicht. Er bringt Licht ins Dunkel: der Kriminalgeschichte, die es gibt, auch des Mariaschwarz-Sees, auf dessen Grund eine Leiche liegt. Er entdeckt auch, dass in ihm die Liebe zu seiner Schwester mitnichten erloschen ist. Ein bisschen finster ist alles, was in "Mariaschwarz" glimmt.

Grenzen werden überschritten. Aus Notwendigkeit. Recht und Gesetz sind gut und schön, aber für das, was in der Welt so der Fall sein kann, taugen sie wenig. Das muss auch der postwittgensteinische Lukastik einsehen. Wer das Paradies hinter sich weiß, schreitet jenseits der Grenze tapfer voran. Alle Steinfest-Figuren - erst recht natürlich die Bösen, die das Paradies gründlich hinter sich wissen - schreiten deshalb tapfer voran. Oder vielleicht sollte man sagen: Sie irren, sie fallen, sie stürzen - aber immer tapfer - voran. Was ihnen dabei leuchtet, ist kein bethlehemitischer Stern, sondern ein schwarzer Ewigkeitssee in den Bergen. Er gibt weniger Orientierung, als dass er die Zustände, wie sie sind, in ein Verhältnis setzt zu denen, die sein könnten. Komisch ist bei dieser Beleuchtung die Figur, die die Wirklichkeit macht. Darum gibt es beim strengen Besänftiger Heinrich Steinfest so unendlich viel zu lachen.

Heinrich Steinfest: "Mariaschwarz". Roman. Piper Verlag 2008. 316 Seiten. 16,90 Euro