Mord und Ratschlag

Jagdszenen aus Coulter

Die Krimikolumne. Von Ekkehard Knörer
16.08.2002. Die Krimikolumne. Heute: Thomas Perry schickt eine Ex-Cop und einen Datenanalytiker ins Städtchen Coulter um Mord und Betrug aufzuklären. Dort stecken alle unter einer Decke. Und dem Paar wird schnell klar: "Sicher ist nur der Tod".
Am Anfang sieht alles aus wie ein bloßer Versicherungsbetrug, ein raffiniert eingefädelter zwar, aber die Schadenssumme von 12 Millionen Dollar ist für McClaren's eher das, was man anderswo als Peanuts bezeichnet. Die Methode jedoch macht dem Firmenchef Sorgen: das Geld wurde an einen Betrüger ausgezahlt, der sich als Anspruchsberechtigter ausgab, formal scheint alles korrekt, der Verdacht fällt auf Ellen Snyder, die zuständige McClaren's-Mitarbeiterin. Höchst verdächtig außerdem: Ellen Snyder ist spurlos verschwunden. Und darum sitzt eines Morgens Max Stillman an einem Schreibtisch in der Firma und schnüffelt herum. Er befragt die Angestellten und sucht näheren Kontakt zu John Walker, dem in Versicherungsstatistik sehr, in den Dingen des Lebens sehr viel weniger versierten Mitarbeiter, der während seiner Ausbildung eine Affäre mit Snyder hatte und fest an ihre Unschuld glaubt. Wenig scheint die beiden, Stillman und Walker, zunächst zu verbinden. Ein hartgesottener, mit allen Wassern gewaschener Ex-Cop auf der einen, ein etwas weltfremder Datenanalytiker auf der anderen Seite. Dennoch ist es der Beginn einer so ereignisreichen wie wunderbaren Freundschaft.

Eher langsam kommen die Ereignisse in Gang: Stillman nimmt Walker mit nach Pasadena, die dortige Zweigstelle leitete Snyder, Walker besteht eine erste und eine zweite Bewährungsprobe, sie finden Spuren und können klären, wie der Betrug bewerkstelligt wurde. Noch immer scheint Snyder die Hauptverdächtige - bis ein Fund in einem Feld nahe Los Angeles alles in einem anderen Licht erscheinen lässt. Mit diesem Fund ist der Fall gelöst, jedenfalls sieht es so aus, Walker kehrt zurück an seinen Schreibtisch, Stillman verschwindet. Ein auf Florida zurasender Hurrikan macht Walkers Anwesenheit an der Ostküste nötig, das dortige McClaren's-Team benötigt Verstärkung bei der Abwicklung der zu erwartenden Schadensfälle. Grandios unaufgeregt beschreibt Perry die Ruhe vor dem Sturm, mit wenigen Strichen erzeugt er eine gespenstische Stimmung. Und nicht nur mit dem Wetter ist hier etwas nicht in Ordnung, das spürt man, lange bevor klar wird, worum es geht. Leichen tauchen auf, die nur auf den ersten Blick dem Unwetter zum Opfer gefallen sind, rasch zeigt sich, dass ein Betrug nach derselben Methode unternommen wurde, auch Stillman ist sogleich wieder zur Stelle. Erneut ermitteln Walker und Stillman gemeinsam, sie werden überfallen und setzen sich zur Wehr, für die Angreifer geht das nicht gut aus. Eine Sonnenbrille erweist sich als heiße Spur, die beiden machen sich nach New Hampshire auf und was sie in der Kleinstadt Coulter erleben, hätten weder sie noch der Leser sich träumen lassen.

Thomas Perrys Meisterschaft lässt sich in der Nacherzählung der Ereignisse kaum erahnen. Der Plot klingt nach dem erstbesten Bestseller, es kommt im übrigen noch eine reichlich unoriginelle Liebesgeschichte dazu, auch weiteres Nebenpersonal, in das der Autor nur wenig Mühe investiert zu haben scheint. Der erste Blick aber täuscht. Raffiniert ist schon die Entscheidung, John Walker zur Hauptfigur der Erzählung, aber nicht zum Ich-Erzähler zu machen. Wir sind ihm nahe, aber nicht zu nahe, wir teilen seinen Blick auf die Dinge, aber von der ersten Zeile an - nach einem aus der Perspektive Ellen Snyders erzählten Auftaktkapitel - ist da auch eine Zweifel schürende Distanz, das sichere Wissen um einen Rest an Unsicherheit, eine durch Walkers (nach und nach verschwindende) Naivität sanft verschleierte Haltung zur erzählten Welt, die viel Unerwartetes möglich scheinen lässt. Zudem gelingt durch die unterschiedlichen Erzählperspektiven die anfängliche Mythisierung Max Stillmans, die jedoch in einer der vielen kaum merklichen Bewegungen des Romans Stück für Stück abgetragen wird. Je mehr John Walker an Statur gewinnt, desto mehr verliert Stillman von seiner geheimnisvollen Überlebensgröße. "Sicher ist nur der Tod" ist nicht zuletzt eine Art Bildungs- oder Entwicklungsroman, in dem Walker seine Unschuld abhanden Kommt. Im Gegenzug gewinnt er, durchaus unerwünscht, an Lebens- und Nahkampferfahrung, als widerspenstiger Schüler, dem die Lehren seines keineswegs zum moralischen Vorbild taugenden Mentors neue, aber unbequeme Welten eröffnen.

Auch die Sache mit dem Bildungsroman ist freilich eine weitere halbe Wahrheit, denn die psychologische Innenschau des Reifeprozesses, die den klassischen Bildungsroman zur mitunter mühseligen Leseerfahrung macht, hat Thomas Perry fast gänzlich nach außen verlegt: in die Dialoge zwischen Stillman und Walker, vor allem aber in die zunehmend rasante Handlung. Initiationsriten nehmen im Thriller die Gestalt von Auseinandersetzungen auf Leben und Tod an, der Held weiß kaum, wie ihm geschieht, und ehe es ihm recht bewusst ist, hat er getötet und ist ein anderer. Wie es sich für das Genre gehört, ist die Hand schneller als der Gedanke und die feindliche Umwelt schneller als das Subjekt, das mit dem Denken kaum hinterherkommt.

Mit dem letzten Drittel des Romans steigert Perry diese Situation ins Unwahrscheinliche, ja ins geradezu Fantastische, dem mit der Schilderung des Hurrikans zuvor fast unmerklich der Boden bereitet wurde. Coulter, die Stadt, in der sämtliche Bewegungen des Romans, die des Plots wie die der Reifung des Helden, auf wirklich verblüffende Weise zu ihrem Ende gelangen, erinnert an das Santa Mira von Don Siegels Filmklassiker "Die Dämonischen" (mehr hier), abzüglich der Science-Fiction-Elemente: eine kleine Stadt, in der alle unter einer Decke stecken und den Feind zur Strecke bringen wollen. Die Jagdszenen dieses letzten Teils lassen alle Wahrscheinlichkeit hinter sich und es gehört die Chuzpe eines Meisters dazu, einen eindeutig im Hier und Jetzt angesiedelten Roman auf so souveräne Weise an die Grenze zum Fantastischen zu treiben, ohne sie doch je zu überschreiten. Das Staunen über diesen Wagemut schlägt schnell in Bewunderung um, die durch die atemlose Spannung bis zur letzten Zeile gewiss nicht gemindert wird.


Thomas Perry: Sicher ist nur der Tod. Roman. Aus dem Amerikanischen von Elke Link. Kabel Verlag, München 2002, 403 Seiten, gebunden, 19,90 Euro.