Mord und Ratschlag

Wie lernt man neugierig sein?

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
31.12.2020. Dominique Manotti hält mit ihrem Noir "Marseille.73" jenen Moment in der französischen Geschichte fest, als sich Ressentiment, Macht und Verbrechen zu einer rechtsextremen Bewegung formierten. Marcello Fois erzählt in seinem Roman "Abschiede" vom Verschwinden eines Sohnes und dem Sterben eines Vaters.
Cover: Marseille.73Im Jahr 1973 waren die Trente glorieuses vorbei, die glorreichen Jahre der französischen Nachkriegsgeschichte, und besonders unschön zeigte sich dies im Sommer jenes Jahres in Grasse, dem malerischen Städtchen der Blumen und der Düfte in der Provence.

Mit dem Erlass Marcellin-Fontanet war wenige Monate zuvor verfügt worden, dass Einwanderer in Frankreich fortan eine Arbeitserlaubnis und eine anständige Unterbringung vorweisen müssen, um im Land bleiben zu dürfen. Natürlich verfügten sie weder über das eine noch das andere. Als sich in Grasse einige Hundert Tunesier zusammentaten, um für Papiere und bessere Wohnungen zu streiken, bekamen sie es mit dem rechtsextremen Ordre nouveau zu tun, dessen Schlägertrupps Jagd auf die nordafrikanischen Einwanderer machten: Die Hatz von Grasse am 12. Juni 1973 wurde zum Fanal einer ganzen Serie rassistischer Übergriffe in Südfrankreich, die am Ende des Jahres fünfzig Menschenleben kosten sollten. Zehn Jahre nach Ende des Algerienkrieges lebten dort besonders viele nach Frankreich zurückkehrte Pieds-Noirs, Algerienheimkehrer, die ihrem Groll gegen die Einwanderer ungehemmten Lauf ließen, nach der Devise: Sie haben uns vertrieben, jetzt vertreiben wir sie.

Dominique Manotti greift sich für ihren Roman "Marseille.73" diesen emblematischen Moment der französischen Geschichte heraus, an dem sich der Front National gründete und der Rassismus in der französischen Politik festsetzte. Brennpunkt ist natürlich Marseille, die Stadt, in der sich die rechtsextreme Terrororganisation OAS, die korsische Mafia und die Polizei zu einem undurchdringlichen Netz von Hass, Macht und Verbrechen verflochten hatten.

Bei Manotti liest sich das so: Ein geistig verwirrter Algerier tötet einen Busfahrer und provoziert damit wütende Reaktionen der zahlreichen rechtsextremen Grüppchen, die sich in den Bars um die Oper und den alten Hafen scharen. Manche belassen es bei rassistischen Flugblatt-Aktionen, andere bei Drohanrufen, doch eine Gruppe geht dazu über, in den quartiers nord gezielt algerische Männer zu töten, einer von ihnen ist der junge Malek Khider. Er wird vor Bar Terminus in La Calade aus einem Auto heraus erschossen, mit einer Unique 7.65, das Kaliber der Polizeiwaffe.

Ein eindeutiger Fall, doch die Polizei von Marseille sieht nichts, hört nicht, sagt nichts. Um den Anschein zu wahren, ermittelt sie ein bisschen gegen Maleks Freund in der Berufsschule und seinen älteren Bruder - oder verbreitet vielmehr falsche Verdächtigungen. Doch Einheiten aus Toulon haben schon länger das Geflecht der Algerienheimkehrer im Visier und deshalb Verbindung aufgenommen zu Kommissar Théodore Daquin bei der Brigade Criminelle und seinen beiden verlässlichen Inspektoren Grimbert und Delmas. Sie sollen gegen ihre Kollegen ermitteln.  

Daquin ist noch jung und neu in der Stadt, gerade hat er seinen ersten großen Fall gelöst und damit den Unmut der Bürokratie auf sich gezogen. Einige besonders missgünstige Kollegen zielen darauf ab, ihm an den Karren zu fahren, und sein Liebhaber, der aufstrebende Anwalt Vincent Royer, verlegt sich zunehmend auf die Verteidigung der Marseiller Unterwelt. Die Stadt bleibt ihm fremd: "Bevor er zum Evêché aufbricht, wirft Daquin einen letzten Blick auf den Vieux-Port zu seinen Füßen, das graugrüne, reglose Wasser, die verwaisten Kaianlagen, kein Geräusch, keine Bewegung, das Leben steht still. Die Stadt atmet nicht mehr. In einer Handvoll Stunden wird sie Emile Guerlache zu Grabe tragen, sie wartet, sie stinkt nach Blut."

Manotti breitet in all seinem Schrecken das Netz des Verbrechens aus, das Marseille in den siebziger Jahren so berüchtigt gemacht, das Geflecht aus OAS, Unterwelt und Polizei. Je nach Einkommensklasse treffen sie sich im proletarischen Le Foudre oder in der noblen Grand Bar Henri. Wie gewohnt erzählt Manottis in ihrem dokumentarischen Stil, in scharfkantiger Prosa und in kurzen, harten Parataxen. Die inzwischen 78-jährige Autorin, einst Wirtschaftshistorikerin und Gewerkschafterin, hat ihre Kriminalromane stets als politische Interventionen verstanden, aber mit einem großartigen Tableau komplexer Figuren versehen. In "Marseille.73" sind sie ungewöhnlich schwach ausgearbeitet, um nicht zu sagen schwarzweiß: Auf der schattigen Seite der Macht stehen Rassisten, Pieds-Noirs, Gaullisten und Peugeot-Händler, auf der sonnigen Seite der Gegenmacht die Migranten, Kommunisten und die Sprösslinge der Résistance. Frauen kommen so gut wie gar nicht vor. Politisch oder historisch ist das vielleicht plausibel, aber nicht literarisch.

Dominique Manotti: Marseille.73. Roman. Aus dem Französischen von Iris Konopik. Ariadne Verlag, Hamburg 2020, 387 Seiten, 23 Euro (Bestellen)

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Cover: AbschiedeDer sardische Schriftsteller Marcello Fois gehört zu den besonders eigenwilligen Autoren Italiens, und auch sein Kriminalroman "Abschiede" ist ein ziemlich spezielles Buch, so spröde wie zärtlich, so rätselhaft wie gefühlvoll, karg und ausufernd zugleich. "Abschiede" erzählt von der Suche nach einem Sohn ebenso wie von der Suche nach einem Vater.

An einem kalten verschneiten Winterabend in Südtirol verschwindet der elfjährige Michele von einem Autorastplatz aus in den Schnee. Die Eltern waren mit ihm in Sanzeno Pizza essen. Auf dem Rückweg nach Bozen machen sie kurz Halt, und genau in dem Moment, da der Vater einen Fuchs sieht, löst sich der Junge in Luft auf. Auch die Polizei sucht vergeblich, die vom Pfarrer Don Giuseppe verständigt wurde.

Die Eltern des Jungen sind ein seltsames Paar. Der Vater Nicola Ludoviso ist Tierarzt, ein Alphamann, Kontrollfreak und in etliche Affären verwickelt. Die Mutter Gea ist eigentlich Nicolas Adoptivschwester. Sie ist als Kind in die Familie gekommen, nachdem ihr Bruder sexuell missbraucht worden war. Der Vater der beiden hatte stets seine Unschuld beteuert und sich im Gefängnis das Leben genommen. Die Ehe von Gea und Nicola nähert sich dem Ende, der Bruch wird Feuer und Eis zugleich sein.

Commissario Sergio Striggio ist nicht mit allergrößtem Eifer bei den Ermittlungen. Sein Vater kommt zu Besuch, und er hat sich vor ihm nie dazu bekannt, schwul zu sein. Sergios Lebensgefährte will das Versteckspiel nun nicht länger mitspielen. Aber auch der Vater hat seinem Sohn eine Eröffnung zu machen: Er kommt zum Sterben zu ihm.

Es geht um Trennung, Tod und Abschied, ums Sichfinden und Beieinanderbleiben. Wenn der Kommissar den Vater des Jungen verdächtigt, wird er vom eigenen Vater, der selbst Polizist war, zurechtgewiesen. Worauf sich sein Verdacht denn bitte gründe, auf Hinweise, auf Erfahrung oder schlicht Intuition? "Ich will damit sagen, dass Vatersein nicht automatisch bedeutet, schuldig zu sein."

Fois setzt nicht nur die Beziehungen und Paarungen parallel, er verknüpft auch eine Vielzahl von Motiven. Gemäß der Devise, dass die Moderne nie im Gegensatz zur Antike stehen kann, paart er römische Sagenwelt mit Renaissance-Geschichte und Popkultur, stellt Schriften von Leon Battista Alberti neben Songtexte von Robbie Williams oder die Filme von Ingmar Bergman neben Gedichte von Elsa Morante. Er beschwört den Mythos von Gaia und Zeus wie auch die vier Elemente Erde, Feuer, Wasser, Luft: "Von den vier Elementen ist die Luft das absolut mächtigste. Es ist das Einzige, das die Bewegung nicht erduldet, sondern sie erzeugt." Oder erzählt die Geschichte vom kleinen Fuchs Messy, der lernen soll, neugierig zu sein. "Und wie lernt man das? Indem man Fehler begeht!"

So viele Motive kann kein Roman tragen, schon gar nicht einer, der sich wie "Abschiede" auf eine nur angedeutete Figurenzeichnung beschränkt. Das ist von geradezu abstruser Bildungshuberei. Viel schöner sind die intimen Momente der Trauer, des Verlusts, der Zärtlichkeit. Dann erinnert Fois mit seinem einfühlsamen Erzählen daran, dass es nicht erstrebenswert ist, hartgesotten zu sein. "Hart und unsensibel zu werden", schrieb schon Jean-Patrick Manchette, "ist auch eine Form der Niederlage."

Marcello Fois: Abschiede. Kriminalroman. Aus dem Italienischen von Monika Lustig. Polar Verlag, Stuttgart 2020, 475 Seiten (Bestellen)