Mord und Ratschlag

Ernteeinsatz

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
12.10.2020. Max Annas erzählt in seinem DDR-Krimi "Der Fall Melchior Nikoleit" vom Tod eines jungen Punk-Musikers in Jena, vor allem aber vom großen Rauswollen. In "Stadt, Land, Raub" erzählt Marcie Rendon vom indianischen Leben in den siebziger Jahren in South Dakota.
Cover: Morduntersuchungskommission: Der Fall Melchior NikoleitZu den besonders traurigen Kapiteln der DDR gehört der Tod des Matthias Domaschk. Noch keine vierundzwanzig Jahre alt, war Domasck eine charismatische Figur der Bürgerrechtsbewegung in Jena, der im Polizeipräsidium von Gera ums Leben kam. Die Polizei behauptete, er habe sich erhängt, nachdem er nach stundenlangen Verhören eine Verpflichtungserklärung für das MfS unterschrieben hatte. Seine Freunde und ehemaligen Mitstreiter glauben bis heute, er sei umgebracht worden. Max Annas hat seinen Roman Domaschk gewidmet, er lässt ihn auch in einer kurzen Szene aufscheinen: "Otto erinnert sich an den hochaufgeschossenen Jungen. Wie ruhig er gewesen war, als er sich umgedreht hatte, als sich ihre Blicke getroffen hatten, als er seinem Blick standgehalten hatte. Da war Spott und vielleicht auch etwas Überheblichkeit gewesen in seinen Augen. Selbst als ein Uniformierter ihm kurz die Faust an den Kopf geschlagen hatte, war diese Überheblichkeit nicht gewichen. Brachte sich so jemand um?" Eine schöne Geste diese dezente Reverenz.

Otto Castorp ist Oberleutnant der Morduntersuchungskommission, also der Kriminalpolizei der DDR, der sich Max Annas in seiner tiefgründigen Romanreihe verschreibt. Mit einem Bruder beim MfS kann Otto Castorp es sich leisten, nicht ganz linientreu zu sein, im Politischen wie im Privaten, doch meist beschränken sich seine Abweichungen auf flüchtige Gedanken, etwa wenn er Störche beobachtet, die über ihn hinweg ziehen: "Die kamen vielleicht gerade aus Westafrika zurück, wo sie den Winter verbrachte hatten. Das war Freiheit, dachte Otto. Eine Art von Freiheit jedenfalls. Es gab ja so viele."

Im "Fall Melchior Nikoleit" geht es um den Tod eines jungen Punks aus Jena, der in der Band Ernteeinsatz mit seinen Freunden Biber, Sohle und Julia seine Frustration über das Leben in der DDR hinausschrie. Sie proben in einem Kellerverschlag und organisieren heimliche Konzerte in Kirchen auf dem Land, die der Jungen Gemeinde nahestehen. Ihr großer Hit: "Der Rotz, der fließt die Saale runter."

Melchior Nikoleit wird erschlagen aufgefunden in einem Lagerraum seines Vaters, der Antiquitäten in den Westen verkauft, ein einträgliches und deshalb von den Behörden skeptisch beäugtes, aber gern toleriertes Devisengeschäft. Leider wird Melchiors Vater durch ein Alibi sehr bald entlastet, was die Ermittler der MUK wirklich unzufrieden macht: "Einen Schritt entfernt von der Lösung des Falls, und dann sprengt ein unzuverlässiges Mitglied der Gesellschaft die schöne Aussicht auf den nahen Ermittlungserfolg." Ein anderer Mann wird dagegen sehr schnell aus dem Kreis der Verdächtigen ausgeschlossen, obwohl sein Motiv offen zu Tage liegt: Von Bibers Vater, einem Major bei der NVA, kursiert eine alte Fotografie aus dem Zweiten Weltkrieg, die ihn nach der Erschießung britischer Kriegsgefangener zeigt.

Max Annas erzählt in zwei großen Strängen: Der eine folgt Otto Castorp bei seinen Ermittlungen, die er eher gegen als mit seinen Kollegen durchführen muss, wobei diese - Heinz, Günther, Rolf und Konnie - erstklassige Vertreter einer Behörde sind, die vor allem der inneren Logik verpflichtet ist: So machen wir das nicht in der Deutschen Demokratischen Republik. Wehe, der Westen kriegt das mit! "Und wenn das Polizeipräsidium beschließt, dass ein NVA-Offizier es nicht gewesen sein kann, dann ist es eben so. Das ist eine Frage der politischen Erfahrung."

Der zweite Strang der Erzählung folgt in zeitlicher Gegenbewegung Melchiors Freundin Julia, die sich an die Gründung der Band erinnert, ihre Freundschaft und auch an Melchiors Offenbarung, von der Stasi angeheuert worden zu sein. Noch ein Motiv. Oft leiden historische Kriminalromane ebenso wie ihre Verfilmungen unter ihrer Kulissenhaftigkeit, unter einem Übermaß an Akkuratesse in Dekor, Kleidung und Sprache, in das alle Figuren hineingezwängt werden.

In den MUK-Romanen von Max Annas ist nichts davon zu spüren. Er hat ein ungeheuer feines Gehör für die DDR-Diktion, ohne zu übertreiben und ohne auf die albernen Reizwörter zurückzugreifen, mit denen Westler gern ihre DDR-Kenntnis zur Schau stellen. Und noch etwas macht diesen Roman besonders stimmig: Keine Figur geriert sich als mustergültiges Beispiel für die DDR der achtziger Jahre. Sie wollen ja alle etwas anderes, etwas Neues. Melchior und Julia sind Punk. Sie leiden an ihren verständnislosen Müttern und verhärteten Vätern, sie leiden an ihrer Zeit und an ihrem Scheißstaat. Ihre Hymne ist Richard Hells "Blank Generation": "I was sayin let me out of here before I was even born." Rauswollen, noch bevor man geboren worden war. Max Annas' "Der Fall Melchior Nikoleit" ist ein kluger und bei aller Ironie doch auch zärtlicher Roman über das große krachende Rauswollen.

Max Annas: Morduntersuchungskommission: Der Fall Melchior Nikoleit. Roman. Rowohlt Verlag, Hamburg 2020, 334 Seiten, 20 Euro (Bestellen)

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Cover: Stadt, Land, RaubAuch Marcie Rendon erzählt in "Stadt, Land, Raub" vom unangepassten Leben. Ihre Außenseiterheldin heißt Renée Blackbear, reagiert aber nur auf den Spitznamen Cash. Sie lebt am Ende der Welt, hinter Fargo in South Dakota, und möchte nur von den Menschen in Ruhe gelassen werden. Sie spielt am liebsten Billard und trinkt Bier. Um über die Runden zu kommen, fährt sie zum Ernteeinsatz auch gern ihren Rübenlaster. Cash ist eine Einzelgängerin, eine Hinterwäldlerin durch und durch, die wahrscheinlich sprödeste Heldin der Kriminalliteratur: "Ihre engsten Freunde waren ihr Queue und ihr Ranchero. Und der Fluss, der nach Norden floss. Und das Land, das Leben gab, dem Weizen, dem Mais und den Zuckerrüben. Die flachen Ebenen, die ihr Raum zum Atmen gaben."

Doch es gibt Menschen, die sie nicht in Ruhe lassen. Sheriff Wheaton etwa, der sie als Kind unter seine Fittiche genommen hatte, und sie jetzt aufs College nach Moorhead schickt, damit sie es in die Welt schafft, raus aus der Enge des weiten Westens. Auf dem College fühlt Cash sich herzlich unwillkommen und besonders schlecht von denen behandelt, die es gut mit ihr meinen: "Gepöbel, Schimpfnamen, eklige Anmache, an so was bis ich gewöhnt, aber mich für blöd zu halten, weil ich Indianerin bin?" Auch zu den studentischen Powwows und Potlucks geht sie nur widerwillig. Und völlig fremd sind ihr die jungen Frauen, die sich instinktsicher an die schmierigsten Dozenten ranschmeißen. Es sind die siebziger Jahre. Es greifen weder gesunder Menschenverstand noch andere Sicherungen, und prompt beginnen, ausgerechnet einige Studentinnen zu verschwinden, die zu den bravsten und verlässlichsten zählten. Sind sie nach Minneapolis gegangen? Freiwillig?

Man kann nicht sagen, dass Cash zu ermitteln beginnt, eigentlich erkundigt sie sich nur hin und wieder nach dem Schicksal der jungen Frauen, aber das setzt sie schon hinreichend ab von ihren Kommilitonen, die vor allem in ihrem eigenen Orbit kreisen. Mitunter lassen auch die außerkörperlichen Erfahrungen sie Dinge sehen, die nicht allen vor Augen stehen.

Die Krimihandlung ist in Marcie Rendons verhaltener Country-Ballade noch weniger zu erkennen als in ihrem Vorgänger "Am Roten Fluss". Aber sie ist auch zweitrangig für diesen genau beobachtenden Roman, der seine Faszination aus der Vielschichtigkeit seiner anrührenden Heldin entwickelt, wie auch aus dem großen Unrecht, das ihr widerfahren ist: Als Kind wurden sie und ihre Geschwister der trinkenden Mutter weggenommen und in eine Reihe von Pflegefamilien gegeben, die sie mies behandelten. Ganz bescheiden und ohne sich von Diskursmoden treiben zu lassen, erzählt Marcie Rendon, Angehörige der Anishinabe White Earth Nation, wie die Kinder indianischer Amerikaner aus ihren Familien und Nationen herausgerissen wurden. Und wie man ein Leben findet in einer Gesellschaft, deren Verachtung man immer wieder zu spüren bekommt.

Bewegend sind die Szenen, in denen Cash ihrem unbekannten Bruder zum ersten Mal wieder begegnet. Nach seiner Adoption haben sie ihn von Fred in Paul umbenannt, jetzt nennen ihn alle bloß Mo, kurz für Geronimo. Er hat sich dran gewöhnt. Auch Mo hat keinen Platz in der Gesellschaft und sich für den Dienst in Vietnam verpflichtet. Es war eine Kapitulation, noch vor dem ersten Kampfeinsatz. Sehr schön und sehr traurig ist auch eine andere Szene, wenn Cash nach Minneapolis fährt, wo sie zum ersten Mal in ihrem Leben die berühmte Getreidebörse sieht. Und Seidenblusen. Aber keine zehn Pferde bekommen sie in den Schlafsaal der indianischen Studentenvereinigung, lieber übernachtet sie draußen allein in ihrem Ranchero. Es zeigt die Klugheit dieser Autorin, wie sie ihre menschenscheue Heldin Cash um Anerkennung für ein Leben kämpfen lässt, das sie nicht selbst gewählt hat, sondern in das sie sich aus Angst und Hilflosigkeit geflüchtet hat.

Marci Rendon: Stadt, Land, Raub. Aus dem Amerikanischen von Jonas Jakob. Ariadne Verlag, Hamburg 2020, 236 Seiten, 13 Euro (Bestellen).