Mord und Ratschlag

Leseprobe: 'Gleichung mit einem Unbekannten' von Uri Adelman

Die Krimikolumne.
Leseprobe: 'Gleichung mit einem Unbekannten' von Uri Adelman

Uri Adelman: "Gleichung mit einem Unbekannten". Roman
Aus dem Hebräischen übersetzt von Markus Lemke.
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2002,
320 Seiten, gebunden, 22 Euro




Klappentext:
Als Gil Sadeh, ein Rechtsanwalt in New York, von einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause kommt, findet er auf seinem Anrufbeantworter eine beunruhigende Nachricht von seinem jüngeren Bruder Juval aus dem fernen Israel. Gil ist höchst alamiert und fliegt noch in der gleichen Nacht nach Tel Aviv zurück. Bei Gils Ankunft in der alten Heimat ist Juval spurlos verschwinden, in seiner Tel Aviver Wohnung liegt die Leiche einer jungen Frau, und in der Post findet Gil die Aufforderung der Bank, sich wegen eines Schließfachs zu melden. Es ist das Schließfach seines vor Jahren verstorbenen Vaters. Der Inhalt: ein paar Dollarnoten, Reiseschecks und die verblichene Kopie eines Zeitungsartikels. Eher ratlos Gil liest die sensationsheischende Geschichte von der unehrenhaften Entlassung eines der Topagenten des Mossad - bis er begreift, daß dieser Mann sein Vater war. Und plötzlich ahnt Gil, warum und wohin sein Bruder verschwunden ist...


Zum Autor:
Uri Adelman, 1958 geboren, lebt in Tel Aviv. Er ist Krimi-Lektor bei Keter, lehrt Musik an der Universität und hat mehrere Computerbücher geschrieben.




Leseprobe:

[S. 168]

36
Der diensthabende Polizist im Präsidium wies mir den Weg zu Katz? Büro, ohne überflüssige Fragen zu stellen. Schnell humpelte ich in den zweiten Stock und wäre beinahe mit Oberinspektor Spiegel zusammengestoßen. Er brauchte zwei Sekunden, um mich unter all den Pflastern zu erkennen und seine schwere Pranke auf meine Schulter zu legen.

"Ich hab Neuigkeiten für Sie", sagte er von einem Ohr zum anderen grinsend, "ich werde Sie verhaften lassen."
Also hatte Fromin ihn noch nicht auf den neuesten Stand gebracht. Das war naheliegend, da ich das Gerichtsgebäude erst vor zehn Minuten verlassen hatte, und Fromin mit einem dicken Stapel Haftanträge noch immer dort festsaß.
Ich wischte seine Hand von meiner Schulter. "Ich habe Neuigkeiten für Sie", sagte ich. "Sie sind ein Idiot."
Er grinste noch immer. "Glauben Sie, daß Rechtsanwälte Immunität besitzen?"
"Fragen Sie Fromin", sagte ich.
Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen. "Woher kennen Sie Fromin?"
Ich machte mir nicht die Mühe zu antworten, ließ ihn stehen und stieg weiter die Treppe hoch bis in den dritten Stock. Dort klopfte ich an Katz? Büro und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Katz war mitten in einem Telefongespräch. Als er mich sah, sagte er ein paar Worte in den Hörer und legte auf. Er erhob sich und musterte mich erstaunt.
"Was ist passiert?" fragte er in scharfem Ton.
"Ein Lkw ist mir reingefahren."
Katz ließ sich wieder in seinen Bürosessel sinken. "Sie haben einfach kein Glück", stellte er trocken fest.
"Ganz im Gegenteil."
Für einen Sekundenbruchteil huschte Erstaunen über Katz? Gesicht. Seine hellwachen Augen betrachteten mich neugierig. Er wartete, daß ich weitersprach.
"Das war kein Unfall", sagte ich.
"Sind Sie sicher?"
"Das war vorsätzlich, Katz. Man hat versucht, mich umzubringen."
Katz seufzte. Er zog ein kleines Aufnahmegerät aus der Schublade und legte es auf den Tisch. "Vorschrift", sagte er und drückte auf die Aufnahmetaste. Dann holte er eine Schachtel Zigaretten hervor und bot mir eine an. "Heute morgen", sagte er und stieß eine Rauchwolke aus, "haben Sie eine ganz schöne Show abgezogen."
"Was meinen Sie damit?" Ich beugte mich über das Feuerzeug, das er mir hinhielt.
"Sie wissen genau, was ich meine. Als wir gekommen sind, um Ihnen Fragen über Juval zu stellen, haben Sie den Idioten gemimt."
"Sagen wir, seitdem bin ich klüger geworden."
"Das will ich hoffen. Sie waren recht überzeugend als jemand, der nichts weiß."
"Und Sie waren recht überzeugend als jemand, der nichts glaubt."
Das gegenseitige Komplimentemachen hatten wir damit erledigt. Katz schob ein paar Papiere zur Seite, ehe er den Aschenbecher fand, der sich unter einem Stoß von Formularen versteckt hielt. "Erzählen Sie mir von dem Lkw", sagte er.
Ich berichtete ihm von dem Unfall, ohne Hilla zu erwähnen.
"Ganz unabhängig von allem anderen", sagte Katz. "Gehen Sie ins Krankenhaus. Sie müssen sich von einem Arzt untersuchen lassen."
"Später", sagte ich. Wir wußten beide, daß ich nicht vorhatte, dies zu tun.
"Waren Sie allein im Wagen?" fragte Katz.
"Ist das wichtig?"
"Kann sein."
Die Tür ging auf und ein Wachtmeister in Uniform lugte ins Zimmer. "Sie werden unten gebraucht", sagte er zu Katz. "Dringend."
Fünf Minuten wartete ich allein in Katz? Büro. Dann machte ich einen Abstecher auf die Toilette, um mir das Gesicht zu waschen. Es war geschwollen und zerkratzt, aber nicht besorgniserregend. Vorsichtig löste ich die Pflaster ab, spülte mir noch einmal das Gesicht ab und kehrte in Katz? Büro zurück. Nach drei weiteren Minuten beschloß ich, daß ich nun lange genug gewartet hatte, zündete mir eine Zigarette aus der Schachtel an, die Katz auf seinem Schreibtisch hatte liegen lassen, und trat auf den Flur. Von unten schien mir, als hörte ich irgendeinen Tumult. Nicht richtig dramatisch, aber laut genug, um mich ins Erdgeschoß zu locken und nachzusehen, was da los war.
Um den großen Tresen des diensthabenden Beamten scharte sich eine kleine Ansammlung von Polizisten. Gesprächsfetzen und Stimmen, die aus den Funkgeräten quäkten, vermischten sich zu einem unverständlichen Wortsalat. Katz stand in der Mitte und lauschte mit gesenktem Kopf dem aufgeregten Rapport eines Streifenbeamten. Und dann wurde aus dem Stimmengewirr ein wohlbekannter Name in die Luft geschleudert. Ich packte Katz am Arm.
"Klickstein", sagte ich, "hat hier jemand über Klickstein gesprochen?"
Katz drehte sich zu mir um. "Kennen Sie jemanden, der so heißt?"
Ein vages Gefühl von Angst überkam mich. "Pessach Klickstein?" fragte ich und spürte, daß mein Gesicht glühte.
Er fixierte mich. "In welcher Verbindung stehen Sie zu ihm?"
"Was ist mit ihm?"
Katz warf einen schnellen Blick auf den Zettel, den er in der Hand hielt. Dann schien es, als sei er zu einem Entschluß gekommen. "Kommen Sie", sagte er, "wir fahren. Man hat ihn am Ufer des Yarkon gefunden."
"Was ist mit ihm, Katz?"
"Er ist tot."


[S. 294]

62
Ich öffnete die Augen, ohne genau zu wissen, was mich geweckt hatte. Dann hörte ich das Geräusch wieder: Ein leichtes, fast unmerkliches Knirschen. Vielleicht eine Tür, die sich in den Angeln bewegte, oder ein unverschlossener Fensterladen, mit dem der Wind spielte. Ich versuchte zu überlegen, ob ich die Fensterläden geschlossen hatte, als mir einfiel, daß ich mich ja nicht in meiner Wohnung befand.
Hilla schlief auf der linken Seite liegend. Ihr Gesicht war entspannt, und die Haare fächerten sich weich über ihre Wange. Ich konnte nicht anders und ließ die Fingerkuppen über ihre Wange und ihren Hals gleiten. Sie grummelte irgendwas und wälzte sich auf den Bauch. Durch das weit offenstehende Fenster blickte ich nach draußen auf die schweigende Straße und die Baumkronen. Die großen Äste bewegten sich nicht. Kein Luftzug war draußen zu spüren. Das kann nicht sein, dachte ich müde, wenn kein Wind da ist, wie kann dann...
Zwei Erkenntnisse kamen mir mit schmerzhafter Gewißheit. Die erste, daß ich ein Vollidiot war. Ich war in den zurückliegenden drei Tagen so gründlich verfolgt worden, daß sie zu irgendeinem Zeitpunkt mit Sicherheit auch auf Hillas Wohnung gestoßen waren. Die zweite Erkenntnis, die sich noch verdichtete, als ich das Knirschen ein weiteres Mal hörte, war bei weitem beunruhigender: Jemand befand sich in der Wohnung.
Geräuschlos ließ ich mich aus dem Bett gleiten, landete auf dem Teppich und trat auf den Balkon, der das Schlafzimmer mit dem Wohnzimmer verband. Dann arbeitete ich mich behutsam den Balkon entlang, spähte ins Wohnzimmer und erstarrte zur Salzsäule, als ich seinen Umriß sah. Im Wohnzimmer herrschte fast vollständige Dunkelheit. Ich konnte nur erkennen, daß er sehr groß war, an die zwei Meter, und daß der Gegenstand in seiner Hand allem Anschein nach eine Pistole war. Er stand da wie eine riesige Statue. Ich begriff, daß er versuchte, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, ehe er den nächsten Schritt tat.
Ich dachte an Hilla, die im Nebenraum schlief, spürte, wie mich schreckliche, maßlose Wut überkam, und kämpfte gegen den törichten Instinkt an, mich auf ihn zu stürzen. Ich atmete geräuschlos und preßte den rechten Daumen auf mein linkes Handgelenk, um den Puls zu fühlen. Zu hoch. Beruhig dich, befahl ich mir, du hast das Überraschungsmoment auf deiner Seite. Bewahr es dir, nutz es im richtigen Moment aus.
Als sich der Einbrecher schließlich in Bewegung setzte, machte er einen strategischen Fehler. Er wandte sich nach links und glitt lautlos durch den Flur, der zu Hillas kleinem Arbeitszimmer am anderen Ende der Wohnung führte. Ich schlüpfte ins Wohnzimmer, betete, daß kein Glas auf dem Teppich herumstand, und näherte mich dem Arbeitszimmer, das der Unbekannte bereits betreten hatte. Endlich konnte ich auch etwas hören: seine Atemzüge. Leise und gleichmäßig ebbten sie ein paarmal ab und schwollen wieder an, ehe sie plötzlich unmerklich stärker wurden. Dann hörte ich vier trockene Einschläge, die sich mit vier Seufzern der Matratze vermischten. Kugeln! Er hatte in die Matratze im Arbeitszimmer gefeuert!
Ich drückte mich im schmalen Flur an die Wand. Zwischen mir und der Tür zum Arbeitszimmer lag weniger als ein Meter. Ich wußte, daß er in ein paar Sekunden seinen Irrtum feststellen und seine nächste Station Hillas Schlafzimmer sein würde. Aber um dorthin zu kommen, mußte er an mir vorbei. Und ich hatte nicht die Absicht, ihn auch nur bis ins Wohnzimmer kommen zu lassen.
Ich drückte mich einen Millimeter weiter nach hinten, gegen die Wand. Meine rechte Schulter stieß gegen ein kaltes Plastikteil, und ich hatte eine Tausendstelsekunde zu begreifen, was ich gemacht hatte, bevor das gleißende Licht den Flur überflutete. Der Einbrecher stand vor mir, hielt sich schützend die Hände vor die Augen. Dies war die Gelegenheit, die kein zweites Mal kommen würde. Ich schnellte vorwärts und warf mich mit ganzer Kraft auf ihn, stieß ihn bis ans Ende des Flurs und wuchtete seinen Körper gegen die Wand. Dann schleuderte ich ihn nach rechts, durch die Tür auf den Fußboden des Arbeitszimmer, aus dem er gerade gekommen war. Er hatte inzwischen die Hände von den Augen genommen und mich mit eisernem Griff umklammert, so daß wir beide zu Boden gingen; ich landete auf ihm. Es gelang mir, mich aufzusetzen und den Lauf der Pistole, die er noch in der Hand hielt, zu packen. Ich drehte erbarmungslos daran, bis ich ein Stöhnen hörte. Gegen seinen Willen öffneten sich die Finger des Mannes und ließen die Pistole über den Boden schliddern. Aber er war stark und durchtrainiert. Blind schoß er hoch, und ich spürte, wie Tränen meinen Blick verschleierten, als seine Stirn mit ungeheurer Wucht gegen meine Nase krachte. Mit Leichtigkeit schüttelte er mich ab, und wir kamen auf die Beine wie zwei professionelle Catcher für die nächste Runde. 
Bei Licht wirkte er ein bißchen kleiner, als ich zunächst angenommen hatte, aber noch immer war er gut einen Kopf größer als ich. Er brachte gut und gerne hundert Kilo auf die Waage, davon kein Gramm zu viel Fett. Aber wütend wie ich war, beschloß ich, daß er einfach keine Chance gegen mich hatte. Langsam bewegten wir uns in einem imaginären Kreis, ohne den Abstand zwischen uns zu verringern. Ich wollte, daß er als erster angriff, und er ließ mich nicht unnötig warten. Als er sich wie ein Geschoß auf mich zubewegte, war seine Geschwindigkeit beängstigend. Aber ich wußte genau, was ich tun mußte: Nicht mit ihm zusammenprallen. Im Gegenteil - mich zur Seite bewegen, ihn an mir vorbeischießen lassen und seine eigene Beschleunigung gegen ihn verwenden. Ich hatte das Hunderte Male im Nahkampftraining geübt. Versuche immer, die Kraft deines Gegners zu deinen Gunsten zu nutzen. Nur, daß es diesmal kein Trainingskampf war. Ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken, spürte ich, wie ich mich ein wenig zur Seite bewegte und mich im rechten Winkel zu dem auf mich zustürzenden Körper ausrichtete. Ich streckte den rechten Arm aus, als wollte ich ihn aufhalten, winkelte ihn dann urplötzlich an und pflanzte - mit aller Kraft, die meine Wut und Angst mir verliehen - meine Faust unter seine Nase.

Mit freundlicher Genehmigung des Eichborn Verlags
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