Mord und Ratschlag

Die Krimikolumne.
Leseprobe zu 'Der Mörderwald' von Eugenio Fuentes


Eugenio Fuentes: "Der Mörderwald". Roman.
Aus dem Spanischen von Svenja Becker.
Klett-Kotta Verlag, Stuttgart 2002, 416 Seiten, gebunden, 19,50 Euro




Klappentext:

An einem frühen Morgen wird im südspanischen Nationalpark Paternoster nahe der Kleinstadt Breda die junge, schöne Madrider Malerin Gloria Garcia Carvajal auf brutale Weise umgebracht. Um diesen grauenvollen Mord aufzuklären, engagiert Glorias Verlobter, ein Madrider Anwalt, den Privatdetektiv Ricardo Cupido. Auch er steht vor einem Rätsel. Er befragt die Menschen, die Gloria kannten, spürt ihrem Leben nach, doch erst als er ihr Tagebuch findet, kommt ihm ein fürchterlicher Verdacht. Dann geschieht ein weiterer Mord im Wald...


Zum Autor:

Eugenio Fuentes, 1958 in Caceres/Spanien geboren, schreibt Erzählungen und Romane, die in seiner Heimat, der Estremadura, angesiedelt sind. Seine beiden letzten Romane wurden mit Literaturpreisen ausgezeichnet. "Mörderwald" erhielt 1999 den Premio Alba/Prensa Canaria.



Leseprobe:

Dass sie Angst hatte, merkte sie in dem Moment, als sie sich scheinbar grundlos umsah. Kein Schatten, kein Laut, kein Geruch störten den Frieden ihres Spaziergangs, aber etwas, das sie nicht zu benennen wusste, hatte sie so erschreckt, dass sie über die Schulter zurückblickte. Allein im Wald lauert immer irgendwo ein Wolf, dachte sie, erstaunt über ihre eigene Ängstlichkeit. Das war ihr noch auf keiner ihrer Wanderungen durch El Paternoster passiert. Sie kannte diesen Teil des Reservats gut, und wenn es hier auch schon zu kleineren Zwischenfällen gekommen war - einmal ein Feuer, über das sie und Marcos an einem stürmischen Tag fast die Kontrolle verloren hätten, ein Sturz, bei dem sie sich am Bein verletzte, einmal hatte sie einen erhängten Hirsch gefunden, und ein Hund hatte den Samenerguss des Tieres aufgeleckt -, so ließen sie sich doch immer dem Zufall zuschreiben, einer Unachtsamkeit oder den rauhen Gepflogenheiten dieser Gegend und waren niemals das Ergebnis mutwilliger Zerstörung. Deshalb blieb sie stehen, atmete eine halbe Minute lang tief durch, horchte auf die Totenstille, die über dem Wald lag, und zum ersten Mal, seit sie vor anderthalb Stunden zu Fuß das Hotel verlassen hatte, redete sie laut mit sich selbst:

"Da ist nichts und niemand. Ich brauche mich nicht zu fürchten."

Ihre Stimme schien ihr wenig überzeugend. Überrascht stellte sie fest, dass ihr Herz schneller zu schlagen begann und das Wort Angst sich in ihrem Kopf einnistete wie ein unerwünschter Mieter, den sie nicht loswurde. Sie erinnerte sich an das, was sie vor drei Wochen in ihr Tagebuch geschrieben hatte: "Aber Angst ist kein unschuldiges Gefühl", und musste sich eingestehen, dass es ihr in der Einsamkeit des Waldes nicht leichtfallen würde, das Unbehagen abzuschütteln.

Sie war gleich nach dem Frühstück aufgebrochen, hatte genügend Zeit eingeplant, um zu den Felsvorsprüngen des Yunque hinaufzusteigen, wo sich die Höhlenmalereien befanden; dort wollte sie rasten, den Proviant aus dem Hotel, den sie in ihrem kleinen Rucksack verstaut hatte, verzehren und sich das eine oder andere Detail noch einmal genauer ansehen, das ihr fehlte, um ihre Bilder fertigzustellen. Bevor sie zurückging, würde sie noch Zeit haben, über ihre Beziehung mit Marcos nachzudenken, in aller Ruhe, mit Blick auf dieses einmalige Panorama, das einen glauben machen konnte, es gäbe keine verschmutzten Flüsse, keine schwarzen Qualmwolken am Himmel und keinen Müll in der Landschaft. Sie hatte die bequemen Goretex-Schuhe, eine leichte Segeltuchhose und ein helles Männerhemd angezogen, ihre Kappe aufgesetzt und war losgegangen. Alles war bestens, wie gewöhnlich, kein Grund also, jetzt dieser absurden Furcht nachzugeben. Sie wusste, so völlig einsam mitten im Wald konnte die Angst kommen, aber sie war doch eine starke Frau, sagte sie sich, sie war unabhängig, lebte seit dem Tod ihres Vaters allein in Madrid und öffnete die Wohnungstür, ohne vorher zu fragen, wer davor stand, sie hatte sich als immun erwiesen gegen diese Verzagtheit, die sich in doppelten Türschlössern und der Furcht vor der Dunkelheit äußerte und aus den misstrauischen, verbitterten Blicken so vieler Frauen sprach, die einsam und trübsinnig vor sich hin lebten und dachten, das Schellen der Türklingel kündige jedes Mal eine Bedrohung an. Sie war schon über neunzig Minuten unterwegs und hätte kehrtmachen können, ohne sich etwas zu vergeben, aber sie wusste, wie niederträchtig die Erinnerung sein kann, und so ahnte sie irgendwie, dass sie, sollte sie jetzt ins Hotel zurückkehren, nie wieder den Mut haben würde, allein wandern zu gehen. Sie rückte die Träger ihres kleinen Rucksacks auf den Schultern zurecht, trank ein bisschen Wasser aus der Feldflasche und ging mit entschlossenen Schritten weiter.

Der befahrbare Forstweg, dem sie bis jetzt gefolgt war, mündete fünf Minuten später auf eine Lichtung. Dort gabelte er sich. Über die breitere, linke Abzweigung gelangte man hinunter zum Stausee. Ohne innezuhalten nahm sie die rechte, die hinauf zu den Höhlen mit den Felszeichnungen führte. Kaum hatte sie die Lichtung verlassen und begonnen, den schmalen, steilen Pfad zu erklimmen, spürte sie wieder die Stille im Nacken, so als würde sie aus geringer Entfernung von jemandem beobachtet, der sichergehen wollte, dass sie den Weg nehmen würde, den er schon seit geraumer Zeit, seit sie aus dem Hotel gekommen war, vorhergesehen hatte. Noch einmal zögerte sie, ob sie nicht umkehren sollte, und noch einmal lenkte sie ihre Schritte entschlossen bergauf, obwohl ihr klar war, dass es von nun an sehr unwahrscheinlich sein würde, einer Menschenseele zu begegnen, dass nur sehr wenige Leute, und die auch nur selten, diesen beschwerlichen, abgeschiedenen Pfad gingen, denn die meisten durchstreiften lieber die Hügel und Senken des Reservats und beobachteten das Hochwild, das zahlreich in der Gegend um den Stausee weidete und sich aus der Ferne Photographieren ließ, kaum scheuer als Haustiere. Eine Schweißperle rann über ihre Stirn und bahnte sich einen Weg durch die Augenbraue in Richtung Nase. Sie wischte sie mit dem Ärmel weg und schaute nur so, vielleicht um den Sonnenstand zu prüfen, in den Himmel.

(Mit freundlicher Genehmigung des Verlags)