Post aus Breslau

Ist Polen ein geteiltes Land?

Von Mateusz J. Hartwich
11.11.2005. Ist Polen ein geteiltes Land? Eine Wahlanalyse zeigt, dass die Grenze zwischen Tusk-Wählern und Kaczynski-Wählern genau auf der Grenze liegt, die Polen von 1795 bis 1918 teilte. Der Norden und Westen gehörte damals zu Preußen, Süden und Osten zu Österreich und Russland.
Wieslaw Wladyka und Mariusz Janicki offenbarten letztens in der Polityka, was einige Publizisten in der letzten Zeit schon angedeutet hatten: durch Polen geht eine unsichtbare Grenze - Polen ist ein geteiltes Land! Piotr Pacewicz hatte zwar in der Gazeta Wyborcza gleich nach Bekanntgabe der Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen am 23. Oktober plakativ vom "Polen T" (nach dem liberalen Kandidaten Donald Tusk) und "Polen K" (nach dem konservativen Wahlsieger Lech Kaczynski) gesprochen, aber Wladyka und Janicki unterlegen die These von der Zweiteilung Polens mit statistischen Daten, und führen politisch-historische Argumente an.

Zu einem geflügelten Wort wurde im Polnischen die Bezeichnung "Polen B" - eingeführt in der Zwischenkriegszeit, als die sogenannte Zweite Polnische Republik ihre Ostgebiete durch staatliche Maßnahmen aus der Rückständigkeit holen wollte. "Polen A" waren damals die urbanen Zentren Warschau, Posen, Krakau, Lodsch und das ab 1926 als großer Ostseehafen aufgebaute Gdingen sowie die besser entwickelten Westprovinzen. Mit den Maßnahmen versuchte man die Spuren der Teilung Polens 1795-1918 zwischen Preußen (Deutschland), Österreich und Russland im wiedererstandenen polnischen Staat zu überwinden.

Doch die Geschichte wirft lange Schatten - bis in die Gegenwart. Denn, wie die Publizisten der Polityka darlegen, die Landkarte der politischen Präferenzen, die sich den Polen nicht nur bei den letzten Wahlgängen präsentierte, sondern schon beim EU-Beitrittsreferendum 2003 und bei den Wahlen 2000, 1997 und 1995 fast deckungsgleich war, zeigt: der ehemals preußische Norden und Westen wählt anders als der ehemals russische Osten und der ehemals österreichische Süden. Die Grenzen der Teilungsgebiete haben bis heute Bestand, "obwohl Jahrzehnte vergangen sind, Kriege über das Land hinweg rollten, die Bevölkerung durchmischt wurde und vierzig Jahre Gleichmacherei in der Volksrepublik ihr Übriges tat."

Die Bewohner der Westgebiete, die erst nach 1945 und der Vertreibung der deutschen Bevölkerung dort angesiedelt wurden, sind "Wurzellose, ohne traditionelle Werte, die offener sind - sowohl für das liberale Experiment als auch andere für Experimente". So genoss Stanislaw Tyminski, ein unheimlicher Populist, der 1990 zu den Präsidentschaftswahlen aus dem peruanischen Exil einreiste und erst in der Stichwahl Lech Walesa unterlag, seine größte Unterstützung im Westen und Norden. Die Bewohner dieser Regionen sind aber auch unternehmerischer, offener, haben Kontakt mit Westeuropa, sind liberaler. "Die Soziologen sprechen von einer risikofreudigen Gesellschaft - manchmal benimmt sie sich, als ob sie die polnische Staatsräson in Frage stellen wollte, manchmal wie eine moderne Zivilgesellschaft."

Süd- und Ostpolen ist dagegen das Polen der Traditionalisten, die alle Neuigkeiten misstrauisch betrachten, wo konservative Werte vorherrschen und (Familien-)Traditionen hochgehalten werden. "Dieses Mal siegte das konservative Polen" stellen abschließend Wladyka und Janicki fest, "aber man kann nicht ganz Polen im Namen nur der einen Hälfte regieren. Die andere wird früher oder später auf sich aufmerksam machen."

Das tut sie jetzt schon - wie die Polityka in der selben Ausgabe notiert. So haben sich in Posen Menschen zusammengetan, die auf ihrer Internetseite ein "Unabhängiges Westpolen" propagieren. In einem Land, wo die staatliche Einheit zu einem nationalen Gut und zur patriotischen Pflicht gehört, und wo jede Aufweichung des zentralistischen Systems misstrauisch beäugt wird, ein wahrer Skandal.

In einem gibt den Autoren Jacek Zakowski Recht - Polen ist ein geteiltes Land, und die Teilung wird sich vertiefen. Doch der anerkannte Publizist führt die Ursachen dafür weniger auf geografisch-historische Wurzeln zurück, als vielmehr auf die politischen Machenschaften der Gebrüder Kaczynski. "Jaroslaw Kaczynski, Chef der regierenden 'PiS', betreibt keine Politik, sondern Metapolitik. Ihm geht es nicht so sehr darum zu regieren und den Staat oder die Wirtschaft zu reformieren. Sein Ziel ist die Redefinition der politischen Szene in Polen, und somit eine völlige Veränderung des Landes".

Laut Zakowski spielen die Kaczynskis politisches Schach: Erst führten sie 1989 zur Entstehung der "Solidarnosc"-Regierung unter Tadeusz Mazowiecki, indem sie die "Blockparteien" zu Verbündeten machten und dann marginalisierten, dann sorgten sie für den Zerfall der Bewegung und den Krieg zwischen den ehemaligen Dissidenten, und jetzt wollen sie ein bipolares politisches System herbeiführen - mit dem Fast-Koalitionär PO, "Bürgerplattform", als liberalem Gegenpol zur PiS-geführten Regierung.

"Um so ein bipolares System entstehen zu lassen, durfte die Regierungskoalition PO-PiS nicht entstehen. In der Logik der Brüder Kaczynski war die Vereitelung der geplanten Koalition notwendig, genau so wie es vor 15 Jahren notwendig war, die 'Solidarnosc' zu zerschlagen, um den frei gewordenen Platz im Zentrum der politischen Szene einzunehmen. Selbst wenn eine solche Koalition zufällig entstanden wäre, hätte sie nicht von Dauer sein können", so Zakowski. Um jedoch eine fragile Parlamentsmehrheit zu erlangen, müssen sich die Kaczynskis jetzt auf die, mehr oder weniger offene, Kooperation mit dem Populisten Andrzej Lepper, den National-Katholiken von der "Liga der Polnischen Familien" und der Bauernpartei PSL einlassen.

Genau deshalb greift in der konservativen Rzeczpospolita Piotr Smilowicz den Gedanken der Bipolarität auf, und prophezeit in seiner Analyse die Entstehung eines bäuerlich-konservativen Blocks unter Führung der PiS und eines liberal-proeuropäischen Blocks, in dem sowohl die Wirtschaftsliberalen von der PO als auch die Postkommunisten von der eben abgewählten SLD Platz fänden. "Auch wenn die Anführer der PO den Gedanken von sich weisen, wäre eine solche Blockbildung nichts Unnatürliches. Die heutige Politik funktioniert zwar immer noch nach dem Rechts-Links-Prinzip, aber wirtschaftliche Anschauungen spielen dabei eine immer geringere Rolle - siehe das 'liberale' Manifest von Tony Blair und Gerhard Schröder - dafür werden Fragen wie Abtreibung oder die Rechte von sexuellen Minderheiten immer wichtiger. Und da gehen die Vorstellungen der Tusk- und der Kaczynski-Wähler sehr weit auseinander." Eine weitere Konsequenz dieses Prozesses wäre aber, dass die SLD nicht mehr Anführer der Opposition wäre, sondern die PO, die somit 2009 die Macht übernehmen könnte - wenn die Polen turnusgemäß ihre Regierung abwählen.

Unabhängig davon, ob in Polen der "Limes-Effekt", wie ihn letztens in der Zeit Wolfgang Büscher für Deutschland diagnostizierte, sich vertiefen wird, oder bald amerikanische Verhältnisse sichtbar werden - mit einem "blauen", das heißt liberalen, Norden und einem "roten", konservativen, Süden - eines ist bemerkenswert: in Polen ist eine Diskussion entbrannt, wie sie noch vor mehreren Jahren niemand geführt hätte. Wo die nationale Einheit und der gemeinsame Kampf um die Interessen des Landes nicht mehr Vorrang haben, ist wohl die Europäisierung nicht weit.