Post aus Neapel

Sag mal was Linkes!

Von Gabriella Vitiello
22.05.2001. Warum hat Berlusconi die Wahl gewonnen? Weil er die Medien beherrscht? Weil die Kommunisten sich dem Mitte-Links-Bündnis verweigert haben? Italien debattiert.
Die Reaktionen auf eine ordentliche Wahlniederlage können sehr unterschiedlich ausfallen. Aber weder Scham, Wut, Heulkrämpfe, Selbstverleugnung noch Depression, Emigration oder Resignation überwiegen in Italien. Künstler und Intellektuelle setzen vor allem auf die Reflexion.

Schon vor Wochen hatte der Psychologe und Moderator der Kult-Radiosendung Caterpillar (Radio Rai 2) Massimo Cirri instinktive und trotzige Reaktionen auf einen Sieg Berlusconis als unrealistisch und nicht praktikabel verworfen, obwohl die Versuchung zugegebenermaßen groß sei. "Man hätte Lust, sich komplett abzuschotten: keine Reisen mehr ins Ausland, jegliche Post geht an den Absender zurück mit der Aufschrift 'verzogen/verstorben/missing/desaparecido', der eigene Namen wird von jeder internationalen mailinglist im internet gestrichen." Aber früher oder später erwischt einen die zurzeit am häufigsten gestellte dann Frage doch: "Warum hat Berlusconi die Wahl gewonnen?"

Wie man das Unerklärliche einem Ausländer erklären kann, verriet Cirri in der Wochenzeitung il diario und bereitete so die enttäuschte linke Wählerschaft auf peinliche posttraumatische Konversationen vor: "Das ist nicht leicht zu erklären. Das politische System Italiens hat einen besonderen Charakter." Dazu gehört der so genannte Interessenkonflikt: Berlusconi, der zukünftige Premier Italiens, ist bekanntermaßen zugleich ein Medienmogul, der zu allem Überfluss dank seines neuen politischen Amtes jetzt auch noch die Kontrolle des staatlichen Fernsehens, der Rai übernehmen wird."

Auch der Philosoph und Europa-Parlamentarier Gianni Vattimo kann sich den Wahlsieg Berlusconis kaum erklären und warnt mit seinem Wahlkommentar in der Turiner Tageszeitung La Stampa die Genossen vor zu viel Rationalität. Am besten versuchten sie gar nicht erst rational zu verstehen, was gar nicht vernünftig sei. "Ich weiß, dass ein guter Kommentator für alles eine Erklärung finden muss... Aber ich glaube, es ist ehrlicher und weniger dogmatisch-hegelianisch (alles was real ist, ist auch rational?) zuzugeben, dass mir der Sieg der Casa delle liberta wie ein Irrtum der Wählerschaft vorkommt, die von der Propaganda verführt wurde, bis sie Interessenkonflikt, laufende Prozesse gegen den Cavaliere und dessen Freunde und die Widersprüchlichkeit seiner Versprechungen (weniger Steuern und höhere Renten)... vergessen hatte." Damit mystifiziert Vattimo allerdings weiterhin Berlusconis Erfolg, und der hatte sich im Wahlkampf ja selbst schon hoch genug auf den Sockel gestellt.

Ähnlich vernunftskeptisch äußerte sich Nanni Moretti bereits in seinem Film "Aprile". Ein schallendes Lachen war die Antwort auf das politisch unbegreifliche Phänomen. Auf Berlusconis zweiten Wahlsieg reagierte Moretti, der für seinen neuen Film "La stanza del figlio" soeben in Cannes die goldene Palme erhielt, aber weniger erheiternd. Moretti ist sauer auf Fausto Bertinotti, den Vorsitzenden der Rifondazione Comunista, der sich einer Koalition mit dem Mitte-Links-Bündnis verweigert hatte und so den Ulivo möglicherweise um den Sieg brachte: "Vor zweieinhalb Jahren gelang es ihm, die Regierung unter Prodi zu stürzen, die gute Arbeit leistete, und jetzt hat er ordentlich mit angepackt, um der Rechten zum Sieg zu verhelfen." Moretti vermisst bei Bertinotti jegliche politische Ethik. Deswegen bräuchte sich Berlusconi für seinen Sieg nicht bei den Wählern zu bedanken, sondern einfach nur bei Bertinotti - sagte der wütende Filmemacher in einem Interview der Repubblica und sprach dem Kommunisten auch noch gleich drei substanzielle Eigenschaften ab: politisch, verantwortlich, links. Ironischerweise scheint ausgerechnet Nanni Moretti vom Wahlsieg des Cavaliere zu profitieren - so sicher wäre ihm das gerade errungene cinematographische Trostpflaster für die geschundene italienische Linke und deren Kultur unter anderen politischen Voraussetzungen vermutlich nicht gewesen.

Trotzdem: auch wenn es laut Gianni Vattimo "keine historische Rationalität in der Niederlage der Linken gibt", machen sich viele die Mühe, zumindest über die Fehler der Mitte-Links-Koalition nachzudenken. Der "premio Nobel" Dario Fo nannte in der Tageszeitung Unita den Interessenkonflikt als den wichtigsten Kritikpunkt. Denn in ihrer fünfjährigen Regierungszeit ist es der Linken nicht gelungen, etwas gegen die Überlagerung von Politik und Medienmacht zu unternehmen. "Man hätte Berlusconi vor die Wahl stellen müssen: entweder du verkaufst oder du trittst nicht an. Ich hätte Mitte-Rechts gerne mal ohne Berlusconi gesehen. Oder Berlusconi ohne seine TV-Sender." So Fos Beitrag zum Dilemma.

Auf einen oft vernachlässigten Aspekt des Interessenkonfliktes verwies der Verleger Giuseppe Laterza. Berlusconi sei nicht nur ein Politiker, sondern auch ein Verleger, der mit seinen Verlagsverbund Mondadori 30 Prozent des Marktes kontrolliere. Der Mondadori-Stand auf der Turiner Buchmesse, die nur wenige Tage nach den Parlamentswahlen stattfand, gehörte also in diesem Jahr dem zukünftigen Premier Italiens. Damit sei der Interessenkonflikt eine nackte Tatsache geworden, meint Laterza und erläutert die Konsequenzen: "Die Überlappung von ökonomisch-finanzieller Macht und der Exekutive, die in Italien mit der Nominierung Belusconis hergestellt wird, setzt die Grundlagen der Konkurrenz und des freien Marktes noch vor denen der Demokratie aufs Spiel."

Mit dem ungelösten Interessenkonflikt verspielte die Mitte-Links-Regierung einen Großteil ihrer eigenen Kommunikationsfähigkeit, sie duldete und stärkte sogar Berlusconis Informationsmonopol, zerstritt sich in den eigenen Reihen aber immer offensichtlicher und nahm die enttäuschten Wähler gar nicht mehr so recht wahr. So ähnlich argumentieren auch die Journalisten Giorgio Bocca und Curzio Maltese in ihren Wahlkommentaren in La Repubblica. Schwer getroffen beklagt Bocca, dass es schlimmer hätte gar nicht kommen können. Seiner Meinung nach hat ganz Italien seinen Common Sense verloren, es gibt weder eine gemeinsame Kultur oder eine gemeinsame Wahrnehmung noch verbindliche Wertvorstellungen. Und der Neuaufbau einer gemeinsamen Sprache und eines vernünftigen Konsens sei keine leichte Aufgabe. Dabei steckt Bocca selbst mitten drin im Interessenkonflikt. Seine Bücher werden nämlich von Berlusconis Mondadori verlegt.

Curzio Maltese betrachtet die Angelegenheit etwas nüchterner, muss aber feststellen, das die Linke immer mehr auf Mediatoren angewiesen ist, die eine Beziehung zwischen Wählerschaft und politischer Führungsgruppe herstellen, damit die Kommunikation wenigstens noch ansatzweise funktioniert. Es seien meistens Intellektuelle und Künstler, die den Menschen aus der politischen Seele und dem Verstand sprechen. Die Politik findet so ein neues Zuhause in den ironischen, schlagfertigen Sprüchen von Nanni Moretti oder Stefano Benni. Der Schriftsteller Benni resümiert die fehlgeschlagenen Wahlkampftaktik und Niederlage der Linken so: "Um den schlechten Eindruck zu vermeiden, den ihr hinterlassen habt, bedurfte es keines lookmaker aus den USA, ein Psychologe der örtlichen gesetzlichen Krankenkasse hätte es auch getan."

Benni schickte seine Reflexionen zur Niederlage und zum Neubeginn der "sinistruzia" (Bennis Fachterminus für die Linke) an die Tageszeitung il manifesto und erklärt darin den Mitte-Links-Politikern einige grundlegende Dinge über Kommunikation. Vor allem aber verordnet er eine "Fernseh-Diät". Soll heißen: "Das Haus der (rechtlichen und gebeichteten) Absolutionen (so nennt Benni Berlusconis 'Haus der Freiheiten'-Bündnis) hat einen Herrn, die sinistruzia hat ein Dutzend Herrchen, und zusammen belagern sie neunzig Prozent der so genannten Infosphäre. Jetzt reicht's, liebste sinistruzia, fang wieder an, Ort für Ort und Stadt für Stadt zu diskutieren und reduziere den Konsum der Fernsehdebatten von vierzig pro Tag auf drei nach dem Essen."

Benni erlaubt sich, die Linke zu duzen; das beruhe auf Gegenseitigkeit, habe er doch in einer verspäteten Wahlwerbungsendung gelesen: "du, Wähler der Linken". Damit die Kommunikation zwischen Führungspolitikern und Wähler überhaupt funktionieren könne, empfiehlt Autor Benni, endlich wieder die brisanten Themen auf den Tisch zu bringen wie die Aktion "Mani pulite" gegen die Mailänder Korruptionsskandale, die Schulreform, den Abtreibungsparagraphen und die Debatte um Sterbehilfe. Jetzt weiß die Linke also, was zu tun ist. Der Rest ergibt sich dann ganz von selbst, prophezeit Benni: "Berlusconi wird keine eineinhalb Jahre der Regierungszeit überstehen, vielleicht sogar noch weniger. Verstehen wir uns richtig, von Gewalt ist keine Rede, im Gegenteil, wenn Berlusconi zwei erst mal vorbei ist, wird er glücklich auf Sainte Helene, einer der Cayman-Islands leben, wo er sein Arcore Stück für Stück nachgebaut hat, inklusive künstlichen Nebels und Smog."

Sollte Benni recht behalten, dann käme die Linke vielleicht bald schon wieder zum Zuge und würde endlich das tun, was Nanni Moretti sich stellvertretend für die gesamte enttäuschte Wählerschaft in seinem Film "Aprile" wünschte: "Di qualcosa di sinistra - sag mal was Linkes!" Der Satz hat mittlerweile Politikgeschichte geschrieben - die Goldene Palme hätte Moretti eigentlich dafür erhalten müssen.