Post aus Neapel

Toto - der Luther Italiens?

Von Gabriella Vitiello
26.05.2004. Der Luther Italiens? Erst seit Toto sprechen die Italiener eine einheitliche Sprache.
"Weil ich Demokrat bin, bestimme ich!" Der Gag stammt nicht etwa aus Silvio Berlusconis Repertoire des schlechten Politik-Geschmacks, sondern ist einer der Bücher füllenden Aussprüche von Antonio de Curtis, der unter dem Namen Toto Film- und Theatergeschichte schrieb. Der beliebteste Komiker Italiens spielte zwischen 1937 und seinem Tod 1967 in mehr als hundert Filmen mit (mehr zu den Filmen hier). Seine Mimik, Gesten und Sätze haben in Italien einen festen Platz im kollektiven Gedächtnis. In seiner Geburtsstadt Neapel genießt Toto - die Betonung des Namens liegt auf der letzten Silbe - Kultstatus. Kaum eine Bar oder Trattoria kommt ohne sein Bild an der Wand aus, Freunde präsentieren schmunzelnd ihre Toto-Videothek, auch wenn so manche Film-Kassette noch in Plastik eingeschweißt ist, weil sie die Filme sowieso schon zig mal im Kino oder im Fernsehen gesehen haben. Auch unter Intellektuellen gibt es Toto-Fans, die kichernd seine Sprüche perfekt imitieren.

De Curtis' Sprachwitz hat wenig an Aktualität verloren. Zur so genannten Friedensmission der italienischen Truppen im Irak passt beispielsweise: "Zuerst haben wir den Krieg verloren und jetzt auch den Frieden". Die Privatisierung des Schulsystems durch die Bildungsministerin Letizia Moratti hat Toto schon vor einigen Jahrzehnten vorausschauend kommentiert: "Die Eltern bezahlen ihren Kindern private Nachhilfestunden, aber Wissen lässt sich nicht mieten." Und das italienische Parteiensystem mit seinen ständigen Umbenennungen und Neugründungen hat sich seit der Nachkriegszeit auch kaum verändert: "In Italien schießen Parteien wie Pilze aus dem Boden." Die meisten Sprachspiele sind allerdings nur sehr schwer übersetzbar, da sie oft auf Wortverdrehungen und -verformungen beruhen, die in anderen Sprachen ihren Witz verlieren, weshalb De Curtis auf den großen Erfolg im Ausland verzichten musste. Inhaltlich ging es Toto oft um die Bloßstellung und Ironisierung gesellschaftlicher, politischer und kultureller Machtverhältnisse und Ungerechtigkeiten, wie in dem Kommentar zur Süditalienfrage: "Mailand ist die Stadt des Nordens, wir Südländer stehen unter dem Stiefel." Ihm reicht ein banaler "Milchkaffee", um die Misere von Hunger und Armut darzustellen: "Bei uns zu Hause tun wir gar nichts in den Milchkaffee, weder Milch noch Kaffee." (Hier mehr zum Film "Miseria e Nobilta", hier ein Foto vom hungrigen Toto und hier Totos bekanntestes Gedicht "A livella" in deutscher Übersetzung)

Die Universität Federico II widmete nun De Curtis' Sprachwitz, Schlagfertigkeit und Wortgewandtheit eine Tagung, zu der ein gutes Dutzend Sprachwissenschaftler aus Italien und Spanien sowie ein deutscher Teilnehmer nach Neapel angereist waren. Auch Liliana de Curtis, einzige Tochter des Schauspielers und Präsidentin der "Stiftung De Curtis" schaute vorbei. Ihr cremefarbenes Chanelkostüm unterstützte sie in ihrer Rolle als Tochter des Prinzen von Byzanz. Toto wurde zwar als uneheliches Kind von Anna Clemente 1898 in einem armen Volksviertel Neapels geboren (mehr hier und hier), doch der adlige Giuseppe de Curtis erkannte die Vaterschaft viele Jahre nach der Geburt noch an, und Toto konnte sich 1949 schließlich Antonio Griffo Focas Flavio Dicas Commeno Porfirogenito Gagliardi de Curtis di Bisanzio nennen (Bild)

Länger als auf den Adelstitel musste Toto auf die Anerkennung als Künstler warten. Während ihn das Volk verehrte, verrissen die Kinokritiker regelmäßig seine Filme und taten seinen Sinn für das Absurde und Groteske als Klamauk ab. Der erste Hinweis darauf, dass de Curtis' mit der Sprache spielt und sie formt wie ein Bildhauer den Marmor, kam in den 1960er Jahren von dem renommierten Sprachwissenschaftler Tullio de Mauro (hier eine Auswahl seiner Bücher). Er hatte beobachtet, dass Toto das gehobene, gestelzte und unverständliche Italienisch, das so genannte Italiano aulico der Bürokratie, des Klerus', der Justiz und der Politik mit seinen Gags lächerlich machte.

Wie das genau funktioniert, hat auch der deutsche Sprachwissenschaftler Edgar Radtke untersucht. Italianistik-Studenten deutscher Universitäten dürften seine Arbeiten zum Italiano parlato (gesprochenes Italienisch) ein Begriff sein, denn an Radtke führt in der italienischen Linguistik so schnell kein Weg vorbei. Der Heidelberger Professor erklärt, dass Toto das Italiano aulico, die italienische Hochsprache auf mehreren Ebenen malträtiert und die daraus resultierende Komik dadurch entsteht, dass es für den Schauspieler "ein normales Sprechen gar nicht gibt". Seine Wortwahl passt bewusst nicht zur Sprechsituation. In "Toto, Peppino e la malafemmina" (Bild) diktiert Toto beispielsweise einen Brief, der den gestelzten Schreibstil der damaligen Zeit parodiert und sich an ein vornehmes Fräulein richtet, wobei er allerdings immer wieder auf Kühe zu sprechen kommt und ein großes Kuhsterben erwähnt. (Mehr zum Film hier)

Um die Sprache an die Grenzen ihrer Logik zu treiben, benutzt Toto darüber hinaus Sprichwörter und Allgemeinplätze aus anderen Sprachen und lässt sie ins Italienische einfließen: "Arrivederci a tu le mond und wir sprechen nicht mehr drüber", oder "Rende vu heißt Verabredung auf Deutsch"; und wenn Toto in Berlin nach einer Straße fragt, klingt das so: "excuse mi, s?il vu ple, questa strass, ove trovass?" (Mehr zum Film in Berlin.) Dank dieses Kauderwelschs bezeichnen die Sprachwissenschaftler die Sprache von Toto auch gerne mal als "esterese" - ausländisch, worunter der Komiker schließlich noch Begriffe aus dem neapolitanischen Dialekt mischt.

Doch während De Curtis' Mimik und Gestik (Bild) fast vollständig der neapolitanischen Tradition entstammen, setzt er den Dialekt seiner Heimatstadt relativ sparsam ein. Italienisch überwiegt bei Toto - erläutert Radtke - denn so erreicht der Schauspieler zum einen das ganze Land, zum anderen trägt er zur Entdialektalisierung Italiens bei. In den 50er Jahren hatte sich nämlich noch kein einheitliches gesprochenes Italienisch durchgesetzt. Viele Menschen sprachen weiterhin Dialekt, weil die Hochsprache lebensfremd und teilweise unverständlich war. Der Prozess der Sprachbildung war in Italien noch lange nicht abgeschlossen und, fügen einige Linguisten hinzu, ist es auch heute noch nicht.

Genau darauf hat Toto mit seiner Sprachkunst die Gesellschaft aufmerksam gemacht. Er beobachtete und reflektierte die Sprache und die linguistischen Gewohnheiten und Abgründe seiner Zeit. In "Banda degli onesti" beschwert er sich über die unverständlichen Äußerungen einiger Norditaliener mit dem Spruch "sie sind jenseits der gotischen Linie". Damit erinnert zum einen an den Frontverlauf im zweiten Weltkrieg, der Italien in zwei Teile aufspaltete: im Norden die deutsche Besatzung, im Süden die vorrückenden Alliierten. Gleichzeitig markiert die Linea gotica in der Sprachwissenschaft die Trennung zwischen den nord- und süditalienischen Dialekten.

De Curtis setzte sich für ein einheitliches gesprochenes und geschriebenes Italienisch ein. In einer Rolle als Schreiberling beschimpft er einen Analphabeten, der sich von ihm einen Brief schreiben lassen möchte, als Dummkopf und empfiehlt sarkastisch, die Kinder bloß nicht zur Schule zu schicken, damit sie genauso ignorant bleiben wie ihre Eltern. Der Schriftsteller und Dozent Gabriele Frasca von der Universita di Siena per gli stranieri fügt hinzu, dass sich De Curtis auch der Kino-Sprache widersetzt, wie sie der Faschismus in den so genannten Filmen der "Telefoni bianchi" mit ihrer künstlichen, realitätsfremden Kulisse angeordnet hatte. Toto war während des zwanzigjährigen faschistischen Regimes der einzige Komiker, der es sich leisten konnte, Witze über Mussolini zu machen. Das gelingt auch auf nonverbaler Ebene. Wenn Toto etwa mit Melone auftritt (Bild), ist dies nicht nur ein Verweis auf die Vorbilder wie Charlie Chaplin oder Stan Laurel und Oliver Hardy, sondern auch eine Parodie auf Mussolini, der stets eine Melone trug, wenn er zu einer Audienz zum König ging.

Die subversive Sprachkunst von De Curtis wird vor dem Hintergrund der italienischen Sprach- und Bildungsgeschichte noch deutlicher. Tullio de Mauro hat in einem Aufsatz, aus dem der Corriere Anfang des Jahres einen Auszug veröffentlichte (jetzt hier in einem Weblog), die Fakten zusammengestellt: Im achtzehnten Jahrhundert sprachen Gelehrte verschiedener Dialektgruppen, sofern sie sich überhaupt trafen, lieber Französisch als Italienisch untereinander, von dem es hieß, "es liege tot in den Büchern begraben". Der Prozess hin zu einem einheitlichen gesprochenen Italienisch und einer verbindlichen Schulbildung begann erst nach der Einigung Italiens 1861.

Die erste landesweite Untersuchung zum Bildungsstand nach dem Zweiten Weltkrieg ergab, dass in den 1950er Jahren nur zwanzig Prozent aller Erwachsenen überhaupt einen Schulabschluss besaßen, Grundschule inbegriffen. Nur achtzehn Prozent der Italiener sprachen gewohnheitsgemäß Italienisch und nicht den eigenen Dialekt. Heute sprechen fünfundneunzig Prozent der Bevölkerung die Nationalsprache, was nicht heißt, dass sie auch oft italienische Literatur lesen; denn vierzig Prozent haben größte Schwierigkeiten, einen einfachen Satz zu lesen oder zu schreiben, weiß de Mauro, der vor einigen Jahren unter dem Mitte-Links-Bündnis auch Bildungsminister war. Nur zehn Prozent der italienischen Familien kaufen - abgesehen von den obligatorischen Schulbüchern - jedes Jahr ein paar Romane oder Sachbücher, wie eine Umfrage des nationalen statistischen Instituts im Jahr 2002 ergab. Abschließend bemerkt De Mauro noch, dass die öffentlichen Investitionen in Bibliotheken oder in andere Formen der literarischen Bildung weit hinter den europäischen Standards liegen und bringt einen haarsträubenden Vergleich: "die Stadt Rom stellt ihren Bürgern pro Kopf weniger Bücher zur Verfügung als Bagdad, bevor es vom Krieg zerstört wurde."

"Zivilisation bedeutet, alles zu haben, was du willst, wenn du es nicht brauchst" - ließe sich mit Toto die absurde Bildungslage kommentieren, die derzeit auch die italienischen Intellektuellen beschäftigt. Die italienische Ministerin für öffentliche Bildung will das Schulsystem, die Universitäten und die Forschung nach privatwirtschaftlichem Vorbild umstrukturieren, wobei sie Gelder zu Gunsten privater, meist katholischer, Bildungsinstitutionen umverteilt, weswegen vor wenigen Tagen Schüler, Studenten und viele Akademiker in Rom gegen ihre Pläne demonstrierten. Der Dichter und Literaturwissenschaftler Edoardo Sanguineti rief zu einer Unterschriftenaktion gegen Moratti und ihre Reformen auf. Viele Intellektuelle haben ihren Namen schon auf die Liste gesetzt (mehr). Sanguineti sieht das Prinzip der Chancengleichheit aller Schüler durch die Reformen verletzt. Schüler und Studenten werden nur noch als "Versuchspersonen innerhalb eines großen Markts" wahrgenommen: "Es herrscht die Idee einer quantitativen Produktivität vor, die nichts mit der Universität und der Forschung gemein hat." Wobei das Schema, wonach die Regierung Berlusconi vorgeht, immer das gleiche ist: "jedes Mal ist es so, als ob ein Produkt auf den Markt geworfen würde. Wenn der Kunde es annimmt, gut. Wenn nicht, wird die Marketing-Strategie geändert." (Hier das Interview mit Sanguineti in der Tageszeitung il manifesto)

Totos Forderung nach einer allgemeinen Schulbildung und einem verständlichen Italienisch haben etwas Zeitloses. "Er traf den Staat in seinen distanzierten Formulierungen und seinen Befehlshabern, die sich mit ihrer vermeintlich nationalen Sprache, die der Bevölkerung genauso fremd wie unverständlich war, was darauf einbildeten, nicht verstanden zu werden; und er forderte Demokratie", schreibt der Filmkritiker Goffredo Fofi anlässlich der Tagung über Toto (hier die Kulturzeitschrift, die Fofi herausgibt). Fofi gehört neben Pier Paolo Pasolini zu den weiteren intellektuellen Entdeckern von Antonio de Curtis (mehr hier und hier), Federico Fellini zeichnet ihn (hier), und Dario Fo ließ sich von Toto zu seinem Lehrbuch für Komiker inspirieren, dem "Manuale dell'attore comico".

Auch Beppe Sebate weist auf Totos Modernität hin. Für die Tageszeitung Unita befragte er den Poetik- und Rhetorik-Professors Paolo Bagni zu dessen neuem Buch: "Come le tigri azzurre. Cliche e luoghi comuni in letteratura" (Wie die blauen Tiger. Klischees und Gemeinplätze in der Literatur).

Sebate erinnert die Zeitungsleser daran, dass Toto es immer verstand, hierarchische Sprechsituationen zu demokratisieren. Das unwirsche Sprichwort "Ogni pazienza ha il suo limite" - jede Geduld hat ein Ende - verwandelte er in ein fast dadaistisches "jedes Ende hat seine Geduld". Noch deutlicher wird dies bei der herablassenden Drohung an einen unterlegenen Sprecher "badi come parla" - geben Sie acht, was sie sagen. Toto verdreht die Verben und macht daraus ein: "parli come badi", was sich mit "sprechen Sie so, wie Sie auf etwas achten", übersetzen lässt. Wobei in dem Satz, der an Ludwig Wittgensteins Sprachphilosophie erinnert, zugleich mitschwingt, dass das Gegenüber oder der Andere in einer Unterhaltung Respekt verdient, weil nur so ein Dialog möglich ist. Genau dies sei den Vertretern der italienischen Regierung aber fremd - so Bagni im Interview, - sie redeten mit ihren von der Realität abgelösten Slogans einfach an ihren Zuhörern vorbei.

Trotz seiner außerordentlichen Sprachkunst waren De Curtis die visuellen Gags lieber als die verbalen, schreibt Goffredo Fofi: "bis zu seinem Tod blieb es sein Traum, einen Stummfilm zu machen, der ihm endlich, so glaubte er, auch im Ausland Wertschätzung gebracht hätte." Doch auch Toto hatte Probleme mit den Gesetzen des Marktes. Produzenten wie Carlo Ponti und Dino de Laurentiis, "die sich an ihm bereicherten", wollten ihm seinen Wunsch nicht erfüllen. So bleibt Toto zumindest aus der Sicht der Sprachwissenschaftler der Wort- und Sinn-Saboteuer: "Ich bin kein Existenzialist, ich bin demokratischer Romanist und manchmal Anhänger des Fußballvereins Napoli." Ein demokratischer Romanist, der die Kommunikationsmöglichkeiten und die Grenzen der Sprache gründlich reflektiert hat:

"Ho detto tutto", "ich habe alles gesagt" - lautet einer seiner bekanntesten Sprüche.