Post aus New York

New York, 14-16.9.01: Purpurrote Wut

Von Ute Thon
16.09.2001. Bushs erste Reaktion auf den Terroranschlag konnte niemand überzeugen. In den ersten Tagen nach dem Attentat fiel daher New Yorks Bürgermeister Rudolph Giuliani die Rolle des souveränen Krisenmanagers und tröstenden Landesvaters zu.


Nicht nur der Anblick der zusammenstürzenden World Trade Center-Türme war für die Amerikaner ein echter Schock. Schockierend war auch die offenkundige Führungsschwäche und Unsicherheit ihres Präsidenten unmittelbar nach dem Terroranschlag. Zuerst versteckt er sich für Stunden, dann liest er papierene Floskeln vom Teleprompter ab, scheint also nicht einmal angesichts einer solch blutigen Katastrophe in der Lage, seine Trauer, Wut und Entschlossenheit in eigenen Worten auszudrücken. "Mr. Bush braucht weniger vorgefasste Rhetorik von alliterationsverliebten Phrasendreschern, die schöne Worte in seinen Mund legen, die klingen als habe sie ein glibberiger Stylist geschrieben, und mehr Zeit für seine Bürger", empörte sich Frank Rich in der New York Times.
In den ersten Tagen fiel New Yorks Bürgermeister Rudolph Giuliani die so dringend benötigte Rolle des souveränen Krisenmanagers und tröstenden Landesvaters zu. Er wischte sich den Ruß aus dem Gesicht, hielt die erste Pressekonferenz, kaum dass sich der Ascheregen gelegt hatte und hielt die Nation auch nach Mitternacht noch mit Informationen zum Stand der Rettungsarbeiten auf dem Laufenden. Er fand die richtigen Worte - ohne Skript. Auf die vorschnelle Frage eines CNN-Reporters nach der Zahl der Opfer antwortete er mit beklemmender Schlichtheit: "Ich fürchte, wenn wir das erst wissen, werden es mehr sein, als wir ertragen können". Selbst seine schärfsten Kritiker loben Giuliani neuerdings für seinen uneitlen Führungsstil. "Ein Mann, der an einer schrecklichen Aufgabe gewachsen ist", schreibt Joan Walsh im Salon-Magazin. "Wenn Bush nach einer angemessenen Rolle strebt, sollte er sich ansehen, was Giuliani in den letzten Tagen geleistet hat."

Diesen Rat hat sich der "Führer der freien Welt" offenbar zu Herzen genommen. Am Donnerstag verkündete er in einem für die Fernsehkameras inszenierten, betont lockeren Telefongespräch mit Giuliani, dass er persönlich nach New York kommen werde, um sich ein Bild vom Ausmaß der Zerstörung zu machen und die Rettungsarbeiter "zu umarmen und mit ihnen zu weinen". Eine überraschende Wendung, hatte Bush doch in seiner Ansprache am Dienstag Abend New York kaum mit einem Halbsatz erwähnt. Die Demokraten-Hochburg mit ihren liberalen Kultureliten und dem eloquenten Bürgermeister ist dem Texaner eigentlich ein Gräuel. Dennoch reiste er am Freitag Nachmittag unter strengsten Sicherheitsbedingungen an. Die Stadt, ohnehin schon unter strenger Militärbelagerung, wurde noch mehr lahmgelegt. F-16-Bomber röhrten durch die Luft, der Passagierflugverkehr, nach dreitägigem Stillstand gerade erst wieder aufgenommen, wurde erneut gesperrt. Nach seiner Ankunft an einem geheimgehaltenen Flugfeld außerhalb New Yorks, rast Bush mit einer Autokolonne mit 20 Fahrzeugen quer durch Manhattan. Derweil werden am zerstörten World Trade Center Hunderte von Feuerwehrmännern, die eben noch nach Überlebenden gruben, am Rande der Ruinen als Empfangskomitee gruppiert.

Nach stundenlangem Warten taucht der Präsident endlich auf. Wie auf Bestellung wechselt das Licht. Der trübe Regenhimmel reißt auf, als Bush im grauen Arbeiterblazer und offenem Hemd durch den Matsch schreitet. Reporter müssen großen Abstand halten. Die sorgfältig geplante Begehung von "Ground Zero" wird von den Kameras nur aus der Ferne, wie ein zufällig eingefangenes Bild aufgezeichnet. Bush schüttelt Hände, klopft Feuerwehrleuten jovial auf die Schulter. Dann schwingt er sich mit einem Megaphon in der Hand auf einen LKW - die revolutionäre Heldenpose. "Ich höre euch, der Rest der Welt hört euch und die Leute, die diese Gebäude niedergerissen haben, werden schon bald von uns allen hören", schreit er. Die Arbeiter antworten mit Sprechchören: "USA, USA, USA!".

Der Auftritt verfehlt seine Wirkung nicht. Die Amerikaner lieben solche Bilder. Nach dem New York-Besuch gehen Bushs Beliebtheitswerte steil nach oben. Über 80 Prozent finden plötzlich wieder, dass er seine Sache ausgesprochen gut macht. Als er im Javits Center die Angehörigen von Vermissten trifft, reichen ihm die Leute sogar die Fotos der Toten für ein Autogramm. Laut Umfragen unterstützt inzwischen auch eine überwiegende Mehrheit Bushs Idee, einen Krieg zu starten. "Von vielen Personen des öffentlichen Lebens, die die Außenpolitik der Regierung Bush noch vor kurzem heftig kritisiert haben, ist jetzt nur noch eines zu hören: dass sie gemeinsam mit dem gesamten amerikanischen Volk, vereint und furchtlos hinter dem Präsidenten stehen", beobachtet Susan Sontag.

Kritik an Washington gilt plötzlich als unamerikanisch, fast schon als Verrat. Die US-Medien haben aufgehört, dem Präsidenten mit zielgerichteten Fragen zur inneren Sicherheit oder zur Außenpolitik zu belästigen. Stattdessen rüsten sich die Reporter schon für die Frontberichterstattung. Das Nachrichtenmagazin Time veröffentlichte am Wochenende eine Extraausgabe mit schockierend unverblümter Kriegstreiber-Propaganda. "Was wir jetzt brauchen, ist eine vereinte, verbindende Pearl-Harbor-mäßige purpurrote Wut, die nicht nach ein, zwei Wochen wieder versickert", schreibt Lance Morrow in einem wütenden Kommentar. "Lass Amerika die reichhaltigen Möglichkeiten der 'Fatwa' ausloten. Eine Politik der gezielten Brutalität. Amerika muss eine verlorengegangene Disziplin, nämlich selbstbewusste Rücksichtslosigkeit, wiedererlernen - und wir müssen wieder lernen, warum die menschliche Natur uns alle mit einer Waffe namens Hass ausgestattet hat. Die Präsidentschaft von George W. Bush beginnt jetzt."