Efeu - Die Kulturrundschau

Die Menschheit, nein, das Universum

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09.09.2023. Die Filmfestspiele Venedig gehen zu Ende: Zwei Grenzdramen konkurrieren wohl um den Goldenen Löwen, schreiben die Kritiker. Uneinig sind sie sich, ob Matteo Garrones "Il Capitano" der rechten Regierung Italiens gefallen wird. Wir wollen lieber Bücher schreiben, statt immer nur Anträge auf Stipendien, rufen junge Schriftsteller in der FAZ. Die Nachtkritik hofft mit Philipp Quesnes "Der Garten der Lüste" auf die Erlösung der Menschheit. Berliner Zeitung und taz bewundern, wie Nadia Kaabi-Linke die "Haken der Geschichte" visualisiert.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.09.2023 finden Sie hier

Film

Flucht in Europa: "Green Border" von Agnieszka Holland

Das Filmfestival Venedig neigt sich seinem Ende zu. Valerie Dirk vom Standard fände es hervorragend, wenn Agnieszka Holland für ihr Grenzdrama "Green Border", das die horrenden Zustände an der Grenze zwischen Polen und Belarus in den Blick nimmt, ausgezeichnet würde - gerade auch, weil die polnische Regisseurin "keine klassische Festivalregisseurin" ist. "Unter Cinephilen gilt ihr Kino als formal zu wenig anspruchsvoll, in Polen gilt es als zu aktivistisch, wie sich diese Woche an einer Äußerung des polnischen Justizministers zeigte. Früher hätten die Nazis antipolnische Propaganda gemacht, meinte Zbigniew Ziobro, heute mache das Agnieszka Holland. Holland, die in den 1980ern nach Frankreich emigriert ist und jüdische Wurzeln hat, drohte prompt mit einer Klage wegen des Nazivergleichs. Manchmal ist die Hetze von einer bestimmten Seite schon der Beweis dafür, dass etwas stimmig ist. Doch Hollands mitreißende Geschichte über Geflüchtete, Aktivistinnen und Grenzbeamte an der polnisch-belarussischen Grenze ist auch abseits des Labels der politischen Dringlichkeit ein außerordentlich berührendes, humanistisches Kinoerlebnis."

"Die Bitterkeit tieft aus jedem Bild", schreibt Jan Küveler in der Welt über "Green Border". Am Schluss "heißt es, Zehntausende Araber und Afrikaner seien in den vergangenen Jahren an den EU-Außengrenzen gestorben. Erst als die weißen Ukrainer flohen, habe Polen die Schlagbäume hochgeklappt und Millionen aufgenommen. Man kann mit Recht etwas gegen Hollands suggestive Parteinahme haben, auf dem Unterschied zwischen Kriegsflüchtlingen in ein Nachbarland und politisch oder wirtschaftlich begründeter Migration bestehen. Man kann kritisieren, dass die Regisseurin nur vor Ort nachsieht, wo es nass und kalt und blutig wird, und nicht in den Brüsseler Verhandlungsräumen oder in Syrien, Marokko, Afghanistan, wo die Flucht ihren Anfang nahm. Unabhängig davon bleibt 'Green Border' ein künstlerisch und politisch dringlicher Appell und einer der besten Filme des Wettbewerbs."

Flucht nach Europa: "Io Capitano" von Matteo Garrone

Auch FR-Kritiker Daniel Kothenschulte hält Holland für eine aussichtsreiche Kandidatin, doch könnte ihr "ein thematisch ähnlicher, aber politisch und ästhetisch fragwürdiger Film gefährlich werden. In satten Farben inszeniert Matteo Garrone die Odyssee zweier somalischer Teenager nach Europa als ungehemmte Unterhaltung. Dabei könnte sein 'Io Capitano' sogar Italiens stellvertretendem Ministerpräsidentin Matteo Salvini von der populistischen Lega gefallen. Jedem Gegner des Asylrechts spricht schon der Filmanfang aus der Seele. Der Film beginnt in einem pittoresken somalischen Dorf, wo die Jugendlichen wohlbehütet aufwachsen und sich - wie auch immer das möglich ist - in nur sechs Monaten den immensen Schlepper-Lohn nach Sizilien heimlich erarbeiten. ... Der Film ist unterlegt mit wahllos kompilierter afrikanischer Pop-Musik, angereichert mit ein paar surrealen Traumsequenzen. So imitiert Garrone zugleich eine vage Idee von afrikanischem Kino."

Anders, wenn auch ebenfalls hier und da mit Bauchschmerzen, sieht es Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche: "Vor dem Hintergrund der strikten Abschottungspolitik muss Garrones Drama ... wie ein Affront wirken. Es ist genau jene Sorte von 'linkem' Kino, das man künftig nicht mehr mit Steuergeldern finanzieren möchte." Die beiden Jugendlichen "werden in der Sahara ausgesetzt, von Milizen ausgeraubt und kommen mit letzter Kraft in Libyen an. Lange Zeit erinnert 'Io Capitano' eher an ein Frontex-Abschreckungsvideo: Garrone spart keine Brutalität aus, die verwoben mit seinem magischen Realismus umso zynischer wirkt. ... Es dauert sehr lange, bis "Io Capitano" endlich zu dem Film wird, den Garrone verspricht: der den Menschen auf der Flucht eine Stimme gibt."

Mehr vom Festival: Auf der Zielgeraden hat tazler Tim Caspar Boehme nochmal viel Spaß mit Quentin Dupieuxs Groteske "Daaaaaali" und Giorgio Dirittis "Lubo", in dem der derzeit dauerpräsente Franz Rugowski mitspielt. Felicitas Kleiner liefert hier und dort im Filmdienst Notizen vom Festivalgeschehen.
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Musik

Im Gespräch mit dem Tages-Anzeiger äußert der Klangkünstler Matthew Herbert sein Unbehagen bei allzu partiturentreuen Klassikkonzerten: Dabei entzögen die Musiker "dem Stück jegliche Emotionalität". Nadine Lange (Tsp) und Kira Kramer (FAZ) hören den neuen Till-Lindemann-Song "Zunge". In der FAZ gratuliert Jan Brachmann dem Dirigentin Michael Schønwandt zum 70. Geburtstag. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Marcus Jung über "Wake Up" von Rage Against the Machine. Christoph Lindenmeyer schreibt in der taz einen Nachruf auf den Musiker und Schriftsteller Carl-Ludwig Reichert.

Besprochen werden Allison Russells "The Returner" (FR) und ein neues Album der Rockerin Courtney Barnett (taz).
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Bühne

 Szene aus "Der Garten der Lüste" bei der Ruhrtriennale. Foto: Katrin Ribbe Ruhrtriennale 2023

Eine außergewöhnliche Wirkung hinterlässt Philippe Quesnes Inszenierung von "Der Garten der Lüste" bei Nachtkritiker Gerhard Preußer. Eine Gruppe Bustouristen strandet in der Wüste - so alltäglich beginnt das Stück, meint Preußer, aber "schon am Anfang schimmert durch, hier geht es um mehr, um alles, um die Menschheit, nein, um das Universum". Es formt sich dann eine hippiemäßige, künstlerische Gemeinschaft, so der Kritiker, man zitiert Georges Perec und singt gemeinsam. Es geht aber immer auch um Spiritualität, nicht umsonst ist das Stück an Hieronymus Boschs gleichnamiges Tryptichon angelehnt- und um ein großes Ei: "Und folglich ist die Menschheit erlösungsbedürftig. Das Ei wird gekippt, alle sehen in die Höhlung hinein, genau wie eine kleine Menschengruppe auf Hieronymus Boschs Bild. Ein Wummern und Dröhnen hebt an, am Himmel des Prospekts erscheint ein Dreieck, wird immer größer, füllt die ganze Fläche. Alle starren es begeistert an, als wäre es die göttliche Trinität - und es verschwindet. Ob das Erlösung war oder Untergang? Quesne erreicht eine emotionale Öffnung. Man wird nicht fokussiert, sondern durchlässig für Stimmungen. Die Gelassenheit und Sorgfalt so verschiedener Bühnenaktionen und Texte führt zu einer ratlosen, kühlen Heiterkeit, die zu den seltenen Theaterwirkungen gehört." SZ-Kritiker Till Briegleb freut sich darüber, wie hier ein "anderes Modell von Zivilisation" vorgeführt wird, "eine freundliche Alternative zu allen bequemen Gewissheiten über Wohlstand, Waren- und Anspruchsdenken".

In der Welt am Sonntag verteidigt Elmar Krekeler das viel kritisierte Engagement (unser Resümee) Anna Netrebkos an der Berliner Staatsoper. Die russische Sängerin habe in puncto Russlandkritik getan was sie konnte, meint Krekeler. Indem sie sich gegen den Ukraine-Krieg ausgesprochen habe, sei sie schließlich auch in Russland zur "Persona non grata" geworden: "Mehr an Abbitte kann Anna Netrebko, mehr kann ein russischer Musiker Sportler, Intellektueller gegenwärtig kaum tun. Die Zeit fordert den Spagat. Anna Netrebko hat ihn - man mag ihre Divenhaftigkeit nicht mögen und verdächtig finden - prinzipiell erstaunlich aufrecht bewältigt."

Weiteres: In der NZZ porträtiert Bernd Noack den Regisseur Max Reinhardt. SZ-Kritiker Egbert Tholl besucht eine Ausstellung in Salzburg zu dessen 150. Geburtstag und ist besonders beeindruckt von der virtuellen Rekreation von Reinhardts "Faust-Stadt". Die Komödie "Extrawurst", geschrieben von Dietmar Jacobs und Moritz Netenjakob, war dieses Jahr das beliebteste Theaterstück der Deutschen, verrät Vasco Boenisch in der FAS, auf Platz zwei folgt "Maria Stuart". In der FAZ schildert Lothar Sickel die historischen Umstände der Uraufführung von Alfred Neumeyers Stück "Die Herde sucht" im Jahre 1931, die einen Skandal auslöste.  

Besprochen werden Steffen Wilhelms Inszenierung von Derek Benfields Komödie "Love Jogging" an der Komödie Frankfurt (FR), Julien Gosselins Inszenierung "Extinction" an der Berliner Volksbühne mit Texten von Thomas Bernhard, Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal (FAZ) und Antú Romero Nunes' Inszenierung von "Antigone" am Theater Basel (nachtkritik),
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Literatur

"Bilder und Zeiten" der FAZ widmet sich in einem Dossier von Erfahrungsberichten junger Schriftsteller an der Schwelle zum Erfolg der prekären Lage im Literaturbetrieb. Die Schriftstellerin Selene Mariani schreibt über das Hamsterrad aus Bewerbungen für Stipendien und Preise, die nötig sind, um einerseits Geld in die Kasse zu bekommen, aber andererseits auch, um sich in der öffentlichen Wahrnehmung zu etablieren: "Eine Tätigkeit, die gut mit einer Vollzeitstelle besetzt werden könnte. ... Man hat einen Tag oder eine Woche lang an der Bewerbung gesessen, Geld und Nerven verloren, um dann in einem halben Jahr eine Absage zu bekommen." Dabei entpuppen sich viele Stipendien und Stadtschreibereien als Präsenztätigkeiten unter teils erbärmlichen Wohn- und Geldbedingungen, fügt Alexander Estis hinzu: "Doch aufgrund der prekären Lebenssituation und der verschärften Konkurrenz greifen vor allem junge Autoren nach jedem Strohhalm. Die Förderer können fast beliebige Konditionen verlangen - Interessenten finden sich immer." Im System aus Residenzpflichten und Präsenzwünschen wird an Schriftsteller mit Kindern selten gedacht, schreibt Konstantin Ames, der sich wünscht, dass die Kulturpolitik "die offene Kinder- und Familienaversion der graumelierten Hagestolze im Bereich der Künstlerförderung" beendet.

Auch Slota Roschal unterzieht den romantischen Mythos des versonnen in seiner Wohnung an der Kunst arbeitenden Schriftstellers einem Realitätscheck: "Die meiste Zeit schreibe ich keine Bücher, sondern E-Mails, Rechnungen und Finanzpläne. Ich trage jedes Honorar, das in Aussicht gestellt wird für Lesungen, Workshops, Publikationen, in eine Tabelle ein und rechne aus, ob ich die Mindestsumme erreicht habe, um nach Abzug der Einkommensteuer die Basics (wie Versicherungen, Website, Büromaterial) zu decken. Spätestens zum Ende des Jahres müssen sich Soll und Haben decken, ich notiere, wer mir wie viel schuldig ist, da die Überweisungen manchmal Wochen und Monate dauern oder vergessen werden. Einmal im Monat überweise ich Umsatzsteuer, viermal im Jahr zahle ich Einkommensteuer voraus, einmal im Jahr zahle ich sie nach, das Umsatzsteuergesetz lese ich wie ein Mönch die Bibel. Die Miete kommt durch Preisgelder zusammen, von steuerfreien Stipendien versuche ich zu leben."

Norwegen diskutiert darüber, ob Karl Ove Knausgård den (einst von einem Maoisten ins Leben gerufenen, heute kurioserweise von einem Millionär gestifteten) schwedischen Leninpreis annehmen soll oder nicht, berichtet Aldo Keel in der NZZ. Die teils energischen Forderungen, den Preis abzulehnen, fechten "den Meister nicht an. Schwarz-Weiß-Denken sei ihm zuwider, lässt er die Presse wissen. Lenins Erbe sei kompliziert und widersprüchlich. Gewiss, Lenin habe dem Gulag und dem 'Massenmord am eigenen Volk' den Weg geebnet. Er sei aber auch ein 'Freiheitskämpfer' auf der Seite der Unterprivilegierten gewesen, schreibt Knausgård allen Ernstes."

Außerdem: Im "Literarischen Leben" der FAZ staunt Helmuth Kiesel über Johannes Freumbichlers 1936 erschienenen Bauernroman "Philomena Ellenhub", der "zeigt, dass auch in diesem anrüchigen Genre ein Kunstwerk von Rang möglich war", und daneben wohl auch das monomanische Schreiben Thomas Bernhards - immerhin Freumbichlers Enkel! - geprägt haben dürfte. Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Michael Wolf liest für die taz die neue, "angemessen unbescheiden" auftretende Literaturzeitschrift Delfi. Matthias Heine erinnert in der Welt an John Steinbecks "Früchte des Zorns". Der Tagesspiegel dokumentiert Herta Müllers Eröffnungsrede zu den Berliner "Tagen des Exils". Der Dlf hat dazu mit ihr gesprochen. Außerdem dokumentiert die FAZ in "Bilder und Zeiten" die Rede des Schriftstellers José F. A. Oliver zur Eröffnung des Ringelnatz-Sommers in Wurzen. Marc Reichwein verbringt für die WamS einen Tag mit Mithu Sanyal.

Besprochen werden unter anderem Navid Kermanis "Das Alphabet bis S" (FR), Louise Kennedys "Übertretung" (taz), Anne Serres "Die Gouvernanten" (Tsp), Evelyn Rolls Memoir "Pericallosa" (SZ) sowie in einer Doppelrezension Nele Pollatscheks "Kleine Probleme" und Wolf Haas' "Eigentum" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Ulrich Seidler wird für die Berliner Zeitung von der Künstlerin Nadia Kaabi-Linke durch ihre Ausstellung "Seeing without Light" im Hamburger Bahnhof geführt. In ihren Kunstwerken laufen "Leben, Tod, Schuld, Schmerz zusammen", etwa im Werk "Blindstrom für Kasimir", so Seidler: "Schwarze Flächen hängen an den Wänden, daneben finden sich helle Rechtecke, wie sie zurückbleiben, wenn man Bilder abhängt. Es geht um Werke, die 1937 bis 1939 von stalinistischen Kulturzensoren in der ganzen ukrainischen Sowjetrepublik in einer Spezialsammlung zusammengetragen wurden, um sie zu vernichten: Werke von abtrünnigen Künstlern, mit unliebsam gewordenen Protagonisten oder kritischen Inhalten. Viele Künstler starben bei den Stalin'schen 'Säuberungen', während ihre Werke, die in Kiew gelagert wurden, in die räuberischen Hände der deutschen Wehrmacht fielen. Nach dem Krieg gelangten einige nach Moskau und von dort zurück ins Kiewer Nationalmuseum, wo sie in den letzten Jahren der Vergessenheit entrissen wurden. Die Leinwände tragen gewaltvolle Spuren der Reisen, aber auch der Misshandlung, wenn etwa Porträtierte abgewaschen oder abgekratzt wurden..." Taz-Kritikerin Sophie Jung bewundert, wie Kaabi-Linke die "Haken der Geschichte, gesellschaftliche, auch ökologische Konflikte...in präzisen, vergeistigten Bildern" darstellt, findet die Ausstellung aber etwas überladen.

FAZ-Kritiker Patrick Bahners fragt sich, weshalb die Association Internationale des Critiques d'Art (AICA) die Auszeichnung "Museum des Jahres" ausgerechnet an die Krefelder Museen vergeben hat. Seit 2020 läuft in Washington ein Verfahren der Mondrian-Erben gegen die Stadt Krefeld über die Rückgabe von vier Gemälden, die unter ungeklärten Umständen in den Besitz des damaligen Direktors Paul Wember gelangten. Bis heute gab es seitens der Museen keine zufriedenstellende Erklärung, so Bahners.

Weiteres: In der Welt am Sonntag begutachtet Boris Pofalla das neue "Tacheles"-Areal: Mit den Ideen des ehemaligen Kunsthauses hat das wenig zu tun - dafür ist es viel zu kommerziell, meint Pofalla. Warum hat Deutschland die Kunst der in Berlin lebenden Bildhauerin Nairy Baghramian bisher verpennt, fragt Peter Richter in der SZ. Im Ausland feiert die iranisch-amerikanische Künstlerin jedenfalls große Erfolge: das Metropolitan Museum in New York zeigt bald zwei ihrer Skulpturen in den leeren Nischen neben dem Hauptportal. In der NZZ feiert Dario Veréb die Entdeckung von drei unbekannten Farbabbildungen des Schweizer Fotografen Werner Bischof.
Archiv: Kunst