9punkt - Die Debattenrundschau

Gesums von Mikroerzählungen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.04.2019. Die Islamwissenschaftlerin Susanne Schröter will an der Uni Frankfurt eine Diskussion über das Kopftuch veranstalten. Einigen an der Uni studierenden Sittenwächtern passt das nicht: Sie fordern die Absage der Veranstaltung und die Absetzung Schröters - wegen "antimuslimischem Rassismus". Alain Finkielkraut widerfährt laut Marianne in Frankreich Ähnliches. In der Welt erklärt Richard Schröder die "posttotalitäre Situation" in den Neuen Ländern. Golem.de erzählt, wie Internet und Überwachung in China fusionierten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.04.2019 finden Sie hier

Gesellschaft

Es scheint sich nicht gerade um eine massive Demonstration zu handeln, aber sehr wohl um ein Zeichen, dass auch an der Uni Frankfurt einige studentische Sittenwächter über einen Sittenkodex wachen, nach dem das Kopftuch nicht kritisiert werden darf. Die Islamwissenschaftlerin Susanne Schröter, die in der FAZ neulich brillant darlegte, wie "züchtige" Mode in islamischen Ländern zur Installation neuer Dresscodes beitrug (unser Resümee), plant an ihrem Institut eine Diskussion unter dem Titel "Das islamische Kopftuch - Symbol der Würde oder der Unterdrückung?" Eingeladen sind unter anderem Alice Schwarzer und Necla Kelek, aber auch die Kopftuch-Verfechterin Khola Maryam Hübsch.

Gegen das Symposion steht eine Gruppe mit dem Namen @schroeter_raus auf, die sich auf Instagram in aller Bescheidenheit als "Wir, die Studierenden der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt" vorstellt und ihrer Empörung Ausdruck gibt: "Gerade heute mit der steigenden Salonfähigkeit von Rechtspopulismus, werden in Deutschland Menschen, die das Kopftuch tragen, Opfer von rechter Gewalt und Rassismus. Diese Rechtspopulisten erhalten durch Personen wie Prof. Dr. Susanne Schröter und ihren geladenen Gästen Zuspruch." Die Gruppe fordert, dass die Veranstaltung abgesagt und Susanne Schröter ihrer Position enthoben wird. Den Text der Gruppe hat Schröter auf ihrer Facebook-Seite präsentiert.

Auch Alain Finkielkraut sollte mal wieder am Auftritt an einer Hochschule - der Eliteschule Sciences Po in Paris - gehindert werden. Im Bericht Louis Nadaus in Marianne sagt er an die Adresse der protestierenden Studenten: "Der Faschismus seid ihr, die Dreißiger seid ihr, der Antisemitismus seid ihr, die Bücherverbrennungen seid ihr. Das ist alles, was ich ihnen zu antworten habe. Sie sind, was sie vorgeben zu bekämpfen. Sie kämpfen gegen die Freiheit des Geistes. Sie wollen mich am Sprechen hindern, während ich niemand am Sprechen hindere."

Die Moderne ist zu einem "Gesums von Mikroerzählungen" geworden, stellt der Kulturtheoretiker Jörg Scheller in der NZZ mit Blick auf die zahlreichen Identitätsdiskurse treffend fest und empfiehlt die Lektüre der "Theorie der Gerechtigkeit" des 2002 verstorbenen amerikanischen Philosophen John Rawls: "Zentral für Rawls ist, dass eine gerechte Gesellschaft keine homogene ist. Wo keine Pluralität ist, da ist kein Dissens, da ist keine wahre Politik, da ist auch die Frage der Gerechtigkeit nachrangig. Für Gerechtigkeit genügt aus Rawls' Sicht die Minimalanforderung eines 'überlappenden Konsenses'. Selbst diesen drohen die westlichen Gesellschaften zu verlieren, wenn ihre Mitglieder den Willen zur Gerechtigkeit durch den Willen zur Selbstgerechtigkeit ersetzen. Und noch etwas ist entscheidend für Rawls: Eine gerechte Gesellschaft erfordert paradoxerweise die Ungleichbehandlung ihrer Mitglieder."

Ebenfalls in der NZZ ärgert sich Birgit Schmid über moderne, stets empörte Links-Feministinnen, die anderen Frauen vorschreiben wollen, "was eine gute Frau ist" und dadurch individuelle Freiheit und echte Patriarchatskritik unmöglich machen. Und: "Die Supermarktangestellte erreicht der abgehobene Diskurs des Genderfeminismus nach wie vor nicht. Auch das wird nicht gerne gehört und als antiintellektuelles Statement genommen. Es ist aber eine Tatsache, dass wir alle, die wir uns mit dem Thema beschäftigen, als Privilegierte reden. Feminismus wurde in den letzten Jahren mehr und mehr als Selbstverwirklichung betrieben: von Karrierefrauen, die sich mit Quoten beschäftigen, bis zu den jungen Frauen, die am liebsten auch die Biologie einklagen würden, da ihnen weiterhin das Kinderkriegen obliegt. So entsteht eine Ferne zu den Frauen, die sich in schlecht bezahlten Jobs über Wasser halten oder deren Leben, weil sie als Mädchen geboren wurden, von Anfang an bedroht ist."

Mit 22 Prozent der Wählerstimmen wäre die AfD laut Umfragen derzeit stärkste Partei im Osten. 78 Prozent der Ostdeutschen (im Vergleich zu 87 Prozent der Westdeutschen) würden die AfD dementsprechend nicht wählen, konstatiert der ostdeutsche Philosoph und evangelische Theologe Richard Schröder in der Welt und wirft Westdeutschen eine "Exotisierung des Ostens" vor. Die Differenz erklärt er mit der "posttotalitären Situation", die Ostdeutschland mit anderen ehemals sozialistischen Ländern verbinde: Diese habe "ein Staatsverständnis hinterlassen, das einerseits 'den Staat' weiterhin als 'die da oben' ablehnt, die nur an sich denken und denen die Bedürfnisse der Bevölkerung gleichgültig seien, wie das für die DDR ja auch weithin zutraf, andererseits aber vom 'Vater Staat' bedient werden möchten, wie es der vormundschaftliche Staat der SED versprochen, aber nicht gehalten hat."
 
Für den Tagesspiegel hat sich Ariane Bemmer derweil die Deutschlandkarte der Hans-Böckler-Stiftung angeschaut und festgestellt, dass die Einkommensschere zwischen Ost- und Westdeutschland keineswegs so groß ist, wie die ihrer Meinung nach ganz auf Effekt zielende Grafik vorgebe: "Was die Grafik nicht sagt, wohl aber die dazugehörige Untersuchung: dass alle fünf ostdeutschen Bundesländer von 2000 bis 2016 Einkommenszuwächse verzeichnet haben, und zwar im Schnitt um fast 16 Prozent. Das habe einerseits mit Geldern aus der Rentenkasse zu tun, was West-Ruheständler im Osten sein können, mit Lohnsteigerungen und mit Einkommen aus Vermögen. Hier sei ein minimaler, aber stetiger Anstieg zu beobachten, stellten die Forscher fest. Schlimmer dagegen stelle sich die Situation in einigen Ruhrgebietsgegenden dar, wo es vom niedrigen Niveau aus seit Jahren immer weiter bergab geht. Für ein Land, in dem die sogenannte 'soziale Mobilität', also Aufstieg, immer noch schwer ist und sich soziale Handicaps quasi vererben, sind das auf alle Fälle alarmierende Befunde. Aber eben keine, die allein auf einen Ost-West-Konflikt reduziert werden sollten."

Auch der Rechtspopulismus habe sich laut der Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung im Osten und Westen gleichermaßen verfestigt, meldet Tina Groll bei Zeit Online.
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Europa

Ismaël Halissat und Hala Kodmani erzählen in zwei aufregenden Libération-Artikeln (hier und hier), wie syrische Flüchtlinge in Deutschland halfen, einen Terroristen des Islamischen Staats aufzuspüren, der in Rakka als Abou Hamza al-Kimawi, "der Chemiker", bekannt war, und in Deutschland Asyl genoss und seine Familie nachziehen lassen konnte. Er sprach gut deutsch und studierte in Marburg Chemie. Ein ehemaliger Offizier der syrischen Armee, der heute ebenfalls in Deutschland Asyl hat, sagt: "Diese Personen sind schlafende Zellen und können Jahre später jederzeit wiederbelebt werden. Sie bleiben der Organisation aus Überzeugung oder aus Angst vor Erpressung verbunden."
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Überwachung

Felix Lee erzählt in einem Hintergrund für golem.de, wie der chinesische Internetkonzern Tencent mit der Messaging-App Wechat das gesamte Leben der Chinesen digitalisiert, vom Bezahlen, bis zur Arbeitststelle. Die Bürger entkommen dem kaum noch. Aber das heißt auch totale Überwachung: "Dabei ist Tencent ein Privatunternehmen. Im staatskapitalistischen China mit seiner autoritären Führung ist es aber gar nicht möglich, mit der Regierung nicht zu kooperieren. Wie alle IT-Konzerne, die in China tätig sind, gibt auch die Firmenleitung von Tencent unverhohlen zu: Die chinesischen Sicherheitsbehörden haben jederzeit Zugriff auf die Daten. Zahlreiche Nutzer sitzen in China in Haft, wegen aus Sicht der kommunistischen Führung politisch nicht korrekter Einträge, die der Nutzer selbst verfasste oder weil er zuließ, dass andere sie auf der Gruppe posteten."
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Politik

Im New Yorker UN-Sicherheitsrat wurde unter dem aktuellen Vorsitz Deutschlands eine Resolution gegen sexualisierte Gewalt gegen Frauen in Kriegen verabschiedet, die Ines Kappert von der Böll-Stiftung im taz-Gespräch mit Patricia Hecht empört, weil auf Druck der USA ein Passus über das Recht vergewaltigter Frauen auf Abtreibung gestrichen wurde: "Erst zwingt man die Frauen, eine Schwangerschaft auch nach Vergewaltigung auszutragen. Und dann sagt man, na gut, ihr, die ihr kein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung habt, euch schützen wir besser. Das ist vergiftet. Wenn jetzt implizit festgeschrieben ist, dass selbst Vergewaltigung kein Grund ist, das Selbstbestimmungsrecht der Überlebenden in den Vordergrund zu stellen - auf welcher Grundlage soll sich die Strafverfolgung verbessern?" China und Russland haben sich enthalten.

Hillary Clinton findet in einem Washington-Post-Artikel zum Mueller-Bericht klare Worte: "Unsere Wahl wurde manipuliert, unsere Demokratie angegriffen, unsere Souveränität und Sicherheit verletzt. Dies ist die Schlussfolgerung des Berichts von Sonderberater Robert S. Mueller. Er dokumentiert eine schwere Straftat gegen das amerikanische Volk." Clinton schlägt allerdings nicht ein direktes Absetzungsverfahren, sondern öffentliche Ausschussbefragungen vor - wie seinerzeit bei Watergate: "Damals wie heute fanden sich Beweise für Korruption und Vertuschung. Sie wurden durch öffentliche Anhörungen ergänzt, die von einem Sonderausschuss des Senats durchgeführt wurden, der darauf bestand, dass das Privileg der Exekutive nicht genutzt werden könne, um kriminelles Verhalten abzuschirmen."
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Internet

Richtig dumm war eine Bemerkung von Forschungsministerin Anja Karliczek, die Ende 2018 sagte: "5G ist nicht an jeder Milchkanne notwendig." Sascha Lobo fürchtet in seiner Spiegel-online-Kolumne, dass Deutschland mal wieder einen digitalen Technologiesprung versemmelt und erklärt der Ministern, warum 5G gerade an den Milchkannen gebraucht wird: "Landwirtschaft gehört zu den digitalsten Branchen, während die Gesellschaft noch über selbstfahrende Autos debattiert, sind selbstfahrende Traktoren längst normal. Ebenso Drohnen, die sensorisch Beschaffenheit und Zustand von Feldern erfassen. Eine Besonderheit von 5G ist, dass Datenübertragung nicht nur sehr schnell funktioniert, sondern auch sehr energieeffizient. Ein mobiler Sensor mit 5G kann deshalb mit einer Batterieladung bis zu zehn Jahre lang Daten übertragen. Solche Sensoren sind nicht für Smartphones in Berlin-Mitte gedacht."

Lorenz Mrohs erzählt auf Netzpolitik, wie unzuverlässig Uploadfilter funktionieren und gibt einige Beispiele: "Das Schnurren einer Katze etwa wurde als Verletzung von urheberrechtlich geschütztem Material eingestuft, aber ebenso Vogelgezwitscher im Hintergrund eines Videos wurde moniert."
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Religion

Der Islamforscher Olivier Roy, der offenbar selbst gläubiger Katholik ist, beklagt im Interview mit  Marc-Olivier Bherer von Le Monde, dass die spirituelle Seite des Brandes von Notre Dame in Frankreich kaum zur Sprache komme. Emmanuel Macron habe in seiner Ansprache an die Bürger die Katholiken nicht mal erwähnt. Ein weiteres Krisenzeichen! "Der Brand erscheint vielen Gläubigen als eine weitere Prüfung im Kontext einer tiefen Verwirrung. Er geschah einige Tage, nachdem der emeritierte Papst Benedikt XVI. sein Schweigen gebrochen hat und offenbar voll Leidenschaft gegen den im Amt befindlichen Papst aufstand. Ein Dualismus, den die Kirche seit dem 15. Jahrhundert nicht mehr erlebt hat. Wir erleben eine Desakralisierung des Papstamtes. Es sind nicht nur Steine, die einstürzen."
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