9punkt - Die Debattenrundschau

Nicht die geringste Spur des Vertrauens

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.08.2019. Mit seinem coup de force versucht Matteo Salvini die Macht in Italien an sich reißen. Die SZ fürchtet, dass ein gekränktes Italien sie ihm nur zu gern überlassen wird. Ein Rätsel bleibt dem  Tagesspiegel dennoch das Faible der Italiener für Schurken und Ohrfeigengesichter. Der Guardian kann auch nicht mehr sagen, ob Boris Johnson blufft oder die Demokratie aushebeln will. In der NZZ setzt Hans Ulrich Gumbrecht mit dem jungen Voltaire gegen Menschheitsbeglückung auf individuelle Skepsis. Statt nur mit der weißen Mittelschicht hätte die taz in Woodstock auch gern mit Schwarzen, Armen und Unterprivilegierten getanzt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.08.2019 finden Sie hier

Europa

Die Cinque Stelle werden Matteo Salvini auf seinem Weg zur Macht bestimmt nicht mehr aufhalten, fürchtet Stefan Ulrich in der SZ, der Chef der Lega Nord ist viel zu gerissen und machtsicher. Aber Salvini agiert auch nicht im luftleeren Raum, betont Ulrich: "Italien ist ein gekränktes Land. Einst ein Kraftzentrum Europas, darbt es wirtschaftlich schon lange. Viele Alte zehren ihre Ersparnisse auf, die Jungen wurschteln sich durch oder gehen ins Ausland. Politisch hat Italien in der EU massiv an Bedeutung verloren. In der Flüchtlingskrise fühlte es sich allein gelassen. Da kam Salvini, schürte den Nationalismus und gebrauchte ihn als Balsam für die verletzte italienische Seele."

Im Tagesspiegel ringt auch Peter von Becker mit einer Erklärung für die Liebe der Italiener zu den grauenvollsten Politikern: "Kaum ein Land ist im Ausland populärer als Italien. Aber auch die innigen Liebhaber des 'bel paese', des schönen oder gar schönsten Landes, schütteln über Italiens Politik und Politiker seit langem den Kopf. Oder staunen, dass eher schurkisch wirkende Gestalten wie vormals der intrigante und auf seine Weise wohl auch genialische Giulio Andreotti oder natürlich Silvio Berlusconi, das elegante Ohrfeigengesicht, sich an der Macht gehalten haben. Trotz Mafia-Verdachts, trotz dubioser Verwicklungen, in denen es sogar um politischen Mord oder Sex mit Minderjährigen ging. Aber Italiens einst so einflussreiche Katholische Kirche hat sie alle abgesegnet, selbst den geschiedenen, regelmäßig von Huren umgebenen Magnaten S. B. Und niemand in Italiens Öffentlichkeit regt sich erkennbar darüber auf, dass unter den Regierungschefs noch nie eine Frau war (oder überhaupt zur Wahl stand)."

Boris Johnson führt kein Land, sondern eine Wahlkampagne, seufzt der Guardian, für den sich jetzt "ein perverses Brexit-Szenario" abzeichnet: "Boris Johnson verliert ein Misstrauensvotum im Parlament, weil die Mehrheit der Abgeordneten einen Austritt aus der EU ohne Abkommen ablehnt, und er wird der Königin anraten, das Wahldatum hinter den 31. Oktober zu legen - womit der Tag der Abstimmung erst dann kommt, wenn der harte Brexit ein fait accompli ist. Er würde in einer Zeit stattfinden, in der das Parlament aufgelöst ist. Ein solcher Affront gegenüber der parlamentarischen Demokratie wäre undenkbar, wenn Boris Johnson diesen Gedanken nicht befördern würde. Downing Street wollte in dieser Woche diese Möglichkeit nicht ausschließen, auch wenn man immer im Kopf behalten muss, dass Bluffen und Poltern die wichtigsten Einsätze sind, die der Premier in diesem Spiel hat." Marina Hyde bemerkt unterdes, dass Johnsons Berater Dominic Cummings nicht nur seinem Chef als oberster Antiheld den Rang abläuft, sondern auch José Mourinho ("Please don't call me arrogant, because what I'm saying is true. I think I am a Special One.")
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Ideen

Auf der Suche nach einer Aufklärung, die nicht aufs Moralisieren oder Menschheitsbeglückungs setzt, wird Hans Ulrich Gumbrecht in der NZZ bei Diderot und dem jungen Voltaire fündig, die eher einen Stil individueller Skepsis pflegten: "Von Gestalten wie Diderot und dem frühen Voltaire ermutigt, lässt sich der Vorwurf, jede Kritik an politisch korrekten Positionen sei 'anti-aufklärerisch', mit einer kontrapunktischen Konzeption von Aufklärung kontern. Unter der Annahme unaufhebbarer Komplexität und Kontingenz der Welt bleibt diese Konzeption vor allem skeptisch gegenüber allen sich als a priori 'richtig' präsentierenden Lösungen, Anleitungen und Imperativen. Ansätze zur Orientierung in konkreten Situationen mit ihren jeweiligen Problemen gewinnt die andere Aufklärung aus der Bereitschaft, sich über Unterschiede des Urteilens wie des Erfahrens zu verständigen. Dabei entsteht eine intellektuelle Kraft, die es sich leisten kann, Widersprüche wahrzunehmen und an Rückschlägen zu arbeiten - statt sich mit moralischer Selbstgerechtigkeit und kollektiven Fortschrittsversprechen selbst zu blenden."

Welt
-Autor Thomas Schmid kann zwar einige luzide Gedanken aus Theodor W. Adornos wiederaufgelegtem Text "Aspekte des neuen Rechtsradikalismus" ziehen, aber er stellt auch etwas enttäuscht ein gewisses Manko fest: "Adornos Wiener Rede enthält nicht die geringste Spur des Vertrauens in den neuen Staat. Im Grunde hat er 1967 dieselbe Botschaft wie sein Kollege Horkheimer 1939: Der Prozess der Kapitalkonzentration führt ausweglos zu neuen Deklassierungen, zu einer verfestigten, technologisch bedingten Dauerarbeitslosigkeit, zu einer allgemeinen Verelendung und zum totalen totalitären Staat. Wenn man das glaubt, muss die Situation ausweglos sein: kein Silberstreifen am Horizont. Den gab es aber wohl, wie die Geschichte der Bundesrepublik zumindest im Rückblick zeigt."
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Politik

Im taz-Interview mit Sabine am Orde erklärt der Sozialwissenschaftler David Begrich, wie sich die AfD im Osten als Bürgerrechtsbewegung inszeniert und die Bundesrepublik als untergehendes Regime karikiert. Bei Menschen der mittleren Generation erzeuge das sofortige Wiedererkennungseffekte: "Es gibt in Westdeutschland die politische Unendlichkeitserzählung vom Erfolg des Grundgesetzes. Die Mehrheit der Bevölkerung in Ostdeutschland hat aber erlebt, dass Unendlichkeitserzählungen sehr schnell an ihr Ende kommen können. Das ist ja kein Phantasma der AfD. Die Leute haben erlebt, dass ein System, das sich für das letztgültige politische System auf der Welt hielt, innerhalb von Wochen kollabiert ist. Mit dieser Erfahrung hält man es vielleicht für nicht ausgeschlossen, dass das politische System der Bundesrepublik zusammenbrechen könnte. Und dann kommen Teile der AfD und verwandeln diese Erfahrung in einen politischen Wunsch."

Die Beziehungen zwischen Japan und Südkorea verschlechtern sich. In der NZZ betont Ho Nam Seelmann, dass dies nicht nur an Handelsstreitigkeiten liegt, sondern auch an Japans unbeirrbarem Geschichtsbild: "Korea war 35 Jahre eine japanische Kolonie, aber Japan will kein Täter gewesen sein und legitimiert die koloniale Besetzung als 'Beitrag zur Zivilisation'. Japan habe, so die nationalkonservative Lesart, Korea modernisiert und verdiene Dankbarkeit dafür. Dass Korea niemals diese Deutung hinnehmen kann, liegt auf der Hand."
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Gesellschaft

Ja, ja, Woodstock war cool, geschlechterdemokratisch und ökologisch, gesteht Jan Feddersen in der taz gern ein, aber politisch anschlussfähig findet er es heute trotzdem nicht mehr. Zu viel fehlt bei aller Nostalgie im Bild des Hippie- und Protestfestivals: "Afroamerikanisches Publikum, das seinen Kampf gegen Rassismus seit Langem focht, aber für einen Zwischen-den-Trimestern-Trip nach Upstate New York keine Zeit hatte. Ebenso Menschen aus jenen Schichten, aus denen überwiegend die Soldaten für Vietnam rekrutiert wurden. Männer, die weder über das kulturelle noch über das finanzielle Kapital verfügten, sich vom Krieg in Asien freizukaufen - oder zu desertieren, etwa nach Kanada oder Europa. Es war ein bisschen so, wie es auch die Bilder von den meisten Friday-for-Future-Protesten heute zeigen: Die ihre Ansprüche auf eine neue Welt anmeldenden jungen Menschen sind klassenmäßig privilegiert - jene, die vor 50 Jahren lohnarbeitende Jobs hatten, waren für 'Woodstock' so wenig zu gewinnen wie in diesen Wochen etwa jene, die auf Berufsschulen gehen und freitags keine Zeit haben."
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