9punkt - Die Debattenrundschau

Gehörst du zu meinem Stamm oder nicht?

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.09.2021. Gemeinwohl ade! Auch der Westen wird immer tribalistischer, meint Thomas Friedman in der New York Times. In La regle du jeu setzt Bernard-Henri Lévy mit dem ihm eigenen Pathos all seine Hoffnungen für Afghanistan auf die Noblesse, die Schönheit und die Größe Ahmad Massouds. SZ, NZZ, Welt und FAZ zählen all die Themen auf, die im Wahlkampf keine Rolle spielen: Europa, Terrorismus, Abtreibung, Steuerbetrug. Linke echauffieren sich lieber über die Debatte um Max Czollek. SZ und Welt wüssten gern, warum das Verwaltungsgericht Chemnitz den Unterschied zwischen freier Meinungsäußerung und Mordaufruf nicht kennt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.09.2021 finden Sie hier

Politik

Was für eine Ironie, meint Thomas Friedman in der NY Times: Vor zwanzig Jahren machten sich die westlichen Staaten daran, den Nahen und Mittleren Osten demokratischer zu gestalten, stattdessen sind sie selbst tribalistisch geworden: "Nicht wenige demokratisch gewählte Politiker auf der ganzen Welt appellieren jetzt lieber tribalistisch an die Identität, um Unterstützung zu gewinnen, als die harte Arbeit von Kompromissen und Koalitionen in pluralistischen Gesellschaften in einer komplexen Zeit zu leisten. Wenn das passiert, wird alles zu einem Identitätsmerkmal des Stammes - das Maskentragen in der Pandemie, Covid-19-Impfungen, Gendern, Klimawandel. Ihr Standpunkt zu jedem Thema ist gleichzeitig eine Provokation für andere: Gehörst du zu meinem Stamm oder nicht? Das Gemeinwohl spielt nur noch eine geringe Rolle, und letztlich gibt es keine gemeinsame Basis, von der aus man große, schwierige Probleme angehen kann. Wir haben einmal gemeinsam einen Mann auf den Mond gebracht. Heute können wir uns kaum noch darauf einigen, kaputte Brücken zu reparieren."

Die Taliban haben die Einnahme des Pandschirtals gemeldet, doch Bernard-Henri Lévy sieht dort weiterhin alle Hoffnung für Afghanistan. Mit dem ihm eigenen Pathos besingt er in La regle du jeu seinen Helden Ahmad Massoud, den "engelsgleichen, am Kings College in London ausgebildeten" Sohn den legendären Kommandanten Ahmad Shah Massoud, der von zwei Selbstmordattentätern der al-Qaida am 9. September 2001 ermordet worden war. Aber lebt er noch? Wo ist er? "War dieser verlorene Kampf ein letztes ehrenhaftes Aufbäumen? Das glaube ich nicht. Ich glaube an die Noblesse, die Schönheit und die Größe gehört ihnen, nicht den Siegern, sondern den Besiegten. Nicht den Barbaren, sondern Ahmad Massoud, den ich gegenüber seinen Offizieren als den jungen Löwen des Pandschirtals gerühmt habe und wieder rühmen würde. Es gibt Löwen, die eine Schlacht verlieren. Das ist nicht schlimm. Denn sie bleiben Löwen. Und dann dies: Wenige Stunden nach der Siegesmeldung der Taliban der neue und spektakuläre Aufruf zum 'nationalen Aufstand' durch Massoud den Jungen. Es ist immer die gleiche Geschichte. Nie und nimmer werden Macht, Panzer oder Muskeln die Menschlichkeit bringen."

In Afghanistan lag der Frauenanteil an Universitäten zuletzt bei 20 Prozent. Das dürfte sich jetzt ganz schnell ändern, lernt Thomas Thiel, der für die FAZ die Pressekonferenz der Taliban verfolgte: Niqab ist jetzt wieder Pflicht, in den Seminaren muss Geschlechtertrennung herrschen. "Um zufällige Begegnungen zu vermeiden, sind die Unterrichtsstunden um fünf Minuten zeitversetzt. ... Eine weitere Vorschrift legt fest, dass Frauen nur von Frauen unterrichtet werden, und wo dies nicht möglich sei, von 'älteren Professoren mit gutem Charakter'. Hier liegt eine Sollbruchstelle der neuen Verordnung: Es ist allgemein bekannt, dass es in Afghanistan viel zu wenig weibliche Lehrkräfte gibt. Die Taliban können dies zum Vorwand nehmen, um Studentinnen ganz nach Hause zu schicken, sobald die internationale Beobachtung nachlässt."
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Europa

Stefan Kornelius fragt sich in der SZ entgeistert, warum Europa in diesem Wahlkampf praktisch nicht vorkommt, obwohl für uns alles von Europa abhängt. Warum fragt niemand nach, ob die verschiedenen Wahlprogramme mit der europäischen Wirklichkeit vereinbar sind? "Da steht ganz oben die Klimaneutralität, die vor allem ein europäisches Problem ist, wenn nicht ein globales. Wer der deutschen Autoindustrie bis 2030 ihre Verbrenner nimmt, der nimmt ihr auch ihre Absatzmärkte, wenn nicht zumindest in Europa Elektromobilität in allen Facetten von Ladestationen bis Datenstabilität garantiert ist. Wer die deutschen Kohlekraftwerke schneller vom Netz nimmt, braucht schneller Ersatz - oder er zahlt für französischen Atomstrom. Wer in Deutschland den CO₂-Preis anhebt, ohne für vergleichbare Produktionsbedingungen jenseits der Grenze (und weit darüber hinaus) zu sorgen, treibt Arbeitsplätze aus dem Land." Und da hat man die wirklich schwierigen und umstrittenen Fragen über die europäische Verteidigungspolitik noch gar nicht gestellt.

Die Lebensrealität von Frauen, die weltweit durch immer neue Abtreibungsverbote erschwert wird, spielt im Wahlkampf ebenfalls keine Rolle. Dabei wurde auch im europäischen Polen das Abtreibungsrecht quasi abgeschafft, wogegen bisher nur die Polinnen demonstriert haben. "Umso wichtiger, umso dringender, dass sie Unterstützung bekommen, dass sie merken, dass sie nicht allein mit ihren Anliegen sind", schreibt Lena Gorelik in der NZZ. "Es liegt an uns, jenen Solidarität zu demonstrieren, die auf die Straßen gehen, und es liegt vor allem an uns, für Aufklärung zu sorgen. Dafür zu sorgen, dass Kinder sexuell aufgeklärt werden, dass sie lernen, keine Lücken entstehen zu lassen, weil sie eine Gesellschaft bilden, in der offen über schwierige Entscheidungen wie Schwangerschaftsabbrüche gesprochen werden kann und in der diese medizinisch und psychologisch begleitet werden."

Terrorismus ist noch so ein Thema, dass im Wahlkampf nicht vorkommt. Dabei zeigt der Prozess in Paris gegen die Bataclan-Attentäter sehr deutlich, wie europäisch dieses Thema ist, schreibt Michaela Wiegel in der FAZ: "So wichtig die juristische Aufarbeitung für die französische Gesellschaft und die vielen Terroropfer ist, der Prozess wird auch prägend für den Rest der EU sein. Denn er muss die Frage beantworten, ob sich die offene europäische Gesellschaft mit ihrem Rechtssystem gegen die islamistischen Feinde der Demokratie behaupten kann." Das gilt besonders vor Hintergrund, dass mehr als die Hälfte der Franzosen sich die Todesstrafe zurückwünschen: "Die rechtsextreme Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen verspricht in regelmäßigen Abständen ein Referendum zur Wiedereinführung. Mit der europäischen Grundrechtecharta wäre das genauso wenig vereinbar wie Straflager für Terroristen. In den nächsten Monaten geht es auch darum, die zweifelnden Bürger davon zu überzeugen, dass islamistischer Terrorismus mit dem Arsenal des Rechtsstaats erfolgreich bekämpft werden kann."

Und auch die Vorwürfe gegen Olaf Scholz, als Finanzminister bei Steuer- und Bilanzbetrügern weggesehen zu haben, werden in diesem Wahlkampf nicht thematisiert, staunt Deniz Yücel in der Welt. Irgendwie haben sich die Prioritäten verschoben bei Grünen und Linken: "In ihrer Vorstellung kann einem Menschen - außer vielleicht der Corona- bzw. der Klimatod - nichts Schlimmeres widerfahren, als irgendwie diskriminiert zu werden. Deshalb gilt ihre ganze Leidenschaft einer diskriminierungsfreien Sprache, beseelt vom magisch-postmateriellen Glauben, dass man die Dinge nur korrekt benennen müsse, um Ungerechtigkeiten aus der Welt zu schaffen. Diese Linke ist auf einer Wellenlänge mit Konzernen wie Amazon, die ihre Mitarbeiter trainieren, jedwede Diskriminierung zu vermeiden, die aber fuchsig werden, wenn diese sich einer Gewerkschaft anschließen, um bessere Arbeitsbedingungen und höhere Bezahlung durchzusetzen. Die Streiks im deutschen Amazon-Zentrum in Bad Hersfeld interessierten in diesen Kreisen darum nicht halb so sehr wie etwa die Frage, wer die Gedichte von Amanda Gorman übersetzen darf und wer nicht."

Übrigens: In Norwegen haben die Sozialdemokraten die Parlamentswahlen gewonnen, meldet Reinhard Wolff in der taz. "Nach acht Jahren endet damit auch die Regierungszeit von Angela Merkels norwegischer Parteifreundin Erna Solberg. Ihre konservative Høyre machte das größte Minus, verlor nahezu ein Fünftel ihrer WählerInnen und landete bei 20,4 Prozent. Auch die übrigen drei Parteien des rechten Flügels in der norwegischen Politik waren Verlierer. Die rechtspopulistische Fortschrittspartei fuhr mit 11,9 Prozent ihr schlechtestes Wahlresultat seit 1993 ein."
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Ideen

Neokonservative wollen keine Trump-Unterstützer sein. Aber indirekt sind sie es schon, sie haben sich eben auch geändert, meint der Politologe Jan-Werner Müller in der FAZ: "Diese NeverTrumpers haben ihren eigenen Beitrag zur antidemokratischen Wende der Republikaner wenig reflektiert. Noch weniger haben sie über Widersprüche in der Entwicklung des Neokonservatismus nachgedacht: In der Innenpolitik wies man geradezu genüsslich auf die Grenzen des staatlich Machbaren hin und erhob 'Kultur' (vor allem von Minderheiten) zu einem unüberwindlichen Hindernis für noch so vernünftige Politik; außenpolitisch aber frönte man einem Machbarkeitswahn und bezichtigte jeden, der auf komplizierte lokale Verhältnisse verwies, sofort, ein illiberaler Relativist und Apologet für Menschenrechtsverletzungen zu sein."
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Gesellschaft

Das Verwaltungsgericht in Chemnitz, scheint es, kennt den Unterschied zwischen geschützter freier Meinungsäußerung und und ungeschütztem Mordaufruf nicht. Die rechtsextremen Wahlplakate mit der Aufschrift "Hängt die Grünen!" dürfen jedenfalls nach einer ersten Entscheidung des Gerichts hängen bleiben, weil anderenfalls "das kommunikative Anliegen" der Nazis "beeinträchtigt" werden könnte. In der SZ kann Kurt Kister es kaum fassen: "Wenn in einem Gemeinwesen ein Aufruf zu Mord und Totschlag - wie anders sollte die Zeile 'Hängt die Grünen' verstanden werden? - zu den scharfen, aber legitimen Mitteln der Auseinandersetzung gezählt wird, dann bedeutet dies eigentlich auch die juristische Billigung einer Vorstufe des Lynchmords."

In der Welt ist auch Frederik Schindler empört über die Gerichtsentscheidung: "Diese Mordaufrufe der Rechtsextremen müssen ernst genommen werden. Die Kleinpartei tritt immer wieder martialisch und gewaltbereit auf. Auf der bayerischen Landesliste kandidiert etwa der Rechtsterrorist Karl-Heinz Statzberger, der 2005 wegen der Planung eines Anschlags auf ein jüdisches Gemeindezentrum zu über vier Jahren Haft verurteilt worden war. Im Jahr 2015 ging man in Sicherheitskreisen von einer bedeutenden Rolle des 'III. Wegs' bei Brandanschlägen auf Asylbewerberunterkünfte aus. Gewalt ist ein integraler Bestandteil rechtsextremer Ideologie. Nach dem Mord an Walter Lübcke darf es nicht zugelassen werden, Neonazis öffentlich über die Ermordung politischer Gegner fantasieren zu lassen."

Bisher schien es eine innerjüdische Diskussion zu sein, ob Max Czollek als "Großvaterjude" zu Unrecht eine jüdische Identität beansprucht, wie ihm etwa Maxim Biller (hier) und Michael Wolffsohn (hier) vorwarfen, oder ob er zu Recht gegen eine überkommene halachische Diskriminierung angehe, wie Sasha Marianna Salzmann (hier) findet. Nun haben sich mehrere Dutzend AutorInnen hinter Czollek versammelt, um der Debatte mit einer Stellungnahme einen überraschenden Spin zu geben. Die Crème de la Creme des Marginalisierten sieht hier "eine jüdischen Stimme gegen den Faschismus" angegriffen: "Seit dem 12. August läuft im deutschsprachigen Feuilleton eine unerträgliche, vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte fassungslos machende Debatte gegen unseren Kollegen Max Czollek. Wir - jüdische und nicht-jüdische Kolleg*innen aus der Literatur- und Kulturszene, Wissenschaftler*innen, Journalist*innen, Freund*innen - wollen in aller Deutlichkeit unserem Entsetzen über Tonfall und Inhalt dieser Debatte Ausdruck verleihen." Biller und Wolfssohn als Handlanger des Faschismus - darauf wäre man auch nicht gekommen.
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