9punkt - Die Debattenrundschau

Das waren doch die Hühner

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.12.2023. Die russische Aktivistin Sasha Talaver berichtet in der taz, wie die russisch-orthodoxe Kirche gegen das selbst von Putin unterstützte Recht auf Abtreibung vorgeht. In der FR ist die Soziologin Julia Bernstein entsetzt über das Ausmaß antijüdischer Ressentiments in Deutschland. "Selbst, wenn es um Solidarität gehen sollte, redet Deutschland eigentlich nur über sich selbst", klagt die palästinensische Journalistin Alena Jabarine in der SZ. Der Spiegel schaut angewidert auf eine "weltweit gleichgeschaltete junge Elite", die sich mit Menschenschlächtern identifiziert, "weil diese vermeintlich vergleichbare Unterdrückungserfahrungen gemacht hätten." Und die FAZ überlegt, wo sie am sinnvollsten ihr Gras anbaut.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.12.2023 finden Sie hier

Europa

Buch in der Debatte

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Statt einer seriösen Migrationsdebatte haben wir nur noch "Pöbelei und Propaganda", ärgert sich Ilija Trojanow in der taz, der zum Abkühlen das Buch "Migration. 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt" des Niederländers Hein de Haas empfiehlt: "Wie der Soziologe de Haas mit unzähligen Fakten beweist, wissen die Allermeisten von uns nicht, worüber sie reden. Es hilft, sich zunächst einmal die Geschichte der Migration vor Augen zu führen: 'Allein zwischen 1846 und 1924 verließen rund 48 Millionen Europäer den Kontinent.' Mitte des 20. Jahrhunderts, nach dem Zweiten Weltkrieg, waren die Flüchtlingszahlen in Europa höher als heute. Was ist also neu? Die außereuropäische Herkunft der Migranten. Die Migrationsströme fließen nun umgekehrt. Die meisten Zuwanderer kommen auf legalem Weg." Von der Drittstaatenlösung hält er nichts: "Obwohl in Sonntagsreden unseren Unterstützern in Afghanistan mit viel Pathos dankend gedacht wurde, sind laut Spiegel erst dreizehn (13!) von ihnen im Rahmen eines 'Bundesaufnahmeprogramms' nach Deutschland gekommen. Dabei sollten pro Monat rund tausend Menschen legal einreisen dürfen. Ob für die Diskrepanz der Zahlen Bürokratie, Schlamperei oder Zynismus verantwortlich sind, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle."

Lucien Scherrer weist in der NZZ darauf hin, dass sich Gewalttaten von Migranten in Frankreich häufen. Wie im Fall des Jugendlichen Thomas, der im November auf einem Volksfest erstochen wurde, werde die rassistische Motivation der Taten häufig verschleiert. Meistens empöre man sich in den Medien mehr über die Instrumentalisierung der Taten von rechts. Dabei kann es keinen Zweifel geben, so Scherrer, dass hier ein großes gesellschaftliches Problem vorliegt: "Maghrebiner und Afrikaner sind in der Kriminalitätsstatistik übervertreten, gleiches gilt für Muslime in Gefängnissen. Offizielle Zahlen gibt es nicht, aber das Justizministerium gibt jeweils bekannt, wie viele Häftlinge zum Ramadan Spezialwünsche anmelden. In den letzten Jahren waren es über 25 Prozent...Im Buch 'Les territoires perdus de la République' wurde bereits vor zwanzig Jahren beschrieben, wie Jugendliche vornehmlich maghrebinischer Herkunft jüdische Kinder misshandeln, Frauen aus muslimischen Familien drangsalieren und 'dreckige Franzosen' mobben. Die Täter, das geht ebenfalls aus dem Buch hervor, waren häufig Franzosen. Aber sie hassten Frankreich und die Franzosen."

Die Mitte löst sich auf, diagnostiziert der niederländische Schriftsteller Arnon Grünberg nicht nur mit Blick auf den Rechtsruck in den Niederlanden im Guardian: "Allzu leicht wird die Mitte als elitär dargestellt, die keine Rücksicht nimmt auf die Belange des sogenannten Normalbürgers, manchmal sogar als korrupter Ausläufer der Geschäftswelt oder als Stellvertreter ausländischer Mächte. Einige dieser Vorwürfe sind berechtigt. Die Niederlande haben erlebt, dass Regierungsbeamte die Politik verließen, nur um Lobbyisten für die Branche zu werden, die sie früher regulieren sollten. Nicht gut. Aber die gesamte Mitte zu entlassen, ist ein antidemokratischer Reflex, der nur Schaden anrichten kann. Dieser Reflex ist auch im linken Flügel vorhanden: Einige fortschrittliche Analysten, Denker und Politiker schienen in den letzten Jahren den starken Wunsch zu verspüren, das niederländische Universum zum schlechtesten aller möglichen Universen zu erklären, zweifellos in der Hoffnung, die gewünschte Revolution herbeizuführen. Sie wollen nicht einsehen, dass ihre Rhetorik der progressiven Sache nicht nützt, sondern antidemokratischen und rechtsextremen Kräften neue Munition und neue Impulse liefert."

Die in Wien studierende russische Aktivistin Sasha Talaver skizziert im taz-Gespräch, wie sehr sich die Situation von Frauen in Russland verschlechtert hat - etwa, wenn es um Abtreibungen geht. Einst waren die Abtreibungsgesetze in Russland als Erbe der Sowjetunion sehr liberal, heute bekommen Kliniken mehr Mittel, je mehr Frauen sie davon überzeugen konnten, keine Abtreibung durchzuführen, erklärt Talaver: "Die treibende Kraft dahinter ist wider Erwarten nicht die russische Regierung. Selbst Wladimir Putin sagte noch 2017 aufgrund seiner sowjetischen Prägung, dass Abtreibungen auf keinen Fall verboten werden dürfen. Diejenigen, die ein Verbot von Abtreibungen fordern, sind die russisch-orthodoxe Kirche sowie andere gesellschaftliche Organisationen, wie die Stiftungen 'Russische Einigkeit' oder 'Frauen für das Leben'. Erst in den letzten paar Jahren fallen diese Initiativen auf fruchtbaren Boden. Sie bekommen mehr Unterstützung, auch von regionalen Behörden." Und: Während Männer in der russischen Armee als Helden gefeiert werden, werden Frauen "zu sexuellen Kontakten mit Vorgesetzten oder Kollegen gedrängt. Im Volksmund gelten Frauen an der Front als 'Prostituierte', denn eine Frau könne nie 'rein' von der Front zurückkehren."

Auf 200 bis 400 Tonnen im Jahr wird der Konsum von Cannabis in Deutschland geschätzt, aber in der SPD wächst der Widerstand gegen die Legalisierung, schreibt Claudius Seidl, der im FAZ-Feuilleton darüber nachdenkt, wie das Gesetz so sinnvoll umgesetzt werden könnte, dass der Mafia der Geldhahn zugedreht werden kann. Denn "es müssten, damit diese Menge produziert werden kann, ganze Kleingartenkolonien zu Hanfplantagen werden. (…) Man müsste über andere Lieferketten nachdenken: Aber wenn der deutsche Staat in Marokko oder im Libanon exterritoriale Plantagen pachtete, wäre das womöglich Spätkolonialismus. Große Felder in Deutschland müsste man bewachen, Gewächshäuser wären nicht gut fürs Klima. Und dann gibt es noch das EU-Recht, mit dem all das nur schwer vereinbar ist. Es ist also einfach und im Prinzip richtig zu sagen: Cannabis wird legalisiert, dann gibt es keinen illegalen Handel mehr. Es ist in der Praxis aber eine komplizierte Sache. Man muss es trotzdem tun, nicht weil es leicht ist, sondern weil es schwierig ist."
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Politik

Mit der Ausdehnung der Militäroffensive auf den südlichen Gaza-Streifen hat Netanjahu "einen gefährlichen und törichten Pfad eingeschlagen", warnt Stefan Kornelius in der SZ. Während das iranische Regime auf eine Verwicklung der USA in das Kriegsgeschehen spekuliere, ignoriere der Premierminister die Rufe der amerikanischen Regierung nach Mäßigung aus politischem Kalkül, so Kornelius: "Dieser Krieg nähert sich jetzt mit rasendem Tempo seinem politischen Dreh- und Angelpunkt: dem israelischen Premierminister. Benjamin Netanjahu verteidigt nicht nur ein überfallenes Land, er verteidigt seinen eigenen letzten politischen Zufluchtsort. Er eskaliert den Krieg in verantwortungsloser Weise, um das Urteil über seine eigene Rolle bei dessen Ausbruch hinauszuzögern. Schon spricht er davon, dass die Kämpfe noch monatelang anhalten könnten. Spekuliert er etwa auf seine Errettung durch eine Rückkehr Donald Trumps?"

Quynh Tran sendet in der FAZ eine Reportage aus Dschenin, für viele Palästinenser "Bastion des Widerstands", für die israelische Armee "Hochburg des Terrorismus". "Ein Sprecher der israelischen Armee erklärte der FAZ, dass es in der Region um Nablus und Dschenin eine neue Generation von jungen Männern gebe, die sich dem bewaffneten Kampf verschrieben habe. Eigentlich sei nach dem Osloer Abkommen die Palästinensische Autonomiebehörde für die Terrorbekämpfung verantwortlich. Weil sie aber insbesondere in den Flüchtlingslagern die Kontrolle verloren habe, müsse die israelische Armee einschreiten. Was die Strategie im Westjordanland ist, darüber konnte er nicht viel sagen.  (…) Nur eines: 'Die Hamas will es auch im Westjordanland brennen sehen!' Najat, Projektkoordinatorin am 'Women's Program Centre' des Flüchtlingslagers, will nur, dass Ruhe einkehrt. 'Alle sprechen über Gaza, aber auch wir werden bombardiert', sagt sie."

Der Politikwissenschaftler Andreas Fulda mahnt in der NZZ, die Gefahr eines Angriffs auf Taiwan von chinesischer Seite nicht zu unterschätzen. Xi Jinping habe eine sehr hohe Risikobereitschaft und bereite US-Geheimdiensten zufolge die Volksarmee auf eine solche Attacke vor, so Fulda: "Was kann getan werden, damit dieses Szenario hoffentlich nie eintritt? Auch wenn Europa in Ostasien keine eigene sicherheitspolitische Rolle zukommt, so sollten die Europäer den USA den Rücken freihalten. Das bedeutet, dass von europäischer Seite viel mehr getan werden muss, damit die Ukraine den Krieg gewinnt. Eine Niederlage Putins würde Xi zeigen, dass sich imperiale Angriffskriege nicht lohnen. Die USA brauchen diese Arbeitsteilung mit Europa, damit sie genügend Kapazitäten haben, den Status quo in der Taiwan-Strasse mithilfe von militärischer Abschreckung aufrechtzuerhalten."
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Gesellschaft

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Die Soziologin Julia Bernstein ist im FR-Interview mit Klaus Walter entsetzt über das Ausmaß der "antijüdischen Stimmung" in Deutschland. Dass die deutschen Ressentiments gegen Juden allerdings nie wirklich verschwunden waren, weiß sie schon lange, sagt sie. In ihrem Buch "Zerspiegelte Welten. Antisemitismus und Sprache aus jüdischer Perspektive" schreibt sie über den alltäglichen Antisemitismus, der ihr selbst oft begegnet ist: "Ja, da gab es eine Frau, die ich sehr mochte, die ich für sehr reflektiert hielt... Eines Tages hat sie gesagt, dass sie gestern an mich denken musste. Also habe ich gefragt, wieso. Und sie meinte, 'ich war gestern auf einem Bauernhof, da habe ich gesehen, wie Hühner geschlachtet werden. Da musste ich an dich und an den Holocaust denken'. Ich war sprachlos und meinte, 'das waren doch Hühner!' Für meine Bekannte war das logisch, so eine Brücke zu bauen. Und ich konnte nicht in Worte fassen, wie unmöglich dieser Vergleich mit Tieren war, wie es sich angefühlt hat, auf einmal zum Darsteller einer rührseligen Seifenoper oder einer Horrorgeschichte zu werden."

Die palästinensische Journalistin Alena Jabarine schreibt in der SZ derweil einen persönlichen Artikel zur Situation der Palästinenser in Deutschland. Seit dem 7. Oktober würden sie weitgehend aus dem öffentlichen Diskurs verbannt, palästinensische Kultur gelte generell als etwas Bedrohliches: "Ich vermisse fundierte Analysen. Ich vermisse aber auch, dass betroffene Palästinenser nach ihrer Expertise gefragt werden. Das würde die Debatten in Deutschland nicht nur bereichern, sondern überhaupt erst komplettieren. Es ist grotesk, wie stattdessen über Menschen gesprochen, ihr Handeln, ihre Gefühlslage analysiert wird, ohne sie einzubeziehen. Warum ist das so? Vielleicht ist es die deutsche Misere: Selbst, wenn es um Solidarität gehen sollte, redet Deutschland eigentlich nur über sich selbst."

Auf Zeit Online führt Andreas Speit einen Report des Rechtsextremismus-Forschers Jan Rathje an: Dieser warnt, dass die Gefahr durch rechtsextreme Gruppen wie "Reichsbürger" und "Querdenker" immer noch unterschätzt wird. Das habe auch mit unzureichenden Begrifflichkeiten zu tun: "Rathje kritisiert nun, dass mit der allgemein verwendeten Kategorie 'Reichsbürger und Selbstverwalter' nicht genau genug beschrieben werde, mit was für einem Milieu man es da zu tun habe. Diese Kategorie sei vielmehr eine 'künstliche Abtrennung von rechts'. Während der Pandemie hätten sich jedoch alte Reichsideen bis ins Querdenken-Milieu verbreitet. Rathje schlägt als neuen Begriff 'verschwörungsideologischer Souveränismus' vor. Denn allen dieser Gruppen sei gemein, dass sie eine individuelle oder Volkssouveränität anstrebten und damit eine Ordnung, die sie selbst als natürlich verständen und die gegen die 'herrschende gesellschaftliche und politische Ordnung' wieder hergestellt werden müsse."
Archiv: Gesellschaft

Ideen

Nein, die Anti-Israel-Proteste, die nach den amerikanischen Universitäten auch die deutschen erreichen, haben wahrlich nichts mit den 1968er-Protesten zu tun, schreibt Philipp Oehmke angewidert im Spiegel: "In der Auseinandersetzung zwischen einer global-diversen Studentenelite von Harvard über Oxford bis zur UdK und dem Rest der Bevölkerung liegt so viel irrationaler Hass, dass anders als Achtundsechzig eine Verständigung kaum noch möglich scheint. (...) Anders als in den sechziger Jahren prallen heute nicht weit voneinander entfernte politische Milieus und Generationen (linke Studenten gegen rechte Altnazis) aufeinander. Stattdessen spielt sich ein Großteil der Auseinandersetzung innerhalb des linksprogressiven Milieus ab, was den Hass nur verstärkt: Ein klassisches linkes Establishment verzweifelt an einer an Identitätspolitik und 'Colonial Theory' geschulten, durch TikTok und Instagram weltweit gleichgeschalteten jungen Elite, die ihre eigenen Kränkungen in einer als immer härter empfundenen Welt auf politische Konflikte überträgt. Und die auch nicht davor zurückschreckt, sich mit Menschenschlächtern und Vergewaltigern zu identifizieren, weil diese vermeintlich vergleichbare Unterdrückungserfahrungen gemacht hätten."
Archiv: Ideen

Kulturpolitik

"Denunziatorisch und höhnisch" nennt die Historikerin Gesine Krüger auf geschichtedergegenwart.ch das Argument, die Benin-Bronzen seien "am Hof von Sklavenhändlern hergestellt worden, das Material mit dem Blut von Sklaven gekauft worden, und bei dem heutigen Herrscherhaus in Benin City handele es sich um die direkten Nachfolger von Sklavenhändlern, die aufgrund ihrer eigenen Geschichte kein Recht an den Kunstwerken hätten." Zum einen gebe es längst eine Aufarbeitung der Geschichte in Nigeria, zum anderen treffe die Anklage die Falschen, meint sie: "Dass sich heutige (kulturelle) Königtümer in vorkolonialer Tradition sehen und damit auch in einer Tradition mit Sklavengesellschaften, hängt zentral mit der Geschichte des Kolonialismus zusammen, der neben der Entmachtung einheimischer Herrscherhäuser auch die Geschichtslosigkeit afrikanischer Gesellschaften propagierte. Zugleich ist es royaler Geschichte eigen, nicht mit der eigenen Tradition zu brechen - oder hat sich das englische Königshaus von seiner imperialistischen Vergangenheit losgesagt?"
Archiv: Kulturpolitik