9punkt - Die Debattenrundschau

Das neue Spiel mit Ähnlichkeiten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.02.2024. Die französische Russland-Historikerin Françoise Thom will im Gespräch mit der FR Anzeichen einer Putin-Dämmerung erkennen, und sie beleuchtet die Ursprünge der französischen und deutschen Russophilie. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger spricht sich in der taz gegen ein AfD-Verbot aus. Daily Mail stellt einen neuen Bericht zur sexuellen Gewalt der Hamas-Terroristen am 7. Oktober vor. Ijoma Mangold ist in der Zeit nicht wohl beim kommenden Demokratiefördergesetz, mit dem sich der Staat seine Zivilgesellschaft gleich selber fabriziert.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.02.2024 finden Sie hier

Europa

Für Putin ist Alexej Nawalnys Tod der "grausigste persönliche Triumph in seiner 24-jährigen Amtszeit", schreibt Michael Thumann in der Zeit, aber noch grausiger scheint Thumann, dass es die Leute hierzulande nicht zu kümmern scheint. Putin stehe nach einer Umfrage für die hiesige Bevölkerung nur an siebter Stelle der größten Bedrohungen, "weit hinter den Migrationsproblemen. Andere EU-Nationen wie Italien sehen das ganz ähnlich. Das dürfte eine Fehleinschätzung sein. Die Radikalisierung des Systems Putin ist keine innerrussische Angelegenheit. ... Insbesondere die baltischen Staaten sind im Visier der russischen Führung. Wladimir Putin kritisierte vor zwei Monaten erneut den Umgang Lettlands mit seiner russischsprachigen Bevölkerung: 'Wenn sie sich weiter so schweinisch gegenüber der Bevölkerung benehmen, dann werden sie bald die Vergeltungsmaßnahmen zu spüren bekommen.'"

Die französische Russland-Historikerin Françoise Thom will im Gespräch mit Stefan Brändle von der FR Anzeichen einer Putin-Dämmerung erkennen. Sie nimmt an, dass Putin durch eine Palastrevolution abserviert wird, sobald er seine Geländegewinne in der Ostukraine konsolidiert hat - wobei sie nicht viel Hoffnung auf seine Nachfolger setzt. Außerdem spricht Thom auch über die Russophilie in Deutschland und in Frankreich, die unterschiedlich geprägt ist: "In Deutschland gibt es seit dem Vertrag von Rapallo von 1922 eine russophile Lobby. Die Wirtschaft mit Kanzler Schröder an der Spitze blieb es weitere hundert Jahre lang. Zudem vermochte Putin die deutschen Schuldgefühle seit dem Zweiten Weltkriegen sehr gut auszunützen. In Frankreich waren dagegen eher die Intellektuellen russophil, und zwar aus purem Antiamerikanismus. Dieses Relikt aus der Ära des Parti Communiste Français (KPF) ist immer noch sehr stark. Es wird unterstützt durch Politiker wie Nicolas Sarkozy, und genährt durch die russische Propaganda, laut der Frankreich nicht frei sei, sondern abhängig von den USA, wie ihr Pudel."

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesjustizministerin a. D., hält in der taz ein Verbot der AfD für juristisch schwer zu realisieren, aber auch für politisch verfehlt, denn "das Denken in den Köpfen bliebe bestehen. Eine neue Parteigründung wäre nicht ausgeschlossen. ... Wie also kann man der AfD und ihren Vertretern auf politischer Ebene begegnen? Was kann man ihrem Polarisieren, Radikalisieren und Desinformieren entgegenstellen? Wie so oft ist fehlende oder fehlgeleitete Kommunikation das Kernproblem. Schon frühere Bundesregierungen äußerten sich zu hochsensiblen Themen zu spät oder überließen die Kommunikation allein den Regierungssprechern. Das ermöglichte es der AfD, diese Themen frühzeitig mit destruktiven Narrativen zu besetzen."

Bülent Mumay setzt in der FAZ seine Chronik des türkischen Niedergangs unter dem islamistischen Autokraten Erdogan fort. Die Türkei verliert Bevölkerung, erstens wegen einer sinkenden Geburtenrate (jetzt 1,5), die aus der Krise zu erklären ist, zweitens wegen des Exodus der Qualifizierten, übrigens nicht nur nach Deutschland: "Auch die Einreisen türkischer Staatsbürger in die USA über Mexiko erreichten im vergangenen Jahr ein Rekordniveau. Mehr als 50.000 türkische Bürger flogen zuerst nach Mexiko, um von dort aus die Grenze zu den USA illegal zu Fuß zu überqueren." Erdogan versucht unterdessen die kommenden Kommunalwahlen zu manipulieren, vor allem gegen den populären Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu: "All seinen Anstrengungen zum Trotz deutet keine Meinungsumfrage auf einen Sieg für Erdogans Partei in den Großstädten hin, auch nicht in Istanbul. Das Geschehen der letzten Tage aber lässt uns besorgt fragen: Wird das altbekannte Szenario neu aufgelegt? Diverse Terrorgruppen, die zuletzt nicht durch Aktivitäten aufgefallen waren, vergossen Blut in Istanbul. Zunächst stürmten IS-Militante den Gottesdienst in einer Kirche und töteten eine Person. Was für ein Zufall: 47 Tage vor dem Anschlag waren die Terroristen im Prozess wegen einer anderen Sache freigekommen."
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Gesellschaft

Das von der Bundesregierung geplante Demokratiefördergesetz bezweckt eine Art Verbeamtung der Zivilgesellschaft (unsere Resümees). Organisationen wie die "Neuen deutschen Medienmacher" oder Meron Mendels "Bildungsstätte Anne Frank" müssten dann nicht alle paar Jahre neue Gelder beantragen und sich lästigen Evaluierungen unterziehen, sondern würden dauerhaft finanziert. Ijoma Mangold von der Zeit ist nicht ganz wohl dabei. "Kommt es zu dem geplanten Gesetz, wird die Exekutive entscheiden, welche Vereine und Organisationen in den Genuss der Steuergelder kommen. Das treibt den Schulterschluss zwischen Regierung und Nichtregierungsorganisationen stärker voran, als es für die urliberale Trennung von Staat und Gesellschaft bekömmlich ist."
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Geschichte

In der FR erinnert Arno Widmann an die Gründung des "Reichsbanner Schwarz Rot Gold" vor hundert Jahren, also des Wehrverbands der demokratischen Parteien in der Weimarer Republik. Mit ungefähr drei Millionen Mitgliedern war er der damals größte Wehrverband. "Wir sprechen heute wieder von 'wehrhafter Demokratie'. Damals hatte das einen deutlich härteren Klang. Erstens ging es tatsächlich auch um Straßenkampf. Zweitens aber durfte Deutschland - das waren die Bestimmungen des Versailler Vertrages - nur über ein sehr limitiertes Kontingent an bewaffneten Truppen verfügen. 'Wehrhaft' war also nach innen und nach außen eine riskante Ansage. Sie war außerdem auch noch eine Misstrauenserklärung gegenüber der Reichswehr, der man immer mehr zutraute, sich im Zweifelsfall gegen die Republik zu stellen. Die Millionen überzeugten Republikaner des Reichsbanners waren so etwas wie eine Schutztruppe der Weimarer Republik. Sie waren aber natürlich zunächst einmal der Beleg dafür, dass Weimar nicht zum Scheitern verurteilt war."
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Urheberrecht

Rechteverwerter und Kulturindustrien wollen von den AI-Firmen, die sich aus dem Fundus der Kultur bedienen, Tantiemen. Die Klage der New York Times zeigte, dass AI tatsächlich wörtliche Passagen übernimmt. Aber das ist nicht das Wesentliche, schreiben die beiden Juristen Jannis Lennartz und Viktoria Kraetzig ausgerechnet in der FAZ. Die Urheberrechtsklagen gegen AI seien "der Versuch, die Logik des Kopierens auf das neue Spiel mit Ähnlichkeiten zu übertragen". Aber die AI lege "eine Abkehr von der Selbstverständlichkeit des geistigen Eigentums" nahe, "von der Vorstellung, dass alle Kultur in eigentumsanalog gedachten Rechten einzupanzern ist. Weil viel von dem, was mit Bild- und Tongeneratoren hergestellt wird, nicht urheberrechtlich schutzfähig ist und damit von anderen beliebig weiterverwendet werden kann, vergrößert KI die digitale Allmende. Gemeinfreie zeitgenössische Kunst - das hat es seit der Goethe-Zeit nicht mehr gegeben."
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Politik

Die "Association of Rape Crisis Centers" in Israel hat einen neuen Bericht über sexuelle Gewalt am 7. Oktober herausgebracht, aus dem James Reynolds in der Daily Mail ausführlich zitiert. "In einem Überblick über die Ergebnisse heißt es: Die Hamas-Terroristen setzten sadistische Praktiken ein, um den Grad der Erniedrigung und des Terrors, der mit sexueller Gewalt einhergeht, zu verstärken. Viele der Opfer von Sexualverbrechen wurden gefesselt aufgefunden. Die Genitalien sowohl von Frauen als auch von Männern wurden brutal verstümmelt, und manchmal wurden Waffen in sie eingeführt. Die Terroristen begnügten sich nicht mit Schusswaffen, sie verstümmelten auch Geschlechtsorgane und andere Körperteile mit Messern. In den Zeugenaussagen wurde unter anderem berichtet, dass Hamas-Bewaffnete wiederholt auf eine verletzte Frau einstachen, während sie sie vergewaltigten; dass den Opfern Nägel, Granaten und Messer in ihre Geschlechtsorgane eingeführt wurden; und dass Überlebende, die vor dem Festival flohen, Mädchen sahen, 'deren Schambein einfach gebrochen war, weil sie so oft vergewaltigt wurden'." Hier die New York Times zum Thema.

"Wir haben erwartet, dass Frauenorganisationen nach solchen Berichten ihre Stimme erheben", sagt die israelische Oppositionspolitikerin Shelly Tal Meron im Gespräch mit Erica Zingher in der taz. "Aber alle waren still. Ich habe Briefe an UN Women und andere Frauenrechtsorganisationen geschrieben. Sie haben nicht geantwortet. Wir leben im Jahr 2024. Frauen sollte geglaubt werden." Die Politikerin sagt auch, dass sie sich eine Ablösung Benjamin Netanjahus wünscht: "Der Premierminister will Premierminister bleiben. Er wird alles in seiner Macht Stehende tun, um zu verhindern, dass das israelische Volk ihn und seine Regierung ablöst. Deshalb hält er auch an Extremisten in seiner Regierung fest. Er weiß, dass er sie braucht, um an der Macht zu bleiben."

Ebenfalls in der taz schildert Jannis Hagmann die Lage in Gaza. "Ein Problem, das sich Hilfsteams in Gaza stellt: Je schlimmer die Lage, desto schwieriger wird es, Güter zu verteilen. Von 'Crowd-Dynamiken' spricht Sebastian Jünemann von der Berliner Organisation Cadus, der selbst bis Freitag in Gaza war. 'Wenn es Lebensmittel gibt, versuchen die Leute sofort, gewaltsam an die Lieferungen zu kommen.'" Die Hilfsorganisationen fordern eine sofortige Waffenruhe und eine weitere Finanzierung der mit der Hamas zusammenarbeitenden UNRWA.
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Medien

Das heutige Titelbild des Zeit-Magazins. "Ich finde es nicht richtig, dass man sich nur auf den 7. Oktober fokussiert." Das Magazin veranstaltet eine Reihe Gespräche "über Herkunft und Identität". Fünf Deutsch-Palästinenser sprechen Mariam Lau und Annabel Wahba über ihre Community und den Krieg in Gaza. Unter anderm äußert sich hier der liberale Religionspädagoge und Professor Mouhanad Khorchide.
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Stichwörter: 7. Oktober

Kulturpolitik

Harry Nutt berichtet seltsamerweise als einziger in der Berliner Zeitung über eine Anhörung im Kulturausschuss des Deutschen Bundestages zum Thema Antisemitismus im Kulturbetrieb. "Gute Argumente wechselten sich ab mit Schlagworten", schreibt er: "Schnell fielen Stichworte wie Leitfaden, Antisemitismusklausel und der sogenannte 'Code of Conduct', den Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) erarbeiten lässt. Als kulturpolitisch Verantwortliche sind sie und die jeweiligen Minister auf Landesebene bemüht, Problembewusstsein und Handlungsbereitschaft zu signalisieren. Hat ein erkennbarer Bewusstseinswandel eingesetzt oder haben wir es mit beflissenen Scheinaktivitäten zu tun? Letzteres unterstellte Gitta Connemann (CDU) der Kulturstaatsministerin. Bislang seien von ihr vor allem Plattitüden zu vernehmen gewesen."
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