9punkt - Die Debattenrundschau

Hier hat sich etwas verschoben

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.02.2024. Morgen vor zwei Jahren überfiel Putin die Ukraine. Heute erscheint das autoritäre Russland so stark wie eh und je, während die liberalen Demokratien schwächer werden, notiert die taz. Die Welt attackiert die Putin-Knechte von der AfD. Im Perlentaucher glaubt Richard Herzinger nicht, dass die um ihren Glamour bekümmerten arabischen Despotien auch nur im mindesten an den Palästinensern interessiert sind. Und die SZ fragt: Was ist mit den Ruhrbaronen? Sie sind links, sie sind rechts, und sie lancieren alle wichtigen Debatten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.02.2024 finden Sie hier

Europa

Morgen vor zwei Jahren hat Putin seinen Krieg gegen die Ukraine entfesselt. Eine Zeitlang hoffte die Welt auf eine ukrainische Gegenoffensive, doch nun sieht es so aus, als sei das Land von seinen Verbündeten im Stich gelassen worden, resümiert Barbara Oertel in der taz: "Die Hoffnung auf die wie ein Mantra beschworene und versprochene Unterstützung der Verbündeten weicht zunehmender Verunsicherung. Ein Finanzpaket von knapp 56 Milliarden Euro blockieren die Republikaner im US-Repräsentantenhaus - Ausgang offen. Auch die EU hinkt ihren Zusagen hinterher. Von einer Million Artilleriegeschossen könnte bis Ende März nur die Hälfte geliefert sein." Und Anastasia Magasowa ergänzt: "Nach zwei Jahren brutaler Invasion in der Ukraine ist das autoritäre Russland so stark wie eh und je, während die liberalen Demokratien schwächer werden."

Wir zur Illustration stimmte der Bundestag gestern gegen einen CDU-Antrag, der eine Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern in die Ukraine forderte. Die finnische Sicherheitsexpertin Minna Alander erklärt im Gespräch mit Tanja Tricarico von der taz, warum das so wichtig gewesen wäre: "Es wäre dann möglich, die Brücke zur Krim zu zerstören und militärische Infrastruktur dort zu eliminieren. Die Krim ist für Russland ein wichtiger Punkt, um die Ukraine anzugreifen. Auch hier bleibt die Frage: Ist Deutschland bereit, die Ukraine so weitgehend zu unterstützen, dass Russland tatsächlich an weiteren Angriffen gehindert werden kann?"

Der in Deutschland lehrende belarussische Historiker Alexander Friedman registiert ebenfalls in der taz vermehrt antisemitische Töne bei Putin. Der Krieg in Gaza "wird von Moskau genutzt, um die vermeintlich humane und behutsame russische Kriegsführung dem israelischen 'totalen Krieg' gegenüberzustellen. Im Umlauf sind Völkermordvorwürfe und von Putin besonders beliebte Vergleiche zwischen der nationalsozialistischen Leningrader Blockade und der israelischen Gazapolitik."

"Wir brauchen die Unterstützung der Welt mehr denn je", fleht im Tagesspiegel Olga Rudenko, Chefredakteurin von The Kyiv Independent: "Das Haupthindernis auf dem Weg zum Sieg ist nicht Russlands militärische Stärke. Unser größter Feind ist vielmehr der Mythos von Russlands imperialer Macht und Unbesiegbarkeit. Ja, Russland ist ein großes Land mit großen Ressourcen. Aber es ist auch korrupt und ineffizient. Die Ressourcen und die militärische Stärke des Westens übertreffen die Russlands bei weitem. Alles hängt von der Effektivität des Westens und seinem Willen ab, Russland zu besiegen. Wenn er das hat, hat Russland keine Chance. Der Kreml weiß das - deshalb verbreitet er Propaganda, um Unruhe zu stiften und uns gegeneinander auszuspielen."

Heribert Prantl laviert in der SZ indes lange herum, bis er schließlich zum Punkt kommt: Verhandlungen mit Putin müssen irgendwann sein, meint er: "Die Erwägung, mit einem Staatsverbrecher zu verhandeln, wenn er denn die Bereitschaft dazu hätte, ist unmoralisch; sie wird verdammt von denen, die darin einen Verrat an Freiheit, an Werten und an Nawalny sehen. Aber Putin ist nicht Hitler. Und es ist auch unmoralisch, die Opfer eines jahrelangen Krieges einfach billigend in Kauf zu nehmen. Es geht um die Abwägung von Unmoralitäten."

Geradezu "obszön" findet Deniz Yücel in der Welt, dass sich der AfD-Vorsitzende Tino Chrupalla nach der Ermordung Nawalnys darüber echauffierte, dass "bereits feststeht, wer für diesen Tod verantwortlich gemacht wird". Aber irgendwie kann man Chrupalla auch dankbar sein, meint Yücel: "Dankbar dafür, dass der Malermeister aus Sachsen stulle genug ist auszuplappern, wofür Alexander Gauland und Alice Weidel und sogar Björn Höcke zu clever sind: dass es sich bei der AfD eben nicht um eine bürgerlich-konservative Partei handelt. Ihre Anmaßung, die Parole der DDR-Bürgerbewegung ('Wir sind das Volk') zu kapern und ihre Klagen über eine angebliche 'DDR 2.0' können nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Partei nicht in der Tradition der friedlichen Revolution steht. Gerade im ostdeutschen Parteiflügel, zu dem Chrupalla gehört, träumt man vielmehr von einer Art DDR minus Marxismus: autoritär, übersichtlich, deutsch - nach dem Vorbild der postsozialistischen Diktatur Putins, der man sich genauso ausliefert wie einst die SED dem 'sozialistischen Bruderstaat' (und von dem man sich zumindest im ideologischen Sinne so füttern lässt wie die DDR von der Sowjetunion). Patriotisch ist das nicht."

Wir müssen das Bundesverfassungsgericht "sturmfest" machen, befürchtet der Jurist und Ex-FDP-Innenminister Gerhart Baum im großen SZ-Gespräch mit Blick auf Ungarn, Polen oder die Türkei: "Es hat sich in Deutschland in langen Jahren ein Rechtsextremismus entwickelt, der gefährliche Elemente des Rassismus enthält. Die Politik hat ihn lange sträflich unterschätzt, obwohl er sich in Netzwerken, nicht nur in der AfD, sondern auch in anderen Teilen der Gesellschaft, etabliert hat. Gott sei Dank rütteln die Bürger jetzt die Öffentlichkeit auf mit Bekenntnissen zu unserer Demokratie. (…) Unsere Demokratie, die Verfassungsfeinden so viele Spielräume eröffnet, muss wehrhaft sein."
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Politik

Gestern feierte die Zeit die megalomanen Bauprojekte des saudischen Prinzen Mohammed bin Salman (unser Resümee). Heute äußert Richard Herzinger in seiner Perlentaucher-Kolumne Zweifel, ob die arabischen Despotien etwa als Garantiemacht für einen Palästinenserstaat taugen, denn "im Zeichen ihrer 'Modernisierungs'-Offensive hat die neue Despotengeneration das Interesse am Schicksal der Palästinenser gänzlich verloren. Weil in ihren Gesellschaften jedoch nach wie vor ein extremer Hass gegen Israel grassiert, sind die arabischen Führer weiterhin zu Lippenbekenntnissen für die palästinensische Sache gezwungen. In Wahrheit gilt sie ihnen aber nur noch als Ballast, der ihren glamourösen Aufstieg zu globalen Playern behindert."
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Kulturpolitik

Im Tagesspiegel hatte Claudia Roth in einem Gastbeitrag vergangene Woche bereits Einblicke gegeben, wie sie die deutsche Erinnerungskultur aktualisieren will (Unser Resümee). Ein Entwurf des sogenannten "Rahmenkonzepts Erinnerungskultur" stand kurzzeitig auf der Seite des Kulturministeriums online, wurde aber wieder gelöscht, weiß Sven Felix Kellerhoff, der für die Welt noch einen Blick in das Papier werfen konnte - und aufhorcht. Neben dem Holocaust und der DDR-Diktatur sollen künftig auch deutsche Kolonialverbrechen sowie Migration ihren Platz haben. Zwar soll das Gedenken an die Opfer der NS-Zeit auch künftig im Mittelpunkt stehen, dem Kolonialismus werde aber "eine bedeutende Rolle zugewiesen - obwohl Inkompatibilitäten durch die seit einigen Jahren stattfindende Relativierung im sogenannten postkolonialen Diskurs sogar klar benannt werden: 'Schablonenhaft beschrieben scheinen sich einerseits die anti-antisemitische narrative Verknüpfung von Holocaust und dem Existenzrecht Israels sowie andererseits die antirassistische Verknüpfung historischer Kolonialverbrechen und ihrer gegenwärtigen neokolonialen Kontinuitäten gegenüber zu stehen.' Nach Ansicht der Kulturstaatsministerin ist die besondere, historisch bedingte Verbindung zwischen der Bundesrepublik und dem Staat Israel also lediglich eine 'narrative Verknüpfung'. Man muss nicht das - in der Formulierung ebenfalls fragwürdige - Bekenntnis von Angela Merkel in der Knesset 2008 zitieren: 'Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes', um zu erkennen: Hier hat sich etwas verschoben."
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Gesellschaft

In ihem Buch "Unorthodox" erzählte Deborah Feldman beeindruckend von ihrer Selbstbefreiung aus einer ultraorthodoxen jüdischen Sekte in New York. Das Buch wurde zum Bestseller und einer erfolgreichen Netflix-Serie. Aber heute fragen Nicole Dreyfus und Philipp Peyman Engel in der Jüdischen Allgemeinen: "Gibt es eine Person im Literatur- und Medienbetrieb hierzulande, die in ihren öffentlichen Statements - man muss es so deutlich sagen - niederträchtiger und bösartiger auftritt als Deborah Feldman?" Feldman tingelte eine Zeitlang durch die Talkshows, wo sie behauptete, ihre gegen einen angeblichen jüdischen Mainstream gerichtete Meinung werde unterdrückt. Und nun? "Verschwörungstheorien, Menschenhass pur, 'Witze' mit selbst erstellten Fake-Goebbels-Zitaten, das Markieren von Personen als Feinde, öffentliche Aufrufe zum Denunzieren und zur Demontage von israelsolidarischen Aktivisten: Was die Öffentlichkeit in den vergangenen Wochen auf Social Media beobachten konnte, war die veritable Selbstdemontage einer einstmals geachteten Schriftstellerin in Echtzeit. Es ist ein beunruhigender, höchst irritierender Prozess einer Selbstradikalisierung, der sich vor aller Augen vollzogen hat und in dem Social Media eine ganz zentrale Rolle spielt."

Für die Welt hat Frederik Schindler mit dem jüdischen FU-Studenten Lahav Shapira gesprochen, der von einem arabischstämmigen Lehramts-Kommilitonen angegriffen und schwer verletzt wurde. Shapira schildert das brutale Ausmaß des Angriffs, unterlegt ist der Artikel mit Auszügen aus WhatsApp-Gruppen und Instagram-Stories, die belegen, wie Stimmung gegen Shapira gemacht wurde. Von der Uni hat er bisher lediglich eine Mail erhalten: "Die Unileitung hat den israelfeindlichen Gruppen viel zu viel Spielraum gewährt. Jüdische Kommilitonen und ich hatten das FU-Präsidium lange vor dem Angriff auf mich aufgefordert, diese Gruppen zumindest zu beobachten. Bei einem Gespräch mit dem Präsidium wurden uns Lösungsansätze versprochen, dann wurden wir ignoriert. Man wollte sogar uns Verantwortung übergeben. Wir sollten Ankündigungen israelfeindlicher Demos weiterleiten und wurden dazu animiert, Plakate oder Schmierereien selbst zu entfernen. Wir werden vorgeschickt, weil die Uni sich offenbar nicht traut, sich darum zu kümmern."
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Medien

Die Debatte um Achille Mbembe, um das "Weltoffen"-Papier, um Dirk Moses und die Documenta haben das intellektuelle Klima in Deutschland in den letzten Jahren geprägt. Sie haben gezeigt, dass eine "israelkritische" Haltung gerade an den vornehmsten Institutionen des Kulturbetriebs inzwischen zu den kuratorischen Voraussetzungen gehört. Und sie haben eines gemeinsam: Keine dieser Debatten wurde von den Zeitungen lanciert, und einige dieser Debatten - vor allem die um Mbembe und die Documenta - wurden maßgeblich von einem winzigen Blog in Bochum angestoßen, den Ruhrbaronen Stefan Laurin und Thomas Wessel. SZ-Redakteurin Sonja Zekri findet das so irritierend, dass sie nach Bochum gereist ist: "Die Ruhrbarone - ein furchteinflößendes Organ, das Künstlerinnen canceln und Karrieren beenden kann. Vielleicht das mächtigste Blog der Republik." Zekri fragt allerdings nicht, ob es im Licht des 7. Oktober wirklich treffend war, so gut wie jede antiisraelische Attacke als "nicht per se" antisemitisch zu verharmlosen, sondern will wissen, wer das ist, der den Betrieb so stört und findet heraus, dass die Ruhrbarone irgendwie ganz rechts und ganz links zugleich sind. Mit den "Antideutschen" teilten sie "eine ans Obsessive grenzende Begeisterung für Israel, gegen die natürlich überhaupt nichts einzuwenden wäre, ginge sie nicht einher mit offener Islamophobie", behauptet sie.

Außerdem: Daniel Zylbersztajn-Lewandowski berichtet in der taz von der neuesten Anhörung zu Julian Assange vor einem Londoner Gericht. Die Entscheidung, ob er an die USA ausgeliefert wird, scheint sich nun doch wieder zu verzögern.
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Kulturmarkt

Die renommierte Buchhandlung Proust in Essen soll seit vier Jahren verkauft werden, allein es findet sich kein Nachfolger. Ein grundsätzliches Problem in Deutschland, wie Max Florian Kühlem in der SZ erfährt. Zwar habe Deutschland mit rund 4.500 Buchhandlungen immer noch ein weltweit vorbildliches Netz, aber auf hundert Verluste pro Jahr kommen nur vierzig Neugründungen, erklärt Thomas Koch vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels: Das sei auch ein Problem "für die Vielfalt am Buchmarkt ganz generell. Denn Buchhandlungen wie Proust in Essen präsentieren mit Stolz ein handverlesenes Programm, in dem sich auch die Titel vieler kleiner Verlage wiederfinden. 'Wenn eine Buchhandlung wie Proust keinen Nachfolger findet, bedeutet es erst mal für alle Verlage, dass das Buch weniger sichtbar ist als Kulturgut', sagt Katharina E. Meyer von der Kurt-Wolff-Stiftung, die sich für Vielfalt in der Verlagsszene einsetzt und den kleinen Merlin-Verlag als Familienbetrieb betreibt. 'Der Buchhändler vor Ort ist unser engster Verbündeter. Er versteht sein Fach, hat Begeisterung und trägt sie an die Leute.' Gerade in einer Zeit des Umbruchs, wenn es in der Gesellschaft brodelt, seien kleine Verlage gefragt, die Ideen geben und Diskussionen anregen. 'Sie sind flexibler, probieren etwas aus, neue Stimmen, Genres, die nicht unbedingt marktgängig sind.'"
Archiv: Kulturmarkt
Stichwörter: Buchhandlungen, Buchmarkt