Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale 4. Tag

Von Sascha Josuweit, Ekkehard Knörer, Robert Mattheis
09.02.2002. Petits fours mit Musik: "Huit femmes" von Francois Ozon. Hardboiled: Shinji Aoyamas Film "Yokohama Mike - A Forest With No Name". Hast du es auch gefühlt? Marc Forsters "Monster's Ball". Eine schöne Tortur: "Les soviets plus l'electricite" von Nicolas Rey.
Samstag, 22 Uhr

Petits fours mit Musik: "Huit femmes" von Francois Ozon

Ein einsames Häuschen, eine Winterlandschaft in Technicolor, die Kamera fährt die verschneiten Wege entlang. Das Bild verhehlt seine Künstlichkeit nicht - das Haus ist gemalt, die Bäume Attrappen. Sind wir bei Disney? Tritt gleich die Prinzessin in den Garten und spricht mit den Blumen unterm Eis? Ein rosaroter Film. Eine Musical-Komödie aus den Fifties. Ein Märchen im Stile Mary Poppins', das ganz gut in die Vorweihnachtszeit passte, für die ganze Familie, in der Art.

Oder doch nicht ganz? Immerhin geschieht ein Mord, finden sich acht Frauen mit der traurigen Gewissheit konfrontiert, unter ihnen, in dem abgelegenen Haus, ist die Mörderin des Hausvaters. Doch auch das ist so sicher nicht. Francois Ozon, der mit "Tropfen auf heiße Steine" (2000 im Wettbewerb der Berlinale) oder auch "Sitcom" bereits Filme gemacht hat, in denen das Phantastische seinen Platz im Realen hat, lockt den Zuschauer denn auch lieber auf eine andere Fährte, wenn er erklärt, sein Murder-Mystery-Musical sei vor allem ein Film über Schauspielerinnen.

Nichts einleuchtender als das, hat Ozon mit Deneuve, Huppert, Beart, Ardant und Ledoyen doch eine absolute Traumbesetzung zusammengestellt. Erst damit gelingt der Kinospaß. Wann sonst schließlich sieht man sie alle zusammen in einem so märchenhaften Set, mit so schnuckeligen Kostümen, tanzend, singend, sich um Kopf und Kragen lügend und einander die Haare raufend, sieht die Deneuve erst beim Ringen, dann beim Liebesspiel mit Fanny Ardant oder Isabelle Huppert als neurotischen Hausdrachen durch die Kulissen zischeln? Der geheimnisvolle Mord ist nicht mehr als der Auslöser für einen Intrigenreigen, der jedem Star seinen Auftritt lässt. Auf Catherine Deneuve zumindest scheint der bunte Zauber übrigens schon abgefärbt zu haben: Auf der Pressekonferenz heute Nachmittag trug sie zur Sonnenbrille eine orangefarbene Jacke, einen lila Seidenschal und einen grünen Armreif.
Sascha Josuweit
8 femmes von Francois Ozon, mit Catherine Deneuve, Isabelle Huppert u.a., Frankreich 2002, 103 Min.
Termine.
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Samstag, 15.45 Uhr

Yokohama Mike stellt letzte Fragen: Shinji Aoyamas neuer Film

Shinji Aoyama, der dem deutschen Publikum dank einer einzigen derzeit durch die Republik wandernden Kopie seines vorletzten Films "Eureka" wenigstens nicht völlig unbekannt ist, nimmt sich mit seinem jüngsten, im Forum als Weltpremiere gezeigten Werk "Yokohama Mike - A Forest With No Name" das Hardboiled-Genre vor. Yokohama Mike, der Held des Films, wird schon mit den ersten Bildern eher als übersteigertes Zitat oder als Karikatur eines zynischen Detektivs vorgestellt denn als tatsächliches Exemplar eines solchen. Seine Kleidung, sein Verhalten: nichts als Pose. Sein Auftrag, eine vor ihrer Zwangsverheiratung davongelaufene Tochter zurückzuholen: nichts als Inbegriff des Hardboiled-Klischees.

Nach den Titeln, die auf den Vorspann folgen, ist dann aber schon Schluss mit dem klamottigen B-Movie, als das "Yokohama Mike" beginnt, es geht hinaus aus der Stadt, in unbesiedelte Gegend, in eine klosterartige Kommune. Da befindet sich die Tochter, die Mike zurückholen soll. Er will kurzen Prozess machen, wird aber ganz gegen seinen Willen in die seltsame Atmosphäre der von einem weiblichen Guru geführten Gemeinschaft hineingezogen. Eigennamen sind verboten, die Mitglieder sind schlicht durchnummeriert, es gibt keine Verbindung zur Außenwelt. Rasch beruhigt sich hier auch der Film, die Einstellungen werden länger, Nagase Masatoshi, der Darsteller Mikes, verzichtet auf sein wildes Gestikulieren. Seltsames geht vor, es stellt sich heraus, dass die Mitglieder der Kommune nur aus einem Grund hier versammelt sind: herauszufinden, was sie eigentlich wollen. Bald fühlt sich Mike von einer mysteriösen Frau in Weiß angezogen.

Der Detektiv, der auf die Suche nach einer verlorenen Tochter geschickt wird, verliert nicht nur seinen Namen (er wird Nummer 59), mehr und mehr fasziniert ihn das Geschehen um ihn herum, faszinieren ihn die Rätselsprüche der Leiterin. Das Mysterium, das ihm aufgegeben wird wie ein Koan im Zen-Buddhismus, ist ein Baum im naheliegenden Wald ohne Namen, der aussieht wie er. Die profane Ermittlung, mit der der Film begonnen hat, wird unversehens zur Suche nach der eigenen Identität - alles esoterische Brimborium, das man befürchten könnte, wird aber immer wieder konterkariert durch den schrägen Humor und die grobkörnigen, gerade nicht schönen, aller tieferen Bedeutung bar scheinenden Bilder.

Yokohama Mike bleibt für vielerlei Deutungen offen, Aoyama selbst bezeichnet die Kommune als eine Art Flüchtlingslager und die Zone, in die sein Detektiv gerät, als einen Schock-Korridor. Gelegentlich fühlt man sich an Tarkowskijs (jedoch ungleich genauer komponiertes) Meisterwerk "Stalker" erinnert - und wie bei Tarkowskij ist es gerade eine Stärke des Films, dass am Ende vieles rätselhaft bleibt.

Ekkehard Knörer (von Jump-cut)
"Yokohama Mike / A Forest with no Name", von Aoyama Shinji, mit Nagase Masatoshi, Suzuki Kyoka u.a.
Termine und Credits.


Samstag, 10.20 Uhr

"Hast du es auch gefühlt?" Marc Forsters "Monster's Ball" (Wettbewerb)


Zu den Erfahrungen, die man auf der Berlinale machen kann und machen sollte, gehört die des abrupten Wechselbads. Eben noch sitzt man im bis fast auf den letzten Platz besetzten Riesen-Saal des Berlinale-Palasts, sieht sich, ob das sinnvoll ist oder nicht, die erste Stunde von Bertrand Taverniers "Laissez-Passer" an (siehe Berlinale - 3. Tag), verdrückt sich dann - obwohl man die stets erkleckliche Schar der Kritiker, die das in jedem, aber auch jedem Film genauso tut, eigentlich verachtet -, hastet nach einem kurzen Abstecher in die Arkaden, der Nahrungsaufnahme wegen, (übrigens sitzt da der "All About Lily Chou Chou"-Regisseur Shunji Iwai direkt neben dem Sushi-Fastfood-Laden und isst Fladenbrot) und gerät dann in eine sehr überschaubare Gruppe von Besuchern, die sich für drei Stunden mit dem jungen französischen Doku- und Experimentalfilmer Nicholas Rey auf eine Reise durch Russland begeben wollen (siehe weiter unten) und landet schließlich im bereits im Vorfeld viel gelobten Wettbewerbsfilm "Monster's Ball" des aus der Schweiz nach Hollywood geratenen Regisseurs Marc Forster.

"Monster's Ball" gehört in eine Reihe jüngerer Filme - wie etwa Billy Bob Thorntons "Sling Blade" oder Sean Penns Dürrenmatt-Verfilmung "Das Versprechen" -, die mit den Mitteln Hollywoods die Grenzen Hollywoods auszuloten versuchen. Man ist da erst einmal sehr angetan von der provozierenden Langsamkeit der Entwicklung, von der Entschiedenheit, mit der hier zum Beispiel in Sachen Sex über die Weichspül-Konventionen des Hollywoodüblichen hinweggegangen wird. Letztlich aber geht's im Widerspruch gegen die Regeln hier wie in den anderen Filmen immer nur an der Wand lang, nie wirklich ins Freie hinaus, in den Bruch mit der Konvention, der sich gerade an der Grenze, die ausgetestet wird, als notwendig erweist.

Im Grunde ist es bei "Monster's Ball" bereits der Plot, der nicht zu retten ist. Der Strafvollzugsbeamte Hank, gespielt vom Robert Mitchum unsere Tage, Billy Bob Thornton, ist an der Hinrichtung eines Schwarzen beteiligt; er verliebt sich, durch ein paar vom Drehbuch mehr oder weniger geschickt eingefädelte Zufälle kommt es mehrfach zur Begegnung, in die Witwe Leticia. Sie kommen sich näher dadurch, dass beide ihren Sohn verlieren. Hank, der seinen Job an den Nagel gehängt hat, macht eine wundersame Wandlung vom rassistischen Arschloch zum einfühlsamen Liebenden durch. Diese Entwicklung kann auch ein Billy Bob Thornton nicht glaubwürdig darstellen, sie bleibt pure Behauptung des Drehbuchs, wird auch durch die selbstbewusste Inszenierung der Regie nicht schlüssig.

Als Wendepunkt, der aus dem Saulus einen Paulus macht, muss nun ausgerechnet eine wilde Sexszene zwischen Hank und Leticia herhalten, die Forster meist aus gewisser Distanz filmt, einer Distanz, die ohnehin das auffälligste - und sympathische - Stilmittel der Regie ist. Die, mit Verlaub, unsägliche Dialogzeile "Hast du es auch gespürt?" soll signalisieren, dass von nun an alles anders ist, dass Fürsorge und Liebe an die Stelle von Hass und Ignoranz treten. Make Love, not War, aber so einfach hatten wir uns das gar nicht vorgestellt. Erschwerend hinzu kommt, dass Halle Berry, einst ein Model, mit ihrer derzeitigen Rollenwahl verzweifelt versucht, sich als Ernst zu nehmende Schauspielerin zu etablieren. Also gibt sie eine oscarverdächtige Vorstellung als hysterisierte Schwarze, und das ist nicht als Kompliment gemeint. Mal tobt sie, dann zittert nur die Unterlippe, dann starrt sie ins Leere. Das ist so grässlich geschauspielert, dass sie ihren Oscar schon bekommen wird. Der Wirkung des Films ist es nicht förderlich.
Ekkehard Knörer (von Jump Cut)

Monster's Ball von Marc Forster, mit Billy Bob Thornton, Halle Berry, Peter Boyle u.a., USA 2001, 111 Min.
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Samstag, 8.48 Uhr

Eine schöne Tortur: "Les soviets plus l'electricite" (Forum)


Von Paris nach Magadan (Sibirien), das ist auch mit dem Flieger eine längere Reise. Der junge französische Regisseur Nicolas Rey aber muss sparen und nutzt deshalb den öffentlichen Nahverkehr. In winzigen Etappen tourt er über Berlin-Lichtenberg, Frankfurt (Oder), Kiew, Moskau, Nowosibirsk und Jakutsk bis in die legendäre Gulagstadt am Ochotskischen Meer. Seine russische Super-8-Kamera und sein Diktaphon immer dabei. Was für Rey ein paar Wochen gedauert haben muss, dauert im Kino gnädigerweise "bloß" drei Stunden. Eine Tortur ist es irgendwie trotzdem, und man fragt sich: Warum tut sich Rey das an? Und vor allem: Warum tut er es uns an?

Im Pressetext ist von einer "imaginierten Herkunft" die Rede, der der Regisseur auf den Grund gehen wolle, aber hätte er dafür nicht das Flugzeug nehmen können? Der eigentliche Grund für diese Filmreise ist natürlich die Reise selbst, alles andere, wie etwa auch der Umstand, dass Rey unterwegs immer auf der Suche nach längst verfallenem Filmmaterial für seine Kamera ist (das flimmert und pulst so schön in blassen Farben), ist Nebensache. Am besten illustriert das ein Satz, den Rey gleich zweimal in sein Mikro spricht, irgendwo bei Kiew, als er erfahren muss, dass auch Tschernobyl seinen Katastrophentourismus pflegt, und ihn die Tristesse der Gegend einholt: "Je suis la", immerhin, ich bin hier.

Dieses Hiersein aber wird immer wieder auf eine Weise spürbar, die den Film trotz seiner Länge und der auf die Dauer ganz schön anstrengenden Inkongruenz zwischen Bild- und Tonspur sehenswert macht. Ob Rey die Kamera auf den in der Tundra festgefahrenen Kleinbus hält, den die Fahrer mit Baumstämmen aus dem Morast zu hebeln versuchen, auf einen ehemaligen Kolchosbauern oder auf ein abgetakeltes Riesenrad, dessen rostige Gondeln im Wind schaukeln - die rauhe Poesie Russlands ist nun mal enorm fotogen.
Robert Mattheis

Les soviets plus l'electricite, von Nicolas Rey, Frankreich 2001, 175 Min
Infos, Termine
Karte vom und Meereis im Ochotskischen Meer