Außer Atem: Das Berlinale Blog

Wo stehen wir? Ganz am Anfang. "DAU. Degeneration" (Special)

Von Jochen Werner
01.03.2020.


Nun ist Ilya Khrzanovskys megalomanisches Projekt also endlich angekommen, in Berlin, aber auch überhaupt: im Kino. Die Geschichte seiner Dreharbeiten kann man gerade in Kurzfassung so ziemlich überall nachlesen, und ausführlich bereits 2011 in einer GQ-Reportage vom gigantischen Set, dem "Institut", daher soll sie hier nicht noch einmal erzählt werden. Von Interesse ist aber die Geschichte der um gut eineinhalb Jahre verzögerten Berlin-Premiere - und natürlich die Geschichte der teils wütenden Kritik, die den Berlinale-Screenings vorausging.

Ursprünglich sollte die Weltpremiere des "DAU"-Materials im Rahmen einer gigantischen Kunstinstallation stattfinden, für die im Herbst 2018 ein großes Areal in Berlin-Mitte durch eine über Nacht errichtete Mauer abgetrennt und einen Monat lang durch eine gewaltige immersive Performance bespielt werden sollte. Als das zunächst streng geheimgehaltene Projekt in die Öffentlichkeit durchsickerte, entbrannte eine Debatte, deren Fronten sich rasch verhärteten. Teile der Hauptstadtpresse starteten eine Kampagne zur Verhinderung, während zahlreiche Kulturschaffende und -politiker*innen sich für das Projekt einsetzten, das am Ende aufgrund organisatorischer Bedenken vom Berliner Bauamt abgesagt wurde.

Im Nachhinein lassen sich diese Bedenken tatsächlich nur schwerlich von der Hand weisen - jedenfalls wenn man die verspätete Premiere miterlebte, die "DAU" dann im Januar und Februar 2019 in Paris erfuhr. In einem im Vergleich zu den Berliner Plänen stark reduzierten Rahmen wurden dort zwei Theatergebäude bespielt - oder besser: sollten bespielt werden, wurde doch zur Eröffnung eine der beiden Spielstätten, erneut aufgrund von Sicherheitsbedenken, nicht für das Publikum freigegeben. Ich selbst war eine gute Woche nach der Eröffnung dort und zählte zu den ersten Besucher*innen, die in beide Spielstätten eingelassen wurden - erneut: jedenfalls theoretisch, denn auch zu diesem Zeitpunkt waren noch ganze Etagen gesperrt, die Besucherlenkung funktionierte gar nicht, und die Illusion der Parallelgesellschaft musste immer wieder aufgebrochen werden, um dem Ansturm der Menschenmassen überhaupt mit einem notdürftigen Programm Herr zu werden. Man kann sich angesichts dieser (wie auch sonst als) grandios gefloppten Premiere des Eindrucks nicht erwehren, dass die Strategien von Desinformation, Paranoia und Manipulation, die den künstlerischen Prozess prägten, hier nicht in eine zielgerichtete gemeinsame Arbeit überführt werden konnten.

Was die Präsentation des Materials angeht, so gab es einerseits ein Dutzend Filme unterschiedlicher Länge, die einzelne Episoden aus dem "DAU"-Kosmos in einem kinoartigen Setting im Rahmen der Installation zeigten und in die man nach dem Zufallsprinzip hineingeschoben wurde, und andererseits Boxen mit Terminals, in die man einzeln eintrat und in denen man sich durch hunderte Stunden von Material klicken konnte sowie Texttafeln zu den Biografien der einzelnen Protagonist*innen nachlesen konnte. Dabei empfand man vor allem Überforderung, was natürlich künstlerisch absolut beabsichtigt war, jedoch nur bedingt als produktiv oder sonderlich anregend empfunden werden konnte. Die, wie man liest, 700 Stunden von "DAU" waren in dieser Präsentationsform wenig mehr als ein großer Haufen, und die Kraft des Materials war ebenso spürbar wie die Notwendigkeit, eine Form dafür zu finden, die eine Erschließung möglich macht - ein Fundament, das für Episoden wie jene von "DAU. Natasha" einen Resonanzboden bietet.



Einen ersten Schritt in diese Richtung stellt nun "DAU. Degeneration" dar, der im Jahr 1968, dreißig Jahre nach der Eröffnung des Instituts, spielt und dessen Niedergang bis zur apokalyptischen, im Film fast beiläufig nachgereicht wirkenden Zerstörung sechs Stunden lang begleitet. Ein Prozess, der mit der Machtübernahme des in "DAU. Natasha" noch als Folterknecht wirkenden KGB-Generals Azheppo beginnt und schlussendlich von einer Gruppe junger Faschisten in die Tat umgesetzt wird, deren nationalistische, rassistische Ideologie zuerst schleichend, dann immer eskalativer immer mehr Raum greift. Der weitere Rahmen von "DAU. Degeneration" ermöglicht es, zumindest für diese spezifische Phase im Zeitrahmen von "DAU" einen gewissen Überblick über einige der im Institut lebenden und agierenden Personen zu gewinnen und diese dabei zu begleiten, wie sie leben, Affären haben, feiern, saufen und vögeln, und wie der rebellische Geist der jungen Forschergeneration, die eindeutig westlich orientiert ist - zeitlich spielt "DAU. Degeneration" kurz nach dem Prager Frühling -, immer brutaler niedergeknüppelt wird. Der titelgebende Lew Landau, genannt Dau, vegetiert indes als bereits seit acht Jahren stumm ans Bett gefesselter Greis vor sich hin, seine Geschichte wird in den sechs bis elf weiteren angekündigten "DAU"-Filmen - auch ihre Anzahl wird eher nach dem Prinzip Stille Post weiterkolportiert - erzählt werden.

Wenn man also nun die Frage stellt, ob dieser erste Einblick in den "DAU"-Kosmos eigentlich über ausreichend filmische Faszinationskraft verfügt, um sich, angesichts von immer lauterer Kritik an den Arbeitsbedingungen einerseits beim Dreh, andererseits bei der Vorbereitung der abgesagten Berliner Performance, überhaupt erstmal eingehender damit auseinanderzusetzen oder ob man das alles bequem vergessen kann, so muss die Antwort also lauten: ja, das ist ein ungemein faszinierender Film. Und das macht alles zunächst einmal vor allem verdammt kompliziert.

Nicht einfacher wird es dadurch, dass in den taz-Artikeln, die die heftigen Proteste gegen die Berlinale-Premieren mit auslösten, allerlei durcheinanderfliegt - von absolut stichhaltiger Kritik bis zu unseriösen Mutmaßungen reicht das Spektrum. Am konkretesten sind hierbei die Schilderungen anonymer Mitarbeiterinnen der Berliner Installation, die von endlosen Arbeitstagen und -nächten und der vorausgesetzten Erreichbarkeit rund um die Uhr berichten. Was freilich kein "DAU"-spezifisches Problem ist, sondern die Arbeitsbedingungen in beträchtlichen Segmenten der Kunstproduktion akkurat beschreibt - insbesondere, wenn es um als radikal zelebrierte, jedenfalls keinen vorgegebenen Produktionsweisen folgende Kunst geht, und relativ unabhängig davon, ob diese nun fürs Kino, die Theaterbühne oder das Ausstellungshaus entsteht.

Das heißt nun keineswegs, dass wir diese Arbeitsweisen nicht kritisieren dürfen - im Gegenteil erscheint ihre Überwindung gar überfällig. Ein Alleinstellungsmerkmal von "DAU" freilich sind sie nicht, lediglich die Größe des Projekts lässt sie stärker in den Fokus treten. Dann sind da aber auch noch die an #metoo zumindest angrenzenden Vorwürfe in Krzhanovskys Richtung, die selbstverständlich keinesfalls einfach so mit Verweis auf eine vorgeschobene Kunstfreiheit vom Tisch gewischt werden dürfen.

Das Sektenhafte, das der tatsächlich von einer guruhaften Aura umwehte Krzhanovsky um sich herum inszeniert, klingt nicht eben an den Haaren herbeigezogen, und es ist unbedingt notwendig, diese Konstellationen von Machtausübung und psychischer Manipulation genauer anzusehen. Dazu allerdings wird es konkreterer Schilderungen der bis dato noch recht abstrakten Grenzüberschreitungen brauchen. Auch um zu klären, was sie konkret mit Geschlechterverhältnissen zu tun haben. Die intimen Fragen etwa, die er seinen Mitarbeiter*innen gestellt hat, streitet Krzhanovsky nicht ab; dieses Umkreisen von Eros und Thanatos ist Thema der Arbeit und Teil des speziellen kreativen Prozesses. Somit ist es nicht an sich bereits zu verurteilen, aber die Grenze zum Machtmissbrauch und zu Doppelstandards im Umgang mit männlichen und weiblichen Mitarbeiter*innen ist ein schmaler Grat. Man muss diese Vorwürfe sehr ernst nehmen, ihnen, wo möglich, nachgehen und schauen, was konkret Bestand hat.

Krzhanovskys zentrales Argument besteht darin, dass sich alle Beteiligten freiwillig und im Bewusstsein der besonderen, so intimen wie fordernden Arbeitsweise auf dieses psychologisch-künstlerische Experiment eingelassen hätten. Und selbstverständlich hätte jeder jederzeit abbrechen und gehen können, so Krzhanovsky, was, soweit bisher bekannt, anscheinend von allen beim Dreh Anwesenden bestätigt wird und somit bis zum Nachweis des Gegenteil Gültigkeit beanspruchen darf.

Ganz und gar nicht hilfreich ist insofern auch die Skandalisierung einer bis zur Premiere im Berlinale-Wettbewerb noch ominösen Vergewaltigungsszene, deren Konsensualität in zahlreichen Artikeln zu "DAU. Natasha" in Zweifel gezogen wird. Zweifel, die darauf zurückgehen, dass die Sequenz authentisch wirkt und dass Hanna Schygulla infolge der Sichtung ihre Zusammenarbeit aufgekündigt hat, sind immer schon journalistisch unlauteres Mutmaßen und spätestens nach der Pressekonferenz mit Darstellerin Natalia Berezhnaja, die eindeutig dementierte und betonte, sie sei stets "Herrin ihrer Sinne" gewesen, schlichterhand als Fake News zu bewerten. Denn eine Frau wie Berezhnaja zur Untermauerung der eigenen Kritik gegen ihre erklärte Selbstwahrnehmung zum Opfer zu machen, das ist selbst ein Akt der Gewalt.

Wo stehen wir also nun in Sachen "DAU", jetzt, wo zwei Filme und insgesamt achteinhalb Stunden des lang erwarteten Materials endlich zu sehen waren? Fürs erste bleibt uns wohl nichts als festzustellen: wir sind, in vieler Hinsicht, noch ganz am Anfang in der Auseinandersetzung mit diesem unvergleichlichen, megalomanischen, durch und durch ambivalenten Riesenwerk, das uns wohl noch lang beschäftigen wird.

DAU. Degeneratsia. Regie: Ilya Khrzhanovskiy, Ilya Permyakov. Mit Prof. Dmitry Kaledin, Vladimir Azhippo, Olga Shkabarnya, Prof. Alexei Blinov, Prof. Nikita Nekrasov u.a., Deutschland / Ukraine / Vereinigtes Königreich / Russische Föderation 2020, 355 Minuten (Alle Vorführtermine)