Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale 8. Tag

Von Ekkehard Knörer, Anja Seeliger
12.02.2004. Exzellent: Fatih Akins Wettbewerbsfilm "Gegen die Wand. Li Shaohong beschreibt in "Baober in Love" das moderne China als Kulturschock. De mortuis nil nisi bene, meint Robin Williams in Omar Naims Debütfilm "The Final Cut" (Wettbewerb). Vor zehn Jahren haben die Südafrikaner ihre ersten Wahlen nach der Apartheid abgehalten. Das Forum hat aus diesem Anlass unter dem Titel "10 - Real Stories from a free South Africa" zehn Filme zusammengestellt, die einen Einblick in das Leben der Südafrikaner geben.
Es stimmt. Es passt. Es hat Kraft - Fatih Akins Wettbewerbsfilm "Gegen die Wand"

Was die Verfilmung von Theaterstücken angehe, halte er es, sagte Romuald Karmakar gestern auf der Pressekonferenz, mit Andre Bazin. Fatih Akin antwortete heute auf die Frage, wie nah ihm sein Film "Gegen die Wand" sei: Diese Geschichte sei ein Pickel gewesen, den er endlich mal ausdrücken musste. Zwischen diesen Worten liegen die Welten, die Akin von Karmakar trennen. Wo beim einen Kalkül ist, Kunstverstand und Distanz, da setzt der andere sein Vertrauen in die Geschichte, die Darsteller und die Gewalten, die deren Energie heraufbeschwören kann. Exzellent, das ist die Pointe des Vergleichs, ist der eine Film wie der andere.

"Gegen die Wand" beginnt als Tragikomödie, jagt Cahit und Sibel in Selbstmordversuchen aufeinander. Sie will raus aus der Welt, die sie gefangen hält. Die Welt der türkischen Familie, in der die Männer die Aufgabe haben, die Ehre der Frauen zu bewahren. Koste es, was das wolle, buchstäblich, denn das geht bis zum Mord. Cahit andererseits ist ein Loser über vierzig, jobbt, nimmt Drogen, erwähnt, aber nie weiter ausgeführt wird die Vorgeschichte: Er war verheiratet, was aus Katharina geworden ist, erfahren wir nicht. Sibel sieht erst im Selbstmord, dann in der falschen Heirat mit Cahit den einzigen Ausweg. Sie will frei sein, sie will schlafen, mit wem sie will. Dann verliebt sich Cahit in sie. Der Film schlägt um, nicht mit einem Mal, sondern mit aller Konsequenz, in die Tragödie.

Es ist nicht die letzte Wendung, die er nimmt und nicht die erste, die man ihm mit blindem Vertrauen abnimmt. Die zugrunde liegende Dramaturgie gehorcht keinem der Gesetze, die man in Drehbuchkursen gelehrt bekommt, sie gehorcht auch keiner Logik, die außerhalb der Konstellationen, die der Film entwirft, einleuchten würde. Und doch, das ist das Fabelhafte, glaubt man ihm. Nichts an "Gegen die Wand" ist perfekt - während in Karmakars "Die Nacht singt ihre Lieder" (mehr) alles perfekt ist. Die Hauptdarstellerin ist direkt von der Straße gecastet, gerade der Mangel an professionellem Handwerk bekommt der Figur ausgezeichnet. Akin hat kein großes künstlerisches Konzept, das ist alles mit sehr viel mehr Intuition als Bewusstsein hingehauen, Bild für Bild. Aber es stimmt. Es passt. Es hat Kraft. Eine Komödie, eine Tragödie, eine Tragikomödie. Ein trauriges, ein versöhnliches, ein leises Ende. Viel Beifall von der Presse.

Ekkehard Knörer

"Gegen die Wand". Regie: Fatih Akin. Mit Birol Unel, Sibel Kekilli, Catrin Striebeck u.a., Deutschland 2003, 123 Minuten (Wettbewerb)



Moderne essen Seele auf: "Baober in Love" von Li Shaohong

Ein kleines Mädchen läuft durch die Straßen einer alten Stadt, von Bulldozern verfolgt. Sie flieht in ihr ärmliches Haus, da greifen die Bagger zu und reißen das Dach ab. Von oben, durch das riesige Loch sehen wir, wie sie uns mit entsetzten Augen anstarrt. Die Wände fallen, das Mädchen schreit und schreit, während rings um sie glitzernde weiße Hochhäuser aus dem Boden schießen. Es ist als stünde man in einem Zauberwald von Max Reinhardt. Zack, ist die alte Stadt ist einer ganz neuen, modernen gewichen. Die Schnelligkeit, mit der sich China verwandelt und der dadurch ausgelöste Schock, beschrieben in einer einzigen Szene von vielleicht 30 Sekunden. Besser als die Regisseurin Li Shaohong kann man es nicht machen. Es ist ein großartiger Einstieg in einen Film, der die Geschichte dieses kleinen Mädchens erzählt. Baober ist inzwischen erwachsen. Sie sieht absolut modern aus und leicht irre, mit ihrer strubbeligen Perücke und den aufgerissenen Augen.

Baober findet ein Videoband, auf dem ein junger Mann, Liu Zhi, erzählt, wie sehr ihn sein Leben nervt, das endloses Handygeklingel, die immer geschäftigen Leute, seine Freundin und ihre superschicke Wohnung: Aber "nur in meinen Träumen rufe ich 'Revolution'!" Liu Zhi sehnt sich nach einem Mädchen, dass ihn "einfach umhaut". Baober glaubt, eine verwandte Seele gefunden zu haben. Als sich die beiden verlieben und in eine leere Fabrik ziehen, besitzen sie nicht mehr als zwei Taschen und zwei Bambusmatten. Doch das Glück ist nicht von Dauer. Liu Zhi, der doch eigentlich auf all die wichtigen Utensilien der Moderne keinen Wert mehr legt, fühlt sich dort unbehaglich. Plötzlich will er Gardinen, ein rotes Sofa, eine Küche, einen Tisch für seinen Computer. Und wieder wächst in Sekundenschnelle alles aus dem Boden - Tische, Sofas, Regale - Dinge, die Baorber wie Gefängnisstäbe umgeben. Als Liu Zhi erkennt, was er damit angerichtet hat, ist es zu spät.

Li Shaohong setzt alles ein, was die moderne Filmtechnik zu bieten hat, um die Folgen des Kulturschocks zu illustrieren: Zeitlupe und Zeitraffer, geteilten Bildschirm, Tricktechnik. Es gibt atemberaubende Bilder in diesem Film, doch das schönste daran ist, dass sie das moderne China nicht als ein hässliches zeichnet, sondern als ein überaus verlockendes: In einem mondänen Hochhaus, ganz oben, vor einer riesigen Fensterfront, stehen mehrere Urinoirs aufgereiht, beim Pinkeln hat man einen atemberaubenden Blick auf die Stadt. Mehrere Szenen spielen in einem phantastisch ausgestatteten, kathedralenartigen Club. Die Durchgänge zu den riesigen Räumen sind geformt wie gotische Spitzbögen. Dieser Club gehört einem der barfüßigen Kinderfreunde von Baober. Heute ist er ein freundlicher dicker Punk. Diese Karriere hätte er im alten China gewiss nicht machen können, auch die Irokesenfrisur wäre nicht toleriert worden. Li Shaohong hebt nicht den Zeigefinger und verdammt die Moderne. Sie zeigt nur, dass mit dem schnellen Verlust des Alten etwas verloren gegangen ist, das eine Leerstelle zurückbleibt, deren Schmerz töten kann.

Anja Seeliger

"Baober in Love - Lian Ai Zhong De Bao Bei". Regie: Li Shaohong . Mit Zhou Xun, Huang Jue, Chen Kun u.a., China 2003, 100 Minuten (Forum)



Film des Lebens: Omar Naims "The Final Cut" (Wettbewerb)

Die Guillotine ist in "Final Cut" ein Schnittgerät ganz eigener Art. An ihr komponiert der Cutter die schönsten Momente eines Lebens, wenn es vorbei ist, zum Erinnerungsfilm. Die Science-Fiction-Prämisse, im Grunde die einzige des Films: Das Zoe-Implantat, das, bei der Geburt eingesetzt, alles aufzeichnet, was sein Träger sieht und hört. Eine winzig kleine Videokamera mit terabytegroßer Festplatte also, die beim Tod entnommen wird. Der Cutter, der den "Final Cut" zusammenstellt, sieht das ganze Leben des Verstorbenen, wählt die schönsten Momente und wird zum Regisseur eines Films, der als "Rememory" bei der Beerdigung vorgespielt wird. In einem kleinen Kinosaal, Licht aus, Film an und natürlich gilt: de mortuis nil nisi bene.

Das ist eine höchst viel versprechende Prämisse, die Fragen der Moral, der Regie, der Biografie, der totalen Überwachung und vor allem nach objektivem und subjektivem Erinnern stellt. Was in der Evidenz der Implantatbilder nämlich gelöscht wird, ist nichts anderes als das Fehl-erinnern, das Umschreiben und Vergessen, das das menschliche Gedächtnis ausmacht. Was sich aus dieser Prämisse noch nicht zwingend ergibt - und das ist die grundsätzliche Crux des Konzept-Genres Science Fiction -, ist eine Geschichte. Die hat der junge Autor und Regisseur Omar Naim um seinen Einfall herumerfunden, ohne sich entscheiden zu können oder zu wollen, ob es nun ein Thriller sein soll oder die persönliche Geschichte des aufrechten Cutters Alan Hackman oder eine grundsätzlichere Explikation der moralischen Probleme, die ein Aufzeichnungs-Implantat mit sich bringt.

Unglücklicherweise findet sich nun von allem etwas in "The Final Cut" - und nichts davon wird überzeugend entfaltet. Alan Hackman, den Robin Williams im weinerlichen Modus spielt, nicht im komischen, ist der Cutter für die harten Fälle, Verbrecher aller Art, weil er Gnade kennt und ein Regisseur ist, der das Leben schönt. Er aber wird selbst geplagt von einer traumatischen Erinnerung aus seiner Kindheit. Das ist der Drama-Strang. Und er wird beauftragt, das "Rememory" des verstorbenen Gründers der Implantatfirma zusammenzustellen. Daraus wird der Thriller-Strang. Dazu kommt ein Romantik-Strang, in dem Mira Sorvino eine gute, wenngleich, leider, völlig überflüssige Figur macht. Die ethischen Fragen finden sich in allen drei Abteilungen behandelt, jedoch in keiner konsequent.

Der Film springt nun in seinem Fortgang von einem Strang zum anderen, die Übergänge bleiben holprig und im besten Fall kondensiert das Durcheinander zu einem überzeugenden Bild. Wenn etwa Alan Hackman an seiner Guillotine in den Film eines Lebens eintaucht und aus einer Splitscreen-Orgie aus Einzelbildern ein Bild herausspringt mit Hackman an seinem Edelholz-Schneidetisch, grundlos, wirklichkeitslos, vor den Bildern schwebend, im Bild und nicht im Bild zugleich. Sogleich aber stürzt Naims Film zurück in die Konventionen, mit denen er seine Grundidee immer wieder auf den Boden Hollywoods zurückholt. Und tut er es nicht, dann tut es die Musik von Bryan Tyler. Sie springt in jede interessante Lücke, die der Film hier und da lässt und streicht sie zu. Hanebüchen buchstabiert sie nach und vor, was ohnehin zu sehen ist. Eine traurige Demonstration, alles in allem, wie man in Hollywood eine interessante Idee zugrunde richtet.

Ekkehard Knörer

"The Final Cut". Regie: Omar Naim. Mit Robin Williams, Jim Caviezel, Mira Sorvino u.a., USA 2003, 105 Minuten (Wettbewerb)



Alles dreht sich um Mutter: Vier Filme aus der Reihe "10 - Real Stories from a free South Africa" (Forum)

Vor zehn Jahren haben die Südafrikaner ihre ersten Wahlen nach der Apartheid abgehalten. Das Forum hat aus diesem Anlass unter dem Titel "10 - Real Stories from a free South Africa" zehn Filme zusammengestellt, die einen hervorragenden Einblick in das Leben der Südafrikaner geben. Es sind kurze Filme, knapp eine Stunde lang, die im Zweierpack gezeigt werden. In den vieren, die ich gesehen habe, ging es nie abstrakt um Politik, sondern meistens um ganz konkreten Lebensverhältnisse und Wünsche: Wie kann ich ein Haus bauen. Wie kann ich Karriere machen. Wie kann ich meine Kinder großziehen und ihnen eine anständige Ausbildung mitgeben. Wie kann ich meine Eltern versorgen. Politiker werden nie erwähnt.

Das ist kein Wunder. Südafrikanische Politiker sind in der Regel Männer, und in diesen Filmen zählen die Frauen oder vielmehr: die Mütter und Großmütter. Unglaubliche Frauen, die ihre Kinder mit Prügel und sparsam verteilten Liebesbezeugungen bei der Stange halten. Die Väter zählen in der Regel nicht, sie haben sich schon lange davongemacht oder sind gestorben. In "Belonging" war es die Mutter, die entschieden hat, dass sie und ihre Töchter nach England emigrieren. Heute versucht eine der Töchter in Afrika wieder Fuß zu fassen, ihre Wurzeln zu finden. Die Mutter hilft ihr zwar dabei, aber daran, dass ihre Entscheidung damals richtig war, hält sie eisern fest.

Oder nehmen Sie Ivy, die Kosmetikerin, die in "Hot Wax" porträtiert wird. Ivy hat schon während der Apartheid Weißen die Fingernägel lackiert. Dass viele ihrer Kundinnen schon lange Jahre zu ihr kommen, merkt man am Umgang. "Suffer you bitch", sagt Ivy zu einer Kundin, bevor sie ihr das Wachs von den Beinen zieht. Beide lachen. Dem Zuschauer sind diese freundlichen weißen Mittelschichtfrauen, die sich so enthusiastisch über Ivy äußern, nicht ganz geheuer. Ivys rundes Gesicht gibt nicht preis, wie sie wirklich über diese Leute denkt. Sie hat ein Haus, ihre Kinder können auf eine gute Schule gehen. Sie scheint dieselben Probleme zu haben, wie die Weißen: dass es immer gefährlicher wird auf der Straße. Unsicher wird sie nur, wenn es um ihre Mutter geht.

Wir sehen die alte Dame im Kreis ihrer Familie. Sie sieht besser aus als ihre Töchter und weiß das auch. Ivy erinnert sich sehr gut an die Prügel, die sie von ihr bezogen hat. Mama wischt das alles mit einer Handbewegung weg und zählt stolz die Kleider auf, die ihre Töchter ihr geschenkt haben. Hat sie Grund, stolz zu sein? Offenbar hat sie Ivy etwas wichtiges mitgegeben: Überlebenswillen. "Ich sehe die Kinder, mit denen ich aufgewachsen bin", sagt Ivy, "sie taugen nichts. Und warum? Weil sie sich ständig beklagen: Oh, ich bin so und so aufgewachsen, und deshalb bin ich jetzt so und so. Alles Quatsch. Jeder wählt sein Leben selbst."

"Being Pavarotti" porträtiert Elton Nkanunu und seine Freunde. Seine Mutter spielt mit dem Gedanken, ihn wegzugeben. Man weiß nicht genau, warum. Sie sagt, damit er nicht auf der Straße groß wird, sie müsse arbeiten und könne sich nicht so viel um ihn kümmern. Die Großmutter, die dafür sorgt, dass der Junge genug zu essen hat, deutet dagegen an, dass ihre Tochter sich gern in Bars rumtreibt. Der Junge und seine Freunde verdienen mit Singen Geld. Vielleicht darf er nur darum noch zu Hause wohnen. Er hat einmal eine Kassette von Pavarotti geschenkt bekommen und jetzt wollen sie alle Tenöre werden. Der Zuschauer erstarrt, wenn die Bande das erste Mal "Santa Lucia" anstimmt. Wo nehmen diese Teenager - sie sind so um die 13 Jahre alt - nur diese Stimmen her? Soviel Resonanzraum haben diese mageren Körper doch gar nicht! Pavarotti würde grün werden vor Neid. Aber - und das ist ein anderes Thema, um das in den Filmen geht - niemand sagt ihnen, dass sie auch knödeln wie der alte Pavarotti. Was macht man, wenn man Talent hat, aber weit und breit keine kompetente Erziehung in Sicht ist?

"Solly's Story" porträtiert den Fußballtrainer Solly, der die Fußball-Jugendnationalmannschaft Südafrikas trainiert. "Ich bin mit Solly aufgewachsen, wir haben zusammen Fußball gespielt", erzählt Regisseur Asivhanzhi Mathaba am Anfang, "er war nichts besonderes. Wenn er es geschafft hat, kann ich es auch schaffen. Deshalb wollte ich seine Geschichte kennen lernen." Auch in diesem Film geht es nicht um die Apartheid, sondern ums Vorwärtskommen. Solly kommt vom Land und war bettelarm. Aber er kann mit Jungen umgehen, versteht was von Fußball und hat Leute gefunden, die ihn fördern. Wir begleiten ihn auf einer Reise mit der Jugendmannschaft nach Frankreich, wo sie tatsächlich den Pokal gewinnen! Sicher ist gar nichts, aber erst mal hat er genug Geld, um sein Haus fertig bauen zu können. Darin will er mit seiner Freundin leben - die aussieht wie eine rundliche Ausgabe von Lauryn Hill -, mit seiner Mutter, die er erst mal auftreiben muss, und seiner Großmutter.

Anja Seeliger

"Belonging". Dokumentarfilm von Minky Schlesinger und Kethiwe Ngcobo. Südafrika 2004, 52 Minuten (Forum)
"Hot Wax", Dokumentarfilm von Andrea Spitz. Südafrika 2004, 50 Minuten (Forum)
"Being Pavarotti". Dokumentarfilm von Odette Geldenhuys. Südafrika 2004, 52 Minuten (Forum)
"Solly's Story", Dokumentarfilm von Asivhanzhi Mathaba, Südafrika 2004, 40 Minuten (Forum)