Außer Atem: Das Berlinale Blog

Voraussetzung für zukünftige Utopien

Von Anja Seeliger
15.02.2018. Heute abend eröffnet Wes Andersons Animationsfilm "Isle of Dogs" die Berlinale 2018. Über 300 Filme werden in den verschiedenen Sektionen über zehn Tage hinweg gezeigt. Hat der einzelne Film da überhaupt noch eine Chance? Ein Blick ins übervolle Programm.

Malgorzata Szumowska, Wes Anderson, Laura Bispuri, Lav Diaz

Heute abend eröffnet Wes Andersons Animationsfilm "Isle of Dog" die vorletzte von Dieter Kosslick kuratierte Berlinale. Die Kritik, die im Winter kurz aufgeflammt war, ist schon wieder zusammengefallen. Vielleicht hilft das diesjährige Festival ihr nochmal auf die Beine, denn der Hauptgrund für den Missmut ist hier so sichtbar wie in den Jahren zuvor: 13 Reihen mit über 300 Filmen, dazu 14 Diskussionsveranstaltungen und Vorträge verteilt auf zehn Tage. Das Überangebot lässt Kritikern nicht den Hauch einer Chance auf eine wertende Sichtung des Angebots. Demzufolge machen sich die Sektionen kaum noch die Mühe, ihr Profil zu erklären und Kriterien offenzulegen. Wozu? Kann ja eh niemand überprüfen.

In der Zeit bescheinigt heute Jens Jessen den Kritikern an der Überfülle des Programms "autoritären Kleinstadtcharakter" und "Herrschaftsfantasien": "Es gibt das eine Thema nie, und es gibt vor allem das eine beherrschende Milieu nicht, welches ein solches Thema diktieren könnte", schreibt er. Das ist eine recht schräge Auffassung für einen Zeitungsredakteur, der nichts anderes tut als Themen zu suchen, die er für relevant hält, kurz: zu kuratieren. Ohne diese Anstrengung ist eine Zeitung keine Zeitung und ein Festival kein Festival, sondern Haufen von Material. Das kann man auch schön finden, nur Debatte findet dann nicht mehr statt. Aber vielleicht ist das auch gerade der Punkt?



Adina Pintilie, Gus van Sant, Emily Atef, Mani Haghighi

Der Wettbewerb kann mit seinen 24 Filmen - fünf davon außer Konkurrenz - als geradezu überschaubar gelten. Ein stark erwarteter Film dürfte der Beitrag des philippinischen Regisseurs Lav Diaz sein, der mit "Season of the Devil" einmal mehr die Zeit der Militärdikatur in seinem Land aufrollt. Knapp vier Stunden dauert er (und ist damit nur halb so lang wie sein 2016 im Wettbewerb gelaufener Film "A Lullaby to the Sorrowful Mystery") und die Dialoge scheinen nach den vorab veröffentlichten Videoclips gesungen zu werden. Gesungen wie in: chorisches Singen und Rezitativ. Die Musik komponiert hat der 1958 geborene Lav Diaz, der Ökonomie studierte und für ein Musikmagazin arbeitete, bevor er sich dem Filmemachen widmete. Das müsste auch jeden neugierig machen, der noch nie von dem Mann gehört hat. Was wieder um nicht unwahrscheinlich, denn die überlangen Filme von Diaz sind selten im Kino zu sehen. Im Perlentaucher ist er ein alter Bekannter: 2008 sang hier erstmals Ekkehard Knörer ein Loblied auf ihn und zuletzt schrieb vor zwei Wochen Nikolaus Perneczky über Diaz' "The woman who left".

Hoffnung erweckt auch Thomas Stubers "In den Gängen", der von einem jungen Mann erzählt, der in der ostdeutschen Provinz auf einem Großmarkt arbeitet und sich verliebt. Das Drehbuch hat Stuber wieder zusammen mit Clemens Meyer verfasst, wie schon zuvor das Drehbuch für sein 2016 mit dem Deutschen Filmpreis in Silber ausgezeichnetes Boxerdrama "Herbert", das Lars-Olav Beier im Spiegel zu einer Lobeshymne hinriss. Der iranische Filmregisseur Mani Haghighi ist bekannt für seine schwarzen Komödien - eine Handvoll Männer versucht einen Felsbrocken zu verrücken, ein Paar macht das Schenken zum einem sadistischen Spiel, drei Männer und ein Baby in der Wüste geben Rätsel auf - mit denen er zweimal im Forum zu Gast und 2016 mit "A Dragon Arrives!" im Wettbewerb. Sein neuer Wettbewerbsbeitrag "Schwein" kreist um einen Filmemacher, der seit Jahren keine Filme mehr drehen darf und dann auch noch von einem Serienkiller ignoriert wird, der sich auf Filmschaffende spezialisiert hat.

Zwei Filme werfen einen Blick auf die ältere Generation: der paraguayische Regisseur Marcelo Martinessis "Die Erbin" beobachtet zwei Frauen, denen das Geld ausgeht: Während die eine im Gefängnis landet, verdingt sich die andere, eine introvertierte Künstlerin, als Fahrerin bei den reichen alten Damen aus der Nachbarschaft. Und in "The Real Estate" von Axel Petersén und Måns Månsson erbt eine 68-jährige "Lebedame", die immer schon vom Vermögen ihres Vaters gelebt hat, nach dessen Tod ein heruntergekommenes Mietshaus, das ihre Rückkehr aus dem sonnigen Süden nach Stockholm erzwingt. Beide Regisseure waren schon im Forum vertreten.

Erwähnenswert noch "Don't Worry, He Won't Get Far on Foot", Gus van Sants Biopic über den querschnittgelähmten Cartoonisten John Callahan (außer Konkurrenz), Benoit Jacquots Neuverfilmung von Joseph Loseys "Eva" (die zweite nach dem sensationell misslungenen Wettbewerbsfilm "Tagebuch einer Kammerzofe" 2015), ein Biopic über den sowjetischen Autor Sergei Dovlatov (1941-1990) von Alexey German Jr., der schon 2015 mit "Under Electric Clouds" im Wettbewerb vertreten war (hier unsere Kritik) und "politisch korrektes Entertainment" (Kosslick) mit David & Nathan Zellners Western "Damsel", in dem Mia Wasikowska eine unwillige Braut spielt.

Andere Filme erfüllen zumindest themenmäßig den Wettbewerbsanspruch ans politisch aufklärerische Kino: Es geht um Anders Breiviks Terroranschlag auf Utoya (Erik Poppe), der Flugzeugentführung von Entebbe (Jose Padilha), irische Hungersnot im 19. Jahrhundert (Lance Daly), Flucht vor den Nazis (Christian Petzold).



Markus Imhoof, Philip Gröning, Christian Petzold, Thomas Stuber

Den Blick auf die Vergangenheit gerichtet haben auch viele Forumsfilme. 44 sind es in diesem Jahr. "Die Beschäftigung mit der Vergangenheit ist das, was die Filmemacher*innen im Moment extrem beschäftigt. Gerade weil der Blick in die Zukunft weltweit verstellt ist. Man kann sich nicht wirklich vorstellen, wie unsere Zivilisation in 20 oder 50 Jahren aussehen wird. Um Antworten auf diese Frage zu finden, muss man sich unbedingt mit der Vergangenheit beschäftigen, denn dort liegen die Gründe für das Heute. Das ist die Voraussetzung für zukünftige Utopien", erklärt Sektionsleiter Christoph Terhechte im Interview für den Forumskatalog. Dazu zählt er Dokus über Kurt Waldheim, den Falklandkrieg, ein Amnestieprogramm für uruguayische Militärs oder über die deutsche Colonia Dignidad in Chile.
 
Doch ist der Blick zurück natürlich nicht alles: Es gibt auch einen Film über Fußball von Corneliu Porumboiu, dessen Fußballdoku "The second game" noch in bester Erinnerung ist, einen über Tennis (Julien Faraut seziert in "In the Realm of Perfection" das Tennisspiel John McEnroes, über die Hoffnungen kirgisischer Frauen ("Jamila" von Aminatou Echard) und afrikanischer Intellektueller ("Afrique, La pensée en mouvement Part I" von Jean-Pierre Bekolo). Alte Bekannte sind ebenso dabei (Hong Sangsoo, James Benning, Edgar Reitz, Guy Maddin) wie Debütanten (zum Beispiel die 20jährige Yoko Yamanaka mit "Amiko"). Wie Terhechte im Katalog sagt: "Wir ... versuchen ein Programm zu erstellen, in dem die unterschiedlichsten Farben ein Ganzes bilden, das einen roten Faden tragen kann".

47 Filme sind fürs Panorama annonciert, das nach dem Ausscheiden von Wieland Speck in diesem Jahr erstmals von drei Kuratoren betreut wird: Paz Lázaro, Michael Stütz und Andreas Struck. Was sie anders machen wollen, versuchen sie im Interview für ihren Katalog zu erklären: "Die Ära Speck war sehr fokussiert auf die Person des Kurators, der die Identität der Sektion geprägt hat. Jetzt diskutieren wir zu dritt die Auswahl der Filme und haben 2018 ein buchstäbliches Panorama, also ein extrem reichhaltiges Spektrum an Arbeiten, zusammengestellt. Wir haben uns Freiräume geschaffen jenseits der Erwartungen." Konkreter wird es nicht. Themenmäßig geht es um Grenzen und Grenzüberschreitungen (dankenswerterweise spielt hier auch die Digitalisierung eine Rolle, in Timur Bekmambetovs "Profile" zum Beispiel, in "Garbage" von Q oder "Tinta Bruta" von Marcio Reolon und Filipe Matzembacher) sowie der Aufschwung der Rechten und der Niedergang der Linken (etwa in Jan Geberts Film "When the War Comes" über eine rechtsradikale paramilitärische Gruppe in Slowakien oder Bojina Panayotovas "Je vois rouge" über den sentimentalen Rückblick ihrer Eltern auf den Kommunismus).

Weitere Reihen auf der Berlinale sind die Retrospektive "Weimarer  Kino - neu  gesehen" mit 28 Filmen, die Generation mit 65 Filmen, die Perspektive Deutsches Kino mit 14 Filmen, das Kulinarische Kino mit 10, die Reihe NATIVe mit 3, die Berlinale Specials mit 12, die Berlinale Series mit 7, die Berlinale Classics mit weiteren 7, die Berlinale Shorts mit 22 und die Willem Dafoe gewidmete Hommage mit 10 Beiträgen.

Positiv gesehen kann man sich ab heute wie Jack Lemmon in der Konditorei seiner Kindheitsträume fühlen: "There was jellyrolls and mocha éclairs and sponge cake and Boston crème pie and cherry tarts ...". Was kümmert einen da die Magenverstimmung von morgen!