Außer Atem: Das Berlinale Blog

Zwei fette Fische: Abel Ferraras "Siberia" (Wettbewerb)

Von Thierry Chervel
25.02.2020.


Das war schon Punk! Der Film beginnt in grünlich-flauem Restlicht. Schneelandschaft. Fast Tarkowski-like, aber gibt es bei Tarkowski Berglandschaften? Eine verlorene Hütte mit Blick auf düsteres Bergpanorama. Eine Kneipe, Willem Dafoe, alias Clint hinterm Tresen. Und ein Indianer kommt an, eine Pelzwurst sozusagen. So dick ist er eingewickelt, so kalt scheint es zu sein. Er redet indianisch, aber das macht nichts, Clint versteht schon, was er meint: ein Schnaps, bitte.

Clint hat auch einen Spielautomaten in seiner Kneipe. Der Spieler fragt ihn, ob er auch oft spielt. Nein. Ob er nicht gewinnen will? Nein. Warum nicht? Weil ich nicht verlieren will. Dann aber kommen schon die Russinnen, eine Alte und eine Schöne. Die Hütte scheint in jener Gegend von Alaska zu liegen, wo man zu Fuß von Sibirien kommen kann (aber geht das, gibt es da überhaupt solche Berge?) Die Alte sagt beim zweiten Wodka nicht nein. Die Schöne aber lehnt dankend ab. Sie öffnet statt dessen ihren Pelz, der so dick ist wie beim Indianer und zum Vorschein kommt der runde Bauch einer Schwangeren und zwei fast ebenso pralle Brüste. Clint kniet vor ihr nieder, küsst den Bauch, wiegt die Brüste, Szenen von einer beiläufigen Indezenz, wie sie nur der Traum kennt.

Aus dem Traum kommt der Film auch nicht raus. Er erzählt die Stationen von Clints Leben, assoziativ. Zweimal taucht der Vater auf, der ihn mit zum Fischen mitnahm, nach Nordkanada. Daher wohl die Berghütte, von der Clint mit seinen Schlittenhunden aufbricht, bis er in einer Höhle landet. Hier redet zwar einerseits der Vater mit ihm, obwohl er tot ist (hat zumindest der Arzt gesagt), andererseits spielt sich ein stilles Defilee von Horrorfiguren ab. Eine Zwergin kommt auf dem Rollstuhl, und sie ist nackt.

Das ist der Moment, wo ein großer Teil des doch mit allen Wassern gewaschenen Pressepublikums aufsteht und das Weite sucht. Zu Unrecht, finde ich, der diesen Film mit Vorurteilen begonnen hat und sich nun dem Bilderbogen überlässt. Wieso, was ist denn, die Zwergin lächelt doch ganz zutraulich? Sie ist halt so. Und etwa so würde man wohl auch in einem Traum über ein solches Bild nachdenken.

Die Huskies bringen Clint in die Wüste. Dort wieder Vater, im Beduinenzelt, mit Skalpell. Dann folgt eine idyllische Berglandschaft, und ein Zauberer, der ihm sagt, worauf's ankommt. Auf Empathie.

Und aufs Tanzen und zwar zu diesem Lied (ich habe auf meinem Handy heimlich Shazam geöffnet):



So folgen noch einige Stationen, etwa mit seiner Frau. Der einzige Fehler, den ich gemacht habe, war, dich zu sehr zu lieben, sagt er. Seine Frau lacht sarkastisch, auch das Publikum lacht. Er soll seinen Sohn begrüßen, sagt sie, aber sie ist eine Tochter. Daraus wird seine Mutter. Und dann folgt Sex, aber das ist gar nicht seine Frau, sondern eine hübsche Asiatin, dann eine hübsche Schwarze, dann doch seine Frau, und sie zeigt's ihm.

Die Hunde bringen ihn zurück in die Berge, ein Bogen schließt sich also doch. Seine Hütte ist allerdings abgebrannt. Also macht er ein Lagerfeuer. Der Indianer kommt, bringt zwei fette Fische mit. Einer wird gebraten, danach eine Zigarette. Freuden eines Männerlebens! Am Morgen ist der Indianer weg. Am Ende bleibt, wie an unser aller Lebensende, ein abgenagtes Fischskelett. Aber nein, da ist ja noch der andere Fisch, und er spricht. Die Hunde spitzen höflich irritiert die Ohren. Es klingt hebräisch, oder vielleicht auch native American. Und ich bin sicher, es bedeutet: "Nicht alles im Leben Sinn muss Sinn ergeben, schon gar nicht ein Film von Ferrara."

Thierry Chervel

"Siberia". Regie: Abel Ferrara. Mit Willem Dafoe. Italien / Deutschland / Mexiko 2020. Wettbewerb. 92 Minuten. (Alle Vorführtermine)