Außer Atem: Das Berlinale Blog

Den Hocker wegziehen: Mohammad Rasoulofs "There is No Evil" (Wettbewerb)

Von Thierry Chervel
28.02.2020.


Ausführlich, fast schon mit pädagogischer Geduld, und auch wohl an sein internationales Publikum gewandt, zeigt Mohammad Rasoulof in der ersten Episode seines Films, dass man in Teheran ein ganz gewöhnliches und keineswegs unkomfortables Leben leben kann. Der Supermarkt ist gut gefüllt, das Ministerium teilt einem eine ordentliche Portion Reis zu, man kann der kleinen Tochter den Wunsch erfüllen, abends eine Pizza essen zu gehen (sie muss natürlich vorher ihre Hausaufgaben machen). Aber auf dem Amt, auf dem Heshmat arbeitet, beginnt der Arbeitstag früh, der Wecker klingelt um drei.

"There is No Evil", der Titel dieses aus vier lose zusammenhängenden Episoden bestehenden Films ist natürlich sarkastisch gemeint. Denn das Böse ist in diesem Film überall dort, wo es abwesend zu sein scheint. Heshmat, dem Helden seiner ersten Episode, die in Teheran spielt, ergeht es auch nur deshalb so idyllisch, weil er ohne zu fragen das Spiel mitspielt. Für die Helden aus den anderen Episoden läuft das Leben nicht ganz so behaglich. Weil sie nicht mitmachen wollen, oder weil sie hineingezogen werden.

Dies ist nach "DAU. Natasha" der zweite Film in diesem Festival, der zeigt, dass Diktaturen auf der Kompromittierung des einzelnen basieren. Sie stecken ihn in Dilemmata, aus denen es kein Entrinnen gibt, zumindest suggerieren sie es. Pouya, der junge Wehrdienstleistende aus Episode 2, will bei einer Hinrichtung nicht "den Hocker wegziehen". In der Unterhaltung mit seinen Kameraden, die vor der geplanten Hinrichtung stattfindet, bietet sich ein Kamerad an, diese Aufgabe für ihn zu übernehmen, wenn er ihm Geld für seine kranke Schwester gibt. Pouya will das durchaus tun. Aber da ruft ein dritter: "Du willst dich von deiner Schuld freikaufen. Du machst dich nur noch schuldiger!" Also kein Entrinnen, die Diktatur beschmutzt dich. Auch wenn diese Episode dem Helden einen Ausweg schenkt, einen Traum von Befreiung.

Eine Hinrichtung wird gezeigt. Es ist etwas Trockenes, Nüchternes, eine Amtshandlung. Der Regisseur konfrontiert sein Publikum zwar, schont es aber auch, anders etwa als Lars von Trier, auch so ein Meister des Reenactment, in "Dancer in the Dark". Man sieht nur zehn Beine von fünf Delinquenten, die ins Leere fallen, mehr oder weniger lange Halt suchen und zappeln, dann nur noch leise in der Luft schwingen, während der Urin an den Beinen entlang auf den Boden plätschert.

"There is No Evil" bezieht eine ganz andere Haltung zum Funktionieren einer Diktatur als "Dau. Natasha". Während Ilya Khrzhanovsky das Geschehen durch Wiederholung im Grunde nur verdoppelt - als wäre Wiederholung schon Therapie - ist "There is No Evil" ein Monument der Dissidenz. Rasoulof zeigt, dass es einen Abscheu vor der Anmaßung der Diktatur, über Tod und Leben zu entscheiden, gibt, und dass Menschen das Risiko eingehen, sich zu verweigern. Auffällig ist dabei, das man bei Rasoulof anders als bei Khrzhanovsky, nie einen wirklichen Repräsentanten der Obrigkeit zu Gesicht bekommt. Im Grunde spielt sich alles in den Köpfen der einzelnen ab.

In Episode 3 geht es ebenfalls um den Wehrdienst und ebenfalls um die Fage, ob ein Wehrdienstleistender an einer Hinrichtung teilnimmt - offenbar ist es ein beliebtes Spiel der iranischen Diktatur, gerade junge Männer auf diese Art ins System zu zwingen (für Frauen haben sie all das allpräsente Kopftuch reserviert). Aber die Familie auf einem wunderschönen entlegenen Berghof, in die der Wehrdienstleistende Javad gerät, lebt in geradezu erhabener Abwendung von diesem System. Es ist ganz offensichtlich eine bürgerliche Familie, die diese Distanzierung vom System bewusst gewählt hat. Glasklar sagt die Mutter zu Javad, der um ihre Tochter wirbt, dass er selbst entscheiden kann, ob er an einer solchen Hinrichtung teilnimmt oder nicht. Die trockene Selbstverständlichkeit, mit der sie das sagt, ist allerdings mit einem tödlichen Risiko erkauft. Und Javad, der selbst nicht politisch sein will, wird scheitern.

Episode 4 ist eine unvermutete Fortsetzung von Episode 2. Auch Bahman hat sich als junger Wehrdienstler verweigert, und Episode 4 erzählt vom Preis, den er dafür bezahlen muss. Auch er lebt in Distanzierung vom Regime irgendwo in den Bergen und bekommt Besuch von der Tochter eines ehemaligen Kollegen, die in Deutschland wohnt. Sie fragt ihn, ob er glücklich sei. "Nicht glücklich", sagt er, "aber ruhig."

Im Interview mit Christiane Peitz vom Tagesspiegel sagt Rasoulof auf die Frage, warum er nicht ins Exil geht: "Warum sollte ich weglaufen? Ich habe mir nichts zuschulden kommen. Wenn jemand das anders sieht und findet, ich müsste zur Strafe meiner Rechte beraubt werden, dann übernehme ich doch nicht in vorauseilendem Gehorsam dessen Arbeit." Ich hoffe, dass Rasoulofs Mut bei diesem Festival belohnt wird.

"There Is No Evil". Regie:  Mohammad Rasoulof. Mit Ehsan Mirhosseini, Shaghayegh Shourian, Kaveh Ahangar, Alireza Zareparast, Salar Khamseh. Iran 2020,  150 Minuten. (Alle Termine)