
Folgt man den jüngsten Enthüllungen des amerikanischen Klatschblogs RadarOnline, das sich mit Veröffentlichungen unvorteilhafter Fotos von Celebrities einen exzellenten Ruf als seriöses journalistisches Medium von einigem Rang gemacht hat, könnte man zu dem Schluss kommen, dass Teile des Kunstbetriebs ein Underground-Netzwerk für aktive Pädophile bilden.
Zugegeben, die hier skizzierte Tragweite erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Und offenbar auch nicht der Deutschen Welle, dem Rolling Stone, Focus und anderen deutschsprachigen Medien (von den englischsprachigen ganz zu schweigen), die den Coup von RadarOnline mehr oder weniger ohne eigene Recherche weitgehend übernommen haben: Dort veröffentlichte man vor wenigen Tagen den Polizeibericht über die bei einer Hausdurchsuchung im Jahr 2003 bei Michael Jackson beschlagnahmten Beweismittel für einen Prozess, in dem es darum ging, ob der Popmusiker Minderjährige sexuell misshandelt und missbraucht hatte. Die zuständigen Ermittlungsbehörden haben mittlerweile bestätigt (siehe die Ergänzung dieser Meldung von Vanity Fair), dass es sich bei dem Dokument um eine Kopie ihres Bericht handelt, den sie allerdings nicht selbst veröffentlicht hätten. Auch soll dem Bericht einiges an Material "aus unbekannten Quellen oder dem Internet" beigefügt worden sein. Die Meldung von RadarOnline legt den Schluss nahe, dass der Bericht von einem an der Ermittlung beteiligten Beamten verkauft wurde.
Dieser hätte schon aus einem finanziellen Motiv heraus ein handfestes Interesse daran, dass das Material möglichst brisant ist: Jackson verfügte demnach über eine stattliche Sammlung von höchst bizarrem Material, das alles bislang Vermutete in der Causa Jackson in den Schatten stellt. Bei der Deutschen Welle hat man sich die Mühe gemacht, das ins Deutsche zu übersetzen: "Die Dokumente entlarven Jackson als ein manipulatives, drogen- und sexverrücktes Raubtier, das Blut, Grausamkeiten, eindeutig sexuelle Bilder von Tieropferung und perverse Sexpraktiken von Erwachsenen benutzt, um Kinder gefügig zu machen", behauptet demnach die Quelle. Darüber hinaus soll der Popmusiker auch Fotos von gefolterten Kindern besessen haben. Das Kopfkino sprudelt über: Wer denkt da nicht sofort an finsterste Skandale - vom "Kannibalen von Rotenburg" bis zu Josef Fritzl?

Die Beamten arbeiteten zum Glück penibel: Sämtliche Werke sind hinreichend bibliografiert, so dass sie sich mit gängigen Suchmaschinen problemlos auffinden und überprüfen lassen. Schon alleine das macht stutzig: Die Urheber von Snuff-, Folter- und Missbrauchsmaterialien - der Begriff "Kinderpornografie", das nur am Rande, stellt eine Verniedlichung dar, denn die Produktion von Pornografie fußt auf Konsens, alles andere ist Vergewaltigung und Missbrauch - diese Urheber also legen bekanntlich höchsten Wert darauf, namentlich ungenannt zu bleiben. Die Nachrecherche bringt jedoch ans Licht: Die von RadarOnline und den abschreibenden Medien beinahe schon genüsslich als besonders perverses Material aus dem dunklen Pädophilen-Underground apostrophierten Fotos stellen nicht etwa heiße, in klandestinen Insiderkreisen gehandelte Ware dar, sondern finden sich samt und sonders in Fotobänden, die wahrscheinlich in jeder entsprechenden Kunstbuchhandlung zu erwerben sind und bei den Onlineversandhäusern sowieso.
Wo sind sie, die Fotos gefolterter Kinder? Der Vorwurf, solche erstellt und sich damit im höchsten Maße strafbar gemacht zu haben, richtet sich in erster Linie an Simen Johan. In seinem Bildband "Room to Play" inszeniert der in New York lebende, weltweit ausgestellte Fotograf und Bildhauer Kinder und Jugendliche in surrealen, apokalyptisch anmutenden Tableaus. Dabei verfremdet er die Körper der Kinder mitunter mittels digitaler Bearbeitungtechniken und erzielt auf diese Weise den grotesken Effekt von Mischwesen, die gleichermaßen kindliche wie erwachsene Facetten haben. Das kann und soll verstörend wirken. Wer dies aber im justiziablen Kontext als "Fotos gefolterter Kinder" bezeichnet, bezichtigt womöglich auch "Tatort"-Zuschauer, sich an abgefilmten Leichen zu ergötzen.

So geht das im Polizeibericht in einem fort weiter. Beschlagnahmt wurde der Fotoband "Cronos" von Pere Formiguera, der auf seiner Website ein motivisch breites Werk dokumentiert. Darunter auch einige Fotos mit Minderjährigen, die auf den ersten Blick vielleicht stutzen lassen, wieviel nackte Haut sie zeigen. Justiziabel, aufreizend oder gar übergriffig und missbräuchlich sind diese Bilder allerdings nicht. Eher in die Larry-Clark-Schule gehört der Band "Golden Age of Neglect" von Ed Templeton. Die darin versammelten Fotos wurden 2002 im Palais de Tokyo in Paris ausgestellt, das bislang eher nicht als Treffpunkt der französischen Pädophilen-Netzwerke in Erscheinung getreten ist. Auf Vimeo kann man sich einen Eindruck verschaffen, welch ungeheuer skandalösen Bilder sich in diesem Band befinden. Erwähnung findet auch die Serie "Poo-Chi" der Fotografin Mayumi Lake, die darin Achselhöhlen mittels Bildausschnitt und Textildrappierung als vermeintlich anstößigen Blick in den Intimbereich camoufliert und auf diese Weise voyeuristische Blickregimes und deren Begehrlichkeiten spielerisch enttarnt (hier unsere Rezensionsnotiz zu dem Buch).
Auch besaß Jackson offenbar Kopien von Wilhelm von Gloedens Darstellungen antiker Knaben aus dem späten 19., frühen 20. Jahrhundert. Viele seiner Bilder werden heute in der honorigen Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte aufbewahrt. Dass es sich bei diesen Werken - und schon der enorme handwerkliche Aufwand, der aus ihrer offenkundigen Inszeniertheit spricht, macht kenntlich, dass hier Werkscharakter vorliegt - um Material aus dem einschlägigen Milieu handelt, wird niemand behaupten.

Es könnte so sein, vielleicht auch nicht. Den Polizeibeamten ist sicher kein Vorwurf zu machen: Sie haben mögliche Beweise eingeholt, diese kursorisch beschrieben und im Hinblick auf ein Gerichtsverfahren eingeschätzt. Überhaupt soll es hier nicht um eine Ehrenrettung Michael Jacksons oder um eine Spekulation darüber gehen, ob der Musiker Kinder missbraucht hat oder nicht.
Nein, wichtig ist hier, mit welcher Selbstverständlichkeit Kunstwerke und Fotografien unter Bedingungen eines verlogenen moralischen Rigorismus zu verkommenen Objekten stilisiert werden. Dass daran maßgeblich eine Newskloake beteiligt ist, die einen erheblichen Teil ihres Umsatzes aus verklemmten "Oopsie"-Decolleté-News bezieht, ist noch die bittere, aber kaum verwunderliche Ironie der Geschichte.

Wäre das Szenario tatsächlich so, wie RadarOnline es insinuiert, müssten mit Fug und Recht Ermittlungsverfahren gegen sämtliche Onlinebuchhändler eingeleitet werden, da diese dann ja wohl Snuff- und Missbrauchsfotos vertreiben. RadarOnline käme in die Verlegenheit, erklären zu müssen, dass es sich etwa bei Simen Johans Arbeiten um Snufffotos von Kindesmisshandlungen handelt. Stattdessen wählt man drastische Wörter im Kommentar und verlässt sich darauf, dass allein jene Begriffe weitergetragen werden. Von den zweitverwertenden Journalisten wird sich doch gewiss keiner die Mühe machen, sechzig Seiten Ermittlerprosa durchzulesen und, Gott behüte, nebenbei auch noch Google zu konsultieren.

Thomas Groh
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