Bücher der Saison

Bücherherbst 2011

28.11.2011. Liegt's am Hype des Deutschen Buchpreises oder ist die deutsche Literatur tatsächlich so in Form? Jedenfalls dominierte sie in den Buchmessenbeilagen. Außerdem begegnen wir Michelangelo in Konstantinopel, selbstmöderischen Käfern in Bukarest und Dandys in Stockholm. Wer etwas belebenden Optimismus tanken will, vertiefe sich in Steven Pinkers "Gewalt". Eva Illouz' Analyse des Liebesmarktes ist eher was für Hartgesottene. Und, tja, wer die Geschichte des Computers besser verstehen will, sollte die Steve Jobs-Biografie von Walter Isaacson durchaus lesen!
Romane / Krimis, Lyrik, Comics, Essays, Autobiografien / Sach- und politische Bücher


Deutschsprachige Literatur

Sebastian Polmans' Erstlingsroman "Junge" erzählt zwei Tage aus dem Leben eines Jungen in der westdeutschen Provinz, an der deutsch-holländischen Grenze. Ein erstaunlicher, "hochpoetischer" Roman, der den "Riss zwischen Ich und Welt" deutlich macht, so Helmut Böttiger in der SZ. Minutiös beschreibt Polmans, was der Junge tut, wie er sich duckt und klein macht, wie ihm die Angst im Nacken sitzt und er sich nichts mehr wünscht "als spurlos zu verschwinden", so Roman Bucheli in der NZZ. Doch was in seinem Innern vorgeht, erfährt man nicht. Der Junge scheint Polmans ebenso ein Rätsel zu sein wie dem Leser. Das hat Bucheli so mitgenommen, dass er sich von den falschen Konjunktiven im Buch nicht hat ablenken lassen. Sehr gut besprochen - vor allem wegen der resolut unsentimentalen Sprache - wurde auch Angelika Klüssendorfs "Das Mädchen" über ein junges Mädchen, das in der DDR aufwächst - erst bei ihrer prügelnden Mutter, dann in einem Kinderheim für schwer erziehbare Jugendliche - und sich nicht unterkriegen lässt.

Judith Schalansky erzählt in ihrem Roman "Der Hals der Giraffe" von einer Biologielehrerin in Vorpommern, die die letzte Klasse unterrichtet, die an ihrer Schule noch Abitur machen wird. Danach wird die Schule mangels Nachwuchs geschlossen. Nicht dass es der Lehrerin um die Schüler leid tut, die sie mit kühl darwinistischem Blick beurteilt: "Schon jetzt überflüssig wie eine alte Jungfer. Opfer auf Lebenszeit", lautet ein Verdikt. Der biestigen Nüchternheit ihrer Heldin setzt Schalansky die Natur entgegen, nicht nur als individuell bedrohliche Triebgewalt, sondern vor allem als Macht, die sich die Straßen und Gehwege der entvölkerten Landstriche zurückerobert, erklärt Felicitas von Lovenberg in der FAZ. "Sprachlich und psychologisch meisterhaft", lobt Alexander Cammann in der Zeit. Und in der Welt befindet Elmar Krekeler bündig: "Unser Buch des Herbstes."

Sie will zu viel! Das meinten sechs Rezensenten zu Antje Ravic Strubel und ihrem Roman "Sturz der Tage in die Nacht" Zu kompliziert, zu konstruiert, zu künstlich fanden die Kritiker die Geschichte um eine Vogelforscherin, die auf einer schwedischen Ostseeinsel von ihrer DDR-Vergangenheit eingeholt wird: ihrem Sohn, mit dem sie das Bett teilt, bevor sie weiß, dass es ihr Sohn ist, und einem Mann, der sie in der DDR bespitzelt und verraten hat. Trotz gewisser Ermüdungserscheinungen haben die Kritiker diesen Roman mit Interesse gelesen, denn Strubel, auch da sind sich alle einig, zählt zu den interessantesten deutschen Autoren. Und das scheint auch hier immer wieder auf, vor allem in der Beschreibung des DDR-Alltags. Eugen Ruges "In Zeiten des abnehmenden Lichts" ist ein "DDR-Buddenbrook-Roman", so Iris Radisch in der Zeit, der die Jahre 1952 bis 2001 umspannt. Erzählt wird vom Verfall einer Familie aus dem intellektuellen Establishment der DDR. Ruge wurde für seinen Roman mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Für die Kritiker ging das in Ordnung. In der SZ bewundert Jörg Magenau Ruges Fähigkeit zur Einfühlung in seine Figuren. Und in der Welt feiert Michael Kumpfmüller die "präzise, unprätentiöse Sprache, die ganz auf Beobachtung setzt".

Wir schreiben das Jahr 1972. Während in München Mitglieder des Schwarzen September das Olympische Dorf überfallen, werden in der Sahara vier Hippies ermordet. Spionagethriller, Melodram, postkolonialer Gesellschaftsroman? FAZ-Kritiker Friedmar Apel wusste es auch nicht, aber wie Wolfgang Herrndorf in seinem Roman "Sand" die "Nichtigkeit der menschlichen Existenz als großes Kunststück" aufgeführt wird, hat ihm sehr imponiert. Für Jan Küveler in der Welt war die Sache dagegen klar: Das ist ein "Thriller mit jeder Menge Krawumm, Zisch und Peng", bei dem Nabokov, Hunter S. Thompson und Roberto Bolano Pate gestanden haben. Herrndorf führt übrigens auch ein Blog, in dem über seinen Alltag schreibt, der nicht unwesentlich von seinem Hirntumor geprägt ist. Sehr gelobt wurden auch Thomas Melles surrealistischer Berlinroman "Sickster" in dem ein verkrachter Akademiker mit Internet-Guerilla-Aktionen das Kapitalismusübel an seiner Wurzel zu packen versucht. Nicole Henneberg fühlte sich in der FAZ an Ginsbergs "Howl" erinnert. Und Marlene Streeruwitz führt uns mit "Die Schmerzmacherin" in die Welt einer privaten Sicherheitsfirma, in der die 24-jährige Amy - auch am eigenen Leib - lernt, was Folter ist. Die Kritiker waren nach der Lektüre geistig und körperlich so erschöpft, dass sie gerade noch den Hut ziehen konnten, bevor sie zu Boden gingen.

Gut besprochen wurden weiterhin "Wintzenried" Karl-Heinz Otts deftige Romanbiografie über den Philosophen Jean-Jacques Rousseau als narzisstischem Jüngling, der sich "in onanistischer Selbsterhitzung ein Programm der Weltbeglückung" ausdenkt, so Michael Braun in der NZZ, und Michael Kumpfmüllers Kafka-Roman "Die Herrlichkeit des Lebens" der den Dichter als glücklich Verliebten beschreibt und auch der bis dato von der Literaturwissenschaft eher herablassend behandelten Dora Diamant ein kleines Denkmal setzt. Kafka beim Sex? Kann sich nicht nur Harald Jähner in der FR gut vorstellen.

Wer im Frühjahr Peter Kurzecks "Vorabend" inhaliert hat und jetzt nach mehr Stoff in Form von 1000-seitigen Beschreibungen von Jugend, Leben und Denken eines Schriftstellers giert, wird mit Navid Kermanis "Dein Name" und Jan Brandts Roman "Gegen die Welt" bis Neujahr versorgt sein.

Auf Jan Peter Bremers "Der amerikanische Investor" - ein Schriftsteller schreibt einen Brief an den Käufer seines Mietshauses - und Leif Randts "Schimmernder Dunst über CobyCounty" eine leicht giftige Utopie für Kreative, haben wir schon im Bücherbrief hingewiesen. Ebenso auf Sibylle Lewitscharoffs Roman über den Philosophen Blumenberg dem ein Löwe als Trostgestalt erscheint, während seine Verehrer einen auffällig frühen Tod finden. Die Kritiker sangen nicht nur Hymnen, Lewitscharoff würde für ihren Roman auch mit dem Wilhelm-Raabe-Preis ausgezeichnet.


Frankreich

Die Hauptfigur in Robert Bobers autobiografischem Roman "Wer einmal die Augen öffnet, kann nicht mehr ruhig schlafen" ist ein junger Mann, der Anfang der 60er Jahre in Paris eine Statistenrolle in einem Truffaut-Film bekommt. Die Szene wird dann zwar gestrichen, aber sie ist der Ausgangspunkt von dem aus Bober - der selbst Regieassistent von Truffaut war - seinen Helden durch die Straßen von Paris spazieren, seiner Familiengeschichte nachspüren, und dabei en passant 40 Jahre Kinogeschichte, Besatzungszeit, Algerienkrieg oder Pariser Kommune rekapitulieren lässt. SZ-Rezensent Alex Rühle hat sich in diesen Roman regelrecht verliebt, was nicht zuletzt an der seine "vermeintliche Anstrengungslosigkeit" von Bobers Sprache lag. In der Zeit erliegt auch Walter Rossum dem magischen Paris jener Jahre. Sehr gut besprochen in FAZ und SZ wurde auch Mathias Enards kurzer Roman "Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten" der von einer Reise Michelangelos nach Konstantinopel erzählt, wo er auf Einladung des Sultans eine Brücke über das Goldene Horn bauen soll. In Literaturen beschreibt Martina Meister den Roman in einer ausführlichen Kritik als "ungewöhnlich kurz, ungewöhnlich kraftvoll, ungewöhnlich elegant".


Osteuropa

"Der Körper" ist nach "Die Wissenden" der zweite Teil von Mircea Cartarescus "Orbitor"-Trilogie. Der Roman spielt in den gigantischen Plattenbauten am Bukarester Boulevard Stefan cel Mare in den sechziger und siebziger Jahren. Häuserruinen, zugige Plätze, Schatten, Schluchten überall - darin der Erzähler, dem "erregte Amöben, selbstmörderische Käfer, bucklige Trinker" erscheinen, so Mathias Schnitzler in der Berliner Zeitung. Für ihn las sich das wie ein "fantastischer Fiebertraum". Die anderen Rezensenten beschreiben das ähnlich. Cartarescu verwandelt Materie in Lebewesen und umgekehrt, so ein faszinierter Ulrich M. Schmid in der NZZ. Wolfgang Schneider spricht im Deutschlandradio von einer "mystisch-surrealen Wall of Words". Reiner Eskapismus? Nein, meint Jan Koneffke im Deutschlandfunk, denn dazwischen gibt es immer wieder Schilderungen des kindlichen Blicks "auf die kommunistische Propaganda oder die Doppelmoral der Erwachsenen, ganz bodennahe satirische Volten". Sehr gelobt wird auch die Übersetzung von Gerhardt Csejka und Ferdinand Leopold.

Juri Andruchowytschs "Perversion" erschien im Original schon 1999. Ein Performance-Künstler mit dem schönen Namen Stanislaus Perfezki reist nach München und wird dort nach Venedig entführt, um an einem Kongress über den "Post-karnevalistischen Irsinn der Welt" teilzunehmen. Liebe, Orgien, mysteriöse Spitzel und am Ende ein verschwundener Perfezki - das alles wird erzählt in einem an vielen Vorbildern geschulten Stil. Für die begeisterte FAZ-Rezensentin Nicole Henneberg markiert der Roman den Beginn der ukrainischen Postmoderne. Im Deutschlandradio würdigt Jörg Plath die vielen Anspielungen, doch kam ihm der Roman streckenweise auch wie "ein hochtouriger Mummenschanz" vor. Und in der FAZ versichert Nicole Henneberg: Unbedingt lesenswert. Die zwei Helden in Andrzej Stasiuks Roman "Hinter der Blechwand" sind zwei Händler, die auf Märkten in ganz Südosteuropa solide Secondhand-Kleidung verticken. Einer der beiden verliebt sich - ausgerechnet in eine Frau, die einem Menschenhändler gehört. Die Geschichte selbst hat Katarina Bader (Zeit) und Andreas Breitenstein (NZZ) nicht recht überzeugt. Aber die "rhythmische, poetische Sprache" hat beide doch wieder in ihren Bann gezogen. In der Berliner Zeitung meint Harald Jähner: "Mit größerer poetischer Kraft ist der globale Markt wohl noch nicht dargestellt worden." Und die FAZ kann von Stasiuks leuchtender Prosa eh nie genug bekommen. Schließlich sei noch auf "Tote Tiere" hingewiesen, den ersten Roman des Übersetzers Olaf Kühl. Ein Deutscher und ein Pole machen sich nach Sibirien auf, um Chodorkowski zu befreien. Hintergrund ist eine Reise nach Sibirien, die Kühl tatsächlich mit Stasiuk machte. Christoph Schröder (SZ) hat sich sehr gerne mitnehmen lassen.


Spanischsprachige Literatur

Antonio Munoz Molina erzählt in "Die Nacht der Erinnerungen" von einem Architekten (und Sozialisten), der sich ausgerechnet am Vorabend des Spanischen Bürgerkriegs in eine Amerikanerin verliebt. Während er ihr sehnsüchtig nachreist, bekommt er nur peu a peu mit, was da in seinem Land eigentlich gerade passiert. Der Roman erzählt auch die Geschichte der Zauderer und Unpolitischen, die zwischen Faschisten und Republikanern zerrieben wurden, meint FAZ-Rezensent Paul Ingendaay, der beeindruckt ist, wie historisch präzise und atmosphärisch dicht Munoz Molina erzählt. In der NZZ bittet Hans-Jörg Neuschäfer den Leser, dies nicht als reine Liebesgeschichte zu lesen: Zwar sei die Hauptfigur fiktiv, doch viele andere Personen im Roman gab es wirklich. Auch der Held in Mario Vargas Llosas Roman "Der Traum des Kelten" ist ein Mann, der zwischen allen Fronten zerrieben wird. Vargas Llosa erzählt die Geschichte des schwulen irischen Freiheitskämpfers Roger Casement (es gab ihn wirklich), der gegen den Kolonialismus in Afrika kämpft und während des Ersten Weltkriegs nach Deutschland reist, um Unterstützung für die irische Unabhängigkeit zu suchen. Zurück in Britannien wurde Cormant wegen Hochverrats angeklagt und 1916 hingerichtet. Viel Stoff, den Vargas Llosa mit "geradezu dokumentarischer Schlichtheit" aufbereitet, so Jens Jessen in der Zeit. Manchmal knirscht die Konstruktion und Cormants Homosexualität scheint dem Autor einiges Unbehagen bereitet zu haben, aber alles in allem fanden die Rezensenten - mit Ausnahme von Merten Wortmann in der SZ - den Roman packend und lehrreich.

Sehr gut besprochen wurde natürlich auch Roberto Bolanos Debütroman "Das Dritte Reich" der von einem Deutschen erzählt, der im Urlaub an der Costa Brava mit einem mysteriösen Verbrannten ein Strategiespiel namens "Das Dritte Reich" spielt. Nichts postmodernes ist an diesem Roman, meint Jens Jessen in der Zeit. Bolano meint es ernst mit dem Bösen. Und seine Fähigkeit, eine Atmosphäre des Unheimlichen heraufzubeschwören, ist schon in diesem Erstlingswerk voll ausgeprägt, bemerken die Rezensenten in NZZ, FAZ und SZ.


Nordische Länder

So richtig gezündet hat Island als Buchmessengastland bei den Kritikern nicht. Die meisten Bücher wurden nur ein oder zwei Mal besprochen und das ohne große Begeisterung, muss man sagen. Empfehlen kann man vielleicht Hallgrimur Helgasons Roman "Eine Frau bei 1000 Grad" Der Anfang geht jedenfalls gut ab: "Ich lebe allein in einer Garage, zusammen mit einem Laptop und einer alten Handgranate. Wir haben es wahnsinnig gemütlich." Eine neunzigjährige, bösartige, an Krebs sterbende Kettenraucherin zieht auf Facebook vom Leder und erinnert sich an ihre Kriegserlebnisse. In der SZ war Jutta Person vom Zynismus der Alten einigermaßen verstört, andererseits, gibt sie zu, hat sie sich doch ziemlich gut unterhalten. Im Deutschlandradio ist Carola Wiemers beeindruckt von der Erzählerin, die "wie ein Legehuhn auf einer Handgranate aus dem Zweiten Weltkrieg [brütet], um sich wenigstens symbolisch einen Rest an Handlungsfreiheit zu bewahrenden". Gut besprochen wurde auch Gyrdir Eliassons Roman "Ein Eichhörnchen auf Wanderschaft" über einen Jungen, der sich in ein Eichhörnchen verwandelt und dessen Ängste durchlebt. "Filigrane, zarte Prosa", lobt Aldo Keel in der NZZ. Hingewiesen sei auch auf die Neuübersetzung der Isländersagas denen Stephan Speicher in der SZ ein Loblied sang. Mehr über die neuen isländischen Bücher hier.

Klas Östergrens Roman "Porträt eines Dandys" katapultiert uns ins Schweden der achtziger Jahre. Die Idylle des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates ist bereits überschattet vom Mord an Olof Palme und den Vorzeichen der neoliberalen Revolution. Die zentrale Rolle in dem Buch spielt das Gemälde "Der sterbende Dandy" von Nils Dardel (1888-1943). Dies will der Dandy und Konzeptkünstler Jörgen erst ersteigern und als das nicht klappt, auf ziemlich makabre Art nachinszenieren. Viel Geld scheint in der Sache drin und Claes, der Erzähler, soll ihm helfen. Östergren zeichnet ein genaues und sehr amüsantes Bild vom Schweden der achtziger Jahre, so die Rezensenten, dass immer wieder durchzogen ist von Überlegungen zu Kunst, Geld und Gesellschaft. Auch auf Steve Sem-Sandbergs "Die Elenden von Lodz" (sei noch einmal hingewiesen, einen viel gelobten Roman über Mordechai Chaim Rumkowski, den mächtigen Judenältesten des Ghettos von Lodz.


Italien

Im Zeitalter der italienischen Nationengründung hat der sehr früh verstorbene Ippolito Nievo (1831-1861) einen Roman über das Ancien-Regime-Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts verfasst, den uns die Rezensenten wärmstens ans Herz legen. Es geht in "Ein Engel an Güte" (um einen alten Mann, einen jungen Mann und eine junge Frau, die sich zwischen den beiden ihre ganz eigene Moral bewahrt. Das ist überhaupt nicht rührselig, versichern FAZ und SZ. Denn, so Albert Gier in der NZZ, der Autor nimmt munter die dekadente, lasterhafte und korrupte Elite Venedigs aufs Korn, macht aber zugleich deutlich, dass das 18. Jahrhundert auch die Zeit einer "grandiosen, nicht zuletzt kulturellen Spätblüte" war. Wenig Freude hatten die Rezensenten am neuen Umberto Eco. "Der Friedhof in Prag" erzählt die Geschichte der Entstehung und Verbreitung der antisemitischen "Protokolle der Weisen von Zion". In der SZ macht Gustav Seibt als Hauptmakel die Vorstellung aus, die Protokolle seien letztlich das Werk eines einzigen Mannes. Steffen Richter (NZZ) erlahmt bei der Lektüre ebenso wie ein entnervter Jürgen Kaube (FAZ), dem das Buch am Ende wie ein riesiges Zettelkastenkonglomerat vorkam.


Naher Osten/Maghreb

Welche libyschen Schriftsteller kennt man schon? Außer Gaddafi, versteht sich? In diesem Jahr kann man zwei libysche Autoren entdecken: Hisham Matar, der in "Geschichte eines Verschwindens" von einem Jungen erzählt, dessen Vater vom Geheimdienst verschleppt wird. Es ist weniger politisches Buch, als vielmehr "Psychogramm eines Getriebenen", meint ein beeindruckter Tomasz Kurianowicz in der FAZ. Die FR lobt die intensiven poetischen Bilder, und in der Zeit stellt Susanne Mayer fest, dass Grau die Farbe der Traumatisierung ist. Kamal Ben Hameda erzählt in "Sieben Frauen aus Tripolis" aus der Perspektive eines kleinen Jungen von der libyschen Hauptstadt als Stadt der Frauen.

Warum sind die Amerikaner so verhasst im Iran, fragt Amir Hassan Cheheltan in seinem Roman "Amerikaner töten in Teheran" wegen des Putschs gegen Mussadegh und weil sie "abgrundtief neidisch" sind. So lesen es zumindest die Rezensenten aus dem Buch. In der taz kann sich Ingo Arend deshalb nicht entscheiden, ob er den Roman pro- oder antiamerikanisch finden soll, votiert aber für die Lektüre, weil Cheheltan seine Fakten immer wieder in "reine Poesie" verwandeln kann. In der Zeit findet es Fokke Joel "authentisch" und "spannend". Und noch ein Roman über den Iran sei empfohlen, diesmal von einem Israeli, Ron Leshem, geschrieben. "Der geheime Basar" eine Geschichte über die Abenteuer eines jungen Provinzlers in Teheran, ist nach zahlreichen Online-Freundschaften des Autors zu jungen Iranern entstanden, erzählt Cornelia Fiedler in der SZ.


Englischsprachige Literatur

Puh, noch so ein Trumm von einem Roman. 1100 Seiten hat "Der Tunnel" 30 Jahre hat William H. Gass daran gearbeitet, erzählt Richard Kämmerlings in der Welt. Es geht um einen Historiker, William Frederick Kohler, Spezialist für die Geschichte des Nationalsozialismus, Anfang Fünfzig, der an einer Universität im Mittleren Westen lehrt. Statt das Vorwort für sein Opus magnum zu schreiben, beginnt er damit, einen Tunnel unter seinem Haus zu graben. Mehr als dieses Skelett von Handlung gibt es nicht, erklärt Kämmerlings. Statt dessen hört man Kohler zu, der endlos hassvoll vor sich hin monologisiert: über die trunksüchtige Mutter, die verhasste Ehefrau, den Studienaufenthalt in Hitler-Deutschland - hier kommt Kämmerlings ins Grübeln. Dieser Kohler entpuppt sich nicht nur als Menschenfeind, er ist ein Nazi, der sich eine "Partei der Enttäuschten" herbeiträumt. Nicht mal die Kunst bleibt als Rettung. Kämmerlings ist von der Radikalität, in die Kohler seinen Pessimismus jagt, abgestoßen und fasziniert zugleich. Ähnlich erging es Sieglinde Geisel in der Zeit. Bei beiden hatte man den Eindruck, dass dieser Roman sie noch lange verfolgen wird.

Howard Jacobsons satirischer Roman "Die Finkler-Frage" handelt von "Männern und Verlust", so Jacobson im Interview mit der Welt. Es geht um zwei Freunde: der eine, Treslove, imaginiert sich eine jüdische Identität, damit er was zu leiden hat, der andere, Finkler, ist Jude und macht bei der BBC Karriere auf dem Ticket des jüdischen Selbsthasses. In Britannien wurde der Roman mit dem Bookerpreis ausgezeichnet. Thomas Hermann (NZZ) fand sich geistreich unterhalten, auch wenn ihm manche Auseinandersetzung etwas thesenartig vorkam. In der FAZ erklärte Felicitas von Lovenberg, so "sarkastisch" wie Jacobson habe sich seit Philip Roth niemand mehr jüdischen Fragen gewidmet.

Als großes Literaturereignis kündigte sich "Die Liebeshandlung" an, der neue Roman von Jeffrey Eugenides, der mit "Middlesex" und den "Selbstmordschwestern" beachtliche Erfolge verbuchen konnte. Die FAZ besuchte Eugenides in Princeton, die Welt ließ sich im Interview das Geheimnis des Autors verraten: "Plot hilft. Aber Charaktere helfen noch mehr." Doch glücklich waren nicht alle Rezensenten mit der "Liebeshandlung", in der Eugenides die Verbindung von Postmoderne, Campusroman und englischem "Marriage Plot" versucht. In der Zeit wagte Ulrich Greiner einen glatten Verriss, die taz störte sich an den psychologisch zu stark ausgeleuchteten Figuren. In der SZ verprach Lothar Müller allerdings ein anspruchsvolles Lesevergnügen.

Ebenfalls sehr gut besprochen wurden Antonia S. Byatts "Das Buch der Kinder" (ein Roman über zwei englische Künstlerfamilien, die im Fin de Siecle von kursierenden neuen Ideen - Psychoanalyse, Frauenbewegung, Kapitalismuskritik, sexuelle Emanzipation - mitgerissen werden, und zwei ältere, jetzt erstmals ins Deutsche übersetzte Romane: Richard Powers rund 25 Jahre alter Debütroman "Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz" ein intellektuell-literarischer Exzess - zu einem Foto von August Sander! - der Clemens J. Setz in der Zeit nach einiger Mühe doch "beglückt und verzaubert" hat. Und Edith Whartons 1929 im Original erschienener Roman "Ein altes Haus am Hudson River" (der nicht nur Einblick in die Romanwerkstatt der Autorin gibt, sondern sie wieder mal als eine der geistreichsten Autorinnen des 20. Jahrhunderts ausweist, versichert Lothar Müller in der SZ.


Romane / Krimis, Lyrik, Comics, Essays, Autobiografien / Sach- und politische Bücher