Efeu - Die Kulturrundschau

Ein sehr deutsches Bild

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19.10.2015. Große Ergriffenheit der Kritiker beim gemeinsamen Gebet mit Friedensbuchpreisträger Navid Kermani in der Paulskirche. Perlen vor die Reichen geworfen sieht die FAZ mit dem originellen neuen Gemeindezentrum The River. In der Welt versichern die Popmusiker von The Hurts: Ein guter Anzug hilft in allen Lebenslagen, selbst auf dem Arbeitsamt. Der Tagesspiegel lässt noch einmal Simon Rattles Beethoven-Zyklus Revue passieren.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.10.2015 finden Sie hier

Literatur

Die Moderne, sagte Navid Kermani in seiner großen Friedenspreisrede, die in der FAZ abgedruckt ist, sei den traditionellen muslimischen Gesellschaften von westlich unterstützten Potentaten aufgezwungen worden. Was dann kam, war nicht besser: "Man hätte annehmen können, dass wenigstens die religiösen Fundamentalisten, die nach dem Scheitern des Nationalismus überall in der islamischen Welt an Einfluss gewannen, die eigene Kultur wertschätzen. Indes taten sie das Gegenteil: Indem sie zu einem vermeintlichen Uranfang zurückkehren wollten, vernachlässigten sie die Tradition nicht bloß, sondern bekämpften sie dezidiert. Wir wundern uns nur deshalb über den Bildersturm des 'Islamischen Staates', weil wir nicht mitbekommen haben, dass in Saudi-Arabien praktisch überhaupt keine Altertümer mehr stehen."

Sehr beeeindruckt schreibt FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube von der Rede: "Die Moderne selbst, hieß das, enthält Elemente der Zerstörung des Besten an ihr und ihrer Vorgeschichte." Franziska Augstein fand die Rede in der SZ "fulminant" und "mutig", vor allem, weil Kermani ein zur Not auch militärisches Vorgehen gegen den IS gefordert hatte. Gerrit Bartels vom Tagesspiegel spricht "von einer aufrüttelnden Rede mit Appellcharakter". Bewegt - besonders vom Gebet am Ende - waren Richard Kämmerlings in der Welt und Roman Bucheli in der NZZ. Letzterem fiel allerdings auch auf, dass Kermani "ein deutlich klärendes Wort zu Gewalt- und Schreckenstaten im Koran" vermissen ließ. In der taz sieht Dirk Knipphals das ganz anders.

Auch Perlentaucher Thierry Chervel war beeindruckt. Allerdings mochte er Kermanis Aufforderung, sich zum Gebet zu erheben, in der seine Rede kulminierte, nicht folgen: "Am Schluss hat Kermani der deutschen Geschichte vor allem das Bild einer kollektiv betenden Paulskirche geschenkt. Viele hat es ergriffen. Vielleicht ist es ein sehr deutsches Bild, denn Deutschland hat sich nie ganz von der Idee des Säkularismus überzeugen lassen. Und doch ist die Paulskirche einer der wenigen historischen Orte, in dem sich das Land zaghaft aus dem Bann der Autoritäten löste - auch der religiösen!"

Außerdem ziehen die Kritiker nach Frankfurt Bilanz: Angela Schader resümiert in der NZZ lesenswert die Veranstaltungen im indonesischen Pavillon. Ronja von Rönne erinnert sich in der Welt immerhin noch, mit wem sie getrunken hat. Kathleen Hildebrand von der SZ erlebte eine sehr politische Buchmesse. Doch "selbst dieses Jahr [kam man] an der Politik vorbei", notiert Gerrit Bartels im Tagesspiegel: "Man konnte aber auch (...) diese Messe natürlich zu einer eminent politischen machen. Wer suchte, fand." Gut, dass es wieder Schriftsteller gibt, die sich zu Wort melden und intervenieren, meint indes ein rundum zufriedener Andreas Platthaus im FAZ-Resümee: "Das Russland der Bücher von Swetlana Alexijewitsch, das Syrien der Rede von Navid Kermani, das Bulgarien des Romans von Ilija Trojanow, das Deutschland des Romans von Jenny Erpenbeck, die muslimische und die westliche Welt der Rede von Salman Rushdie - wie könnten sie besser erzählt und gedeutet werden als von diesen Schriftstellern?" Währenddessen fürchtete Christian Y. Schmidt in der Frankfurter U-Bahn um sein Leben.

Weiteres: Hartmut Fähndrich schreibt in der NZZ zum Tod des ägyptischen Schriftstellers Gamal al-Ghitani. Volker Breidecker unterhält sich in der SZ mit dem Autor Ilija Trojanow. Ebenfalls online bei der SZ: Sonja Zekris Gespräch mit Rafik Schami. Der Freitag bringt eine gekürzte Übersetzung von Tim Adams' Guardian-Porträt über den Schriftsteller und Atlantic-Autor Ta-Nehisi Coates. Für den Freitag blättert Joachim Feldman nach, welche Autorenjahrgänge die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts bestimmen. Im Freitag stellt Erhard Schütz seine Buchfavoriten der Saison vor. Ralph Trommer unterhält sich für die taz mit den Berliner Comiczeichnern Flix und Mawil.

Besprochen werden Witold Gombrowiczs "Kronos - Geheimes Tagebuch" (taz), neue Bücher über das 20er-Jahre-Feuilletonistin Ruth Landshoff-Yorck (Freitag), Mercedes Lauensteins Storyband "Nachts" (Freitag), zwei neue Bücher von Nigel Barley (Tagesspiegel) und Joseph Lamberts Comicerzählung "Sprechende Hände" (Tagesspiegel).

Und in der online nachgelieferten Frankfurter Anthologie schreibt Gerhard Schulz über Karl Wolfskehls "Der Abgesang".

"Dein Weg ist nicht mehr der meine,
Teut, dir schwant, erkoren seist
Du am Nordgrat, nicht am Rheine,
..."
Archiv: Literatur

Musik

In der Welt unterhält sich Max Dax mit Theo Hutchcraft und Adam Anderson vom Synthie-Pop-Duo Hurts über ihr neues Album und den Erfolg. Kleidung hilft da auf jeden Fall, sogar, wenn man arbeitslos ist, versichern die beiden. "Adam Anderson: Auf dem Arbeitsamt ist es mindestens ebenso wichtig, von den Angestellten mit Respekt behandelt zu werden. Und umgekehrt: Wenn man sich wertlos fühlt, kann ein feiner, gut sitzender Stoff Wunder in puncto Selbstwertgefühl wirken. Hutchcraft: Ein Besuch beim Arbeitsamt ist immer eine demütigende Erfahrung. Aber ich habe mir immer vorgestellt, wie es wohl wäre, wenn irgendwann einmal das Überwachungsvideo vom Termin auftaucht: Ich bin perfekt gestylt. Der Typ vom Arbeitsamt ist es nicht. Umgekehrt wäre es furchtbar."

Im Tagesspiegel lässt Christiane Peitz Simon Rattles Beethoven-Zyklus mit den Berliner Philharmonikern nochmal Revue passieren: "So unversöhnt klingt Beethoven selten. Und ungemein physisch. ... Beethoven als Endzeitmusik? Eher als Versuch über Erkenntnis und Ekstase, als work in progress allemal."

Weiteres: Für die FAS sprach Claudius Seidl mit dem Pianisten Igor Levit. In der FAZ porträtiert Eleonore Büning den Dirigenten Franz Welser-Möst vom Cleveland Orchestra.

Besprochen werden das Album "Divers" von Joanna Newsom ("Newsom delivers such complex, nuanced music, filled with arcane constructions, that she is only her own yardstick", jubelt Laura Snapes auf Pitchfork), das neue Album "Shape Shift" von Zombi (Pitchfork, hier im Stream), das neue Album von Beach House (Pitchfork), ein Konzert von Matana Roberts (taz) und eine Arte-Doku über Björk (FR, hier in der Mediathek).
Archiv: Musik

Bühne

Kurz und knapp berichtet Annegret Erhard in der taz vom Schleuserkongress in den Münchner Kammerspielen. Peter Kümmel spricht für die Zeit mit den Schauspielern des Berliner Maxim Gorki über postmigrantisches Theater. Und nachgereicht: Bereits am 9. Oktober diskutierten auf dem SWR Kathrin Röggla, Gerhard Jörder und Thomas Oberender über die Kritik an der deutschen Theaterkritik.

Besprochen werden Barbara Freys Inszenierung von Jon Fosses "Meer" am Schauspielhaus Zürich (Nachtkritik, NZZ), Mateja Kolezniks Inszenierung des "König Ödipus" am Münchner Residenztheater (Nachtkritik, SZ), Bastian Krafts Hamburger Inszenierung von Tony Kushners "Engel in Amerika" ("politisch korrektes Gebrauchstheater", meint Jens Fischer von der Nachtkritik) und eine Nürnberger "1984"-Inszenierung (Nachtkritik).
Archiv: Bühne

Film

In der Jungle World befasst sich Jonas Engelmann mit dem kontroversen Oeuvre des spanischen Regisseurs Agustí Villaronga, "einem der interessantesten und radikalsten Regisseure Spaniens (...), der sich der Analyse der traumatischen Wunden Europas angenommen hat." In Berlin wurden die feministischen PorYes-Awards verliehen, berichtet Hannah Beitzer auf sueddeutsche.de. In der FAZ gratuliert Dietmar Dath dem Schauspieler John Litghow zum 70. Geburtstag.

Und ein Mediathekenhinweis: Die ersten drei Folgen von David Schalkos bös-österreichischer Serie "Braunschlag" stehen jetzt bei 3sat online bereit - hier, hier und hier.
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Kunst

Im aktuellen Radioessay des Deutschlandfunk denkt Jean-Pierre Wils über das Verhältnis zwischen Kirchen und Museen, zwischen Kunst und Religion nach. Für die FAZ hat Andreas Platthaus die Leipziger Holzschneiderin Christiane Baumgartner besucht. In der SZ berichtet Eva Herzog von einem Projekt zur Kunstvermittlung an der Kunsthalle Karlsruhe für Flüchtlinge.

Besprochen werden Barbara Köppes Ausstellung "Das (de)konstruierte Glück" mit DDR-Fotografien im Berliner Willy-Brandt-Haus ("eine überfällige Wiederentdeckung" freut sich Christian Schröder im Tagesspiegel), eine Ausstellung zum 80. Geburtstag der Bildhauerin Ursula Sax in Berlin (Tagesspiegel), die Ausstellung "Malerei, Böse" im Hamburger Kunstverein (taz) und Gerd Rückers Fotoband mit Aufnahmen von der Ostseite der Berliner Mauer (Berliner Zeitung).
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Architektur


The River. Bild: Grace Farms und SANAA

Für die FAZ besucht Niklas Maak das Gemeindezentrum "The River", das sich New Canaan, die neuntreichste Gemeinde in den USA, vom Architekturbüro Sanaa hat bauen lassen: "Formal betrachtet, ist es einer der originellsten und wichtigsten Kultur- und Gemeinschaftsbauten, die seit längerem entstanden sind und hätte ihn die Stadt New York in etwas einfacherer Form als Begegnungs- und Lernort für Kinder aus benachteiligten Familien irgendwo zwischen 180. Straße und Bronx River gebaut, müsste man es als einen Meilenstein in der Geschichte der Sozialarchitektur feiern. In New Canaan wirkt er eher so wie Mies van der Rohes Entwurf für den Golfclub von Krefeld". Mehr zum Gebäude bei Dezeen.

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