Efeu - Die Kulturrundschau

Gnadenloser Antagonismus

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16.01.2016. Schon wieder Grigory Sokolov, dem sich auch Manuel Bug in seinem Blog nicht entziehen kann: Wir binden ein zweistündiges Konzert mit Schubert und Beethoven ein. Ziemlich aufregend findet die SZ die Kunst Isa Genzkens, der in Bonn eine Ausstellung gewidmet ist. In der Welt schreibt Airen über die Heroisierung der mexikanischen Drogenbosse in Film und Fernsehen, und Ben Lerner spricht über das Wesen der Lyrik.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.01.2016 finden Sie hier

Musik

Schon wieder Grigory Sokolov. Lange hat er nichts von sich hören lassen nun gleich die zweite Doppel-CD, seufzt Welt-Musikkritiker Manuel Brug in seinem Blog. Nach ein paar mokanten Bemerkungen kann auch er sich dann des Pianisten (der hier Schubert, Rameau und die "Hammerklaviersonate" spielt) nicht mehr erwehren: "Sehr abgeklärt, ja versuchsweise objektiv kühl und mit gedimmter Emotion spielt Sokolov die Schubert-Impromptus, metrisch fast pedantisch, aber fein schwingend und ruhig dahinfließend. Dabei doch von etwas erhöhter Geschwindigkeit, was sich aber durch den entspannten Grundgestus relativiert."

Hier darf man all das hören. Wir finden den Anfang des Impromptus auf stille Art spektakulär!



Im Haus der Kulturen der Welt hat am Donnerstagabend ein Konzert von Laibach sowie Andreas Ammer, FM Einheit und Alexander Hacke das Festival "Krieg singen" unter reichlich Popkritiker-Anwesenheit eröffnet. Der vieldiskutierte Auftritt der slowenischen Kunst- und Provo-Rocker in Nordkorea habe womöglich auf die Band "zurückgewirkt", meint Jörg Wunder im Tagesspiegel, da die Band auch ihre dort aufgeführten Coverversionen aus dem Musical "The Sound of Music" zum Besten gegeben hat: "Im Zusammenspiel mit den zeichenüberladenen Videos wird daraus ein surrealer Trip, der gar nicht so weit weg vom somnambulen Dreampop einer Lana Del Rey ist." Die Band "ließ das Publikum die manipulative Macht der musikalischen Inszenierung spüren", meint dazu Markus Schneider in der Berliner Zeitung. Und tatsächlich habe man die Band "lange nicht mehr so dissonant-theatralisch erlebt", berichtet Robert Miessner in der taz, der den auf historischen Aufnahmen von Kaiser Wilhelm, Hitler und aus Wochenschauen beruhenden Auftritt von Ammer/Einheit/Hacke allerdings noch eindringlicher fand: Wo Laibach "auf die große Geste setzten, war die Atmosphäre hier die eines minimalistischen Versuchslabors, in dem ein Selbstexperiment mit erschreckenden Resultaten stattfand. Nicht lange, und es stellte sich der alte Industrialeffekt des schuldigen Vergnügens ein. Immer dann, wenn man sich beim leichten Mitwippen ertappte, wurde einem klar, wozu man sich da bewegte. Zu den Radioaufnahmen der offenkundigen Irrsinnigkeiten zweier politischer Verbrecher, gekoppelt mit zeitgenössischen Tondokumenten."

Weiteres: Im Tagesspiegel geht Nadine Lange dem Vinyl-Hype auf den Grund. Die Welt bringt ein kurz nach dem Mauerfall geführtes Interview mit David Bowie, in dem er auch über seine Berliner Zeit spricht. Im Standard erinnert Ronald Pohl an den vor einigen Jahrzehnten noch recht populären, heute eher vergessenen Komponisten Max Reger, der vor hundert Jahren gestorben ist.

Besprochen werden die Ausstellung "I Got Rhythm: Kunst und Jazz seit 1920" im Kunstmuseum in Stuttgart (FAZ) und Jan Assmanns Studie "Das Oratorium 'Israel in Egypt' von Georg Friedrich Händel" (FAZ).
Archiv: Musik

Bühne

Mark Terkessides plädiert in der Stadttheaterdebatte bei Nachtkritik für eine Öffnung des Theaters, die er zum Teil schon realisiert sieht: "Theater könnten Orte der Aushandlung des Verschiedenen werden, Orte, an denen spezifische Kompetenzen und Wissensbestände miteinander in Austausch treten. Eine ganze Reihe von Projekten und Theatern tragen dem ja bereits Rechnung, wenn etwa 'Experten des Alltags' einbezogen, biografische Geschichte erzählt oder dokumentarische Arbeitsweisen verwendet werden. Oder wenn Theater sich sozialräumlich öffnen durch Projekte wie 'Heart of the City' in Freiburg, das urban gardening des Schauspiels Köln, 'New Hamburg' oder 'Munich Welcome Theatre'."

Besprochen wird Peter Kleinerts Inszenierung von Brechts "Die Mutter" an der Schaubühne Berlin (Tagesspiegel).
Archiv: Bühne

Kunst



Bild: bundeskunsthalle.


Ziemlich aufregend findet SZ-Kritikerin Catrin Lorch die Kunst von Isa Genzken, der aktuell eine Ausstellung in Bonn gewidmet ist. Das Werk der Künstlerin reicht von minimalistischen Arbeiten bis zu "expressiver Materialwucht" - und lässt sich dennoch auf einen Begriff bringen: Dieses Werk "ist ein gnadenloser Antagonismus, der erst mit der Betonkelle auf die Welt losging und sie jetzt mit Wegwerfgeschirr, Spielzeug-Puppen, Billigmode und Plastikblumen vollrümpelt. Dennoch, als Betrachter geht man in Bonn vor diesem Werk gerne in die Knie. Schon damit sich all diese modellkleinen Utopien voll entfalten. Gerade die, die noch nicht realisiert wurden." Für DeutschlandradioKultur hat sich Rudolf Schmitz die Ausstellung angesehen.

Nach der Pleite seiner österreichischen Baumarkt-Kette droht der umfangreichen Kunstsammlung von Karlheinzl Essl die Auflösung, berichtet Alexander Hosch in der SZ.
Archiv: Kunst

Film

Der Blogger Airen schreibt im Welt-Feuilleton über die Heroisierung von Drogenbossen in Mexiko, die geradezu als Volkshelden verehrt werden. Leider endet der Artikel vor einem fälligen zweiten Teil - der Heroiserung der selben Bosse auch hierzulande: "Auch die Filmindustrie zieht nach mit Serien wie 'Breaking Bad', 'Señor de Los Cielos' oder 'Narcos'. Und auch sie erliegt der Faszination der Gangster, die wenigstens als gebrochene Antihelden dargestellt werden."

Auch in diesem Jahr ziehen die Oscarnominierungen den Unmut der Kritiker auf sich: Dass Todd Haynes' Drama "Carol" in den prestigereichsten Kategorien übergangen wurde, ärgert Daniel Kothenschulte von der FR sichtlich - auch wenn er einräumt, dass der Oscar nun weißgott keinen Kunstpreis darstellt. Denn "wirkliche Innovationen erkennt der Welt bekannteste Filmbewertungsstelle nur sehr selten. ... Bei den Oscars liebt man Kunst nur, wenn sie auch groß genug drauf steht - und dann weder versteckt noch feinsinnig auftritt, sondern mit den breiten Pinselstrichen eines Iñárritu." In der SZ beklagt David Steinitz die mangelnde Diversität der Nominierungen. Auf Taste of Cinema listet und kommentiert Justin Gunterman die seiner Ansicht nach größten Versäumnisse und Fehltritte der aktuellen Nominierungen.

Außerdem: Henning Klüver porträtiert in der NZZ den italienischen Komiker Checco Zalone, der in der in Italien ungeheur erfolgreichen Komödie "Quo Vado" Italien auf die Schippe nimmt.

Besprochen werden Apichatpong Weerasethakuls "Cemetery of Splendour" (FR, FAZ, unsere Kritik hier), Ryan Cooglers "Creed", in dem Sylvester Stallones Rocky-Figur als Trainer wiederkehrt (FAZ), ein Dokumentarfilm über Janis Joplin (Welt), die Martin-Suter-Verfilmung "Die dunkle Seite des Mondes" (Welt) und Baya Kasmis Culture-Clash-Komödie "Mademoiselle Hanna" (Tagesspiegel).
Archiv: Film

Literatur

Mit dem Trend zur steigenden Zahl von Autorenlesungen und der damit einhergehenden Präsenz von Autoren steigt auch die Zahl der Vorlässe in den Literaturarchiven, beobachtet FAZler Jan Wilm, der sich darauf einen Reim zu machen versucht: Der Vorlass "ermöglicht Autoren einen Dialog mit dem eigenen Leben, wie es im Falle des Nachlasses nur der Nachwelt möglich ist. ... Der Tanz zwischen Fremdheit und Selbstheit, der jeder Autobiografie eigen ist, ist beim Wiederlesen alter Papiere mit Blick auf einen Vorlass potenziert, denn jetzt ist der dringlichste Zeitpunkt, Bilanz zu ziehen, bevor die anderen am Zuge sind, in den Literaturarchiven der Welt."

Hannes Stein unterhält sich für die Literarische Welt mit dem Lyriker (und neuerdings auch Romancier) Ben Lerner - auch über das Wesen der Lyrik: "Die Frage, ob es richtig ist, heute noch Lyrik zu schreiben, war von Anfang an Thema der Lyrik. Denn letztlich geht es ihr immer nur um ein Thema: Was ist Lyrik überhaupt? Lyrik ist immer selbstreferenziell."

Weiteres: Martina Scherf von der SZ porträtiert den kubanischen Schriftsteller Leonardo Padura, dessen Romane ihrer Ansicht nach einen Schlüssel zum Verständnis Kubas und dessen Wandel bergen. Für die FAZ begibt sich Annabelle Hirsch auf Spurensuche nach dem alten Chicago, das der vor zehn Jahren gestorbene Autor Saul Bellow in seinen Romanen beschreibt. In der FAZ spricht Sandra Kegel mit Tanja Graf, der neuen Leiterin des Literaturhauses München.

Besprochen werden Helmut Kraussers "Alles ist gut" (taz), Dennis Lehanes Krimi "Am Ende einer Welt" (taz), neue Kriminalromane aus Südafrika (taz), die vier Bände von Anthony Powells "Ein Tanz zur Musik der Zeit" (SZ) und Julian Barnes' Essaysammlung "Am Fenster" (FAZ).
Archiv: Literatur