Efeu - Die Kulturrundschau

Ein winziger Flash des Unwahrscheinlichen

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11.06.2016. Die Feuilletons haben sich auf der Manifesta 11 in Zürich umgesehen: Der taz sind die Künstler zu traditionell, die Welt vermisst das Geheimnis. Tate-Modern Leiterin Francis Morris fordert in der FAZ ihre Kunsthistoriker-Kollegen auf, Vorurteile gegenüber schwarzer Kunst abzubauen. artechock schaut mit dem libanesischen Filmemacher Samer Ghorayeb in die verlassenen Häuser Beiruts. In der Welt lernt Karl Ove Knausgard Individualität bei James Joyce. Und in der taz weiß Stephan Wackwitz, weshalb sich historische Familienromane in Deutschland häufen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.06.2016 finden Sie hier

Kunst

Martin Liebscher Schwimmbad, 2010, Lambdaprint Alu Dibond, 210 x 152 cm, Courtesy der Künstler und Martin Asbaek Gallery.
 
In Zürich wird heute die Manifesta eröffnet. Für diese Ausgabe unter dem Motto "What Do You Do For Money - Some Joint Ventures" mussten sich die Künstler von den Berufen von ihnen ausgewählter Züricher zu neuen Arbeiten inspirieren lassen. Für die taz hat sich Gina Bucher die Kunstbiennale angesehen, wobei ihr aufgefallen ist, "dass sich das diesjährige Konzept der Manifesta trotz aller Offenheit auf ein erstaunlich traditionelles Künstlerverständnis beruft: dass nämlich erfolgreiche Künstler in Werkstätten gehen und dort Kunst produzieren lassen, die die Bevölkerung anschließend bewundern darf. ... Bei einigen Arbeiten wünscht man sich in Zeiten sich radikal verändernder Arbeitswelten mehr Auseinandersetzung mit dem Brotberuf der Gastgebenden - wie auch mit den Arbeitsbedingungen der Kunstschaffenden: Inwiefern bringt Berufung auch Geld?" Urs Bühler hofft in der NZZ noch auf den überspringenden Funken und mahnt: "wir wollen nicht beleidigt tun angesichts von Klischees, sondern offen sein für die Spiegel, die uns jenseits davon vorgehalten werden. Wer morgens in diese schaut, ist nicht immer erfreut."In der Welt schraubt Hans-Joachim Müller seine Ansprüche herunter: "Aber was will man von der Kunst auch mehr? Spaß? Erkenntnisgewinn? Wahrheit? Widerspruch? Manifesta-seits ist alles zu haben. Vielleicht muss es ja gar nicht so viel sein. Man wäre schon zufrieden mit einem winzigen Flash des Unwahrscheinlichen, mit einem womöglich armseligen Zeichen, das sich nicht gleich erschließt, das ohne viel Getue seine Zeichenhaftigkeit verwahrt, eine kleine Weile Geheimnis bleibt und so auf seine scheinbare oder unscheinbare Weise dem modischen Glaubenssatz der spekulativen Realisten widerspricht, nach dem es nichts gäbe, was nicht schlichte Kontingenz ist."In der FAZ führt Kolja Reichert durch das Manifesta-Programm.

Für die FAZ spricht Gina Thomas mit Frances Morris, der Leiterin der Tate Modern, die mit ihrer Arbeit auch tradierte kunsthistorische, ihrer Ansicht nach patriarchal konzipierte Qualitätshierarchien verschieben möchte: "Ich möchte die Randphänomene ins Zentrum bringen und darüber nachdenken, weshalb wir diese Hierarchien haben und ob wir sie noch beachten sollten. Zeitgenössische Künstler fühlen sich ohnehin nicht mehr an sie gebunden. Ich finde, wir brauchen es auch nicht zu sein. ... Wir leben in einer hierarchischen, durch Geschlecht und Vorurteil geprägten Gesellschaft. Warum denken wir immer, dass weiße Kunst besser ist als schwarze? Weil weiße Historiker über schwarze Kunst schreiben. Vorurteile sind allgegenwärtig. Man kann helfen, sie abzubauen, indem man die Praxis der Gegenwartskunst beleuchtet.

In der NZZ bewegt sich Maria Becker rasant und fasziniert durch die Francis Picabia-Ausstellung im Kunsthaus Zürich. Zwischen Impressionismus, orphischem Kubismus und Motiven aus Erotik-Magazinen und NS-Körperkultur, staunt sie vor allem über die radikale Kompromisslosigkeit Picabias: "Dabei scheint durch sein Agieren eine verzweifelte Suche nach Sinn hindurch, die per se kein Ende findet. Alles muss auf den Kopf gestellt und neu gemacht werden, er muss wechseln, schillern, provozieren - oder untergehen." (Bild: Francis Picabia "Udnie" (Jeune fille américaine; Danse),1913 Öl auf Leinwand, 290 x 300 cm Centre Georges Pompidou/Musée National d'Art Moderne, Paris. Ankauf vom Staat © 2016 ProLitteris, Zürich)

Weiteres: Waltraud Schwab porträtiert in der taz die Netzkünstlerin Stephanie Sarley, die in ihren Videos Obst auf eindeutig zweideutige Weise liebkost. SZlerin Verena Mayer spachtelt am Tisch in der Werkstatt von Olafur Eliasson mit der Belegschaft zu Mittag. Besprochen wird eine Ausstellug über Mussolini-Verherrlichung in Salò (SZ).
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Bühne


Maxi Obereders "Illegale Helfer" in der Inszenierung von Yvonne Groneberg. (Bild: HL Böhme)

Dem aufgeregten Gefuchtel der sich mokierenden lokalen AfD im Vorfeld zum Trotz ist in Potsdam Yvonne Gronebergs Inszenierung von Maxi Obexers im Zuge jahrelanger Recherchen entstandenes Stück "Illegale Helfer" auf die Bühne gebracht worden. Darin geht es um die Lagen und Beweggründe von Fluchthelfern. Als zentrales Moment des Abends und der dabei erzählten Geschichten hat Irene Bazinger von der FAZ jene "subjektive Urszene [identifiziert], in der sich jemand ohne viel Überlegung und Ideologie entschließt, jemand anderem zu helfen - selbst um den Preis, Gesetze zu brechen, vielleicht seinen Arbeitsplatz zu verlieren oder sich eine Haftstrafe einzuhandeln." Das ist interessant, aber zunächst nüchtern, weshalb Bazinger die Regisseurin dafür lobt, der es gelungen sei, "die sperrigen, brüchigen, unverbundenen Texte zu einem formal ausgestalteten, sinnlich-spannenden Bilderbogen zusammenzufügen." In der taz erstattet Ronny Müller Bericht. Beim WDR kann man das auf Obexers zusammengetragenen Materialien basierende Hörspiel nachhören.

Vom Heiligen Geist gibt es sicher ein paar Fleißpunkte für Herbert Fritschs Inszenierung der Apokalypse bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen, meint Lucas Wiegelmann in der Welt. In dem Ein-Mann-Schauspiel, das sich streng an die Lutherübersetzung von 1545 hält, fehlt es Wiegelmann an Weltuntergangsstimmung: "So viel einfallsarme Ehrfurcht vor dem heiligen Bibeltext mag Fritsch am Tag des Jüngsten Gerichts zugutekommen. Als Zuschauer hätte man sich schon etwas mehr 666 gewünscht." Ganz anders hat Martin Krumbholz das Stück und vor allem Wolfram Kochs Darstellung auf nachtkritik.de wahrgenommen: "Er kratzt sich die Arme, verzieht den Mund, rauft sich die Haare, schwitzt, streckt die Zunge heraus und schiebt sie mit der Hand wieder in den Mund, und wenn im Text von einer 'Donnerstimme' die Rede ist, donnert Kochs Stimme, was das Zeug hält. Das ist zunächst einmal hochvirtuos, aber der Text ist stark genug, Widerstand zu bieten gegen die Gefahr billiger Clownerie. Läppisch wird es nie."

Weiteres: Enttäuscht bespricht Marco Frei für die NZZ die Musik-Biennale in München. Sein Fazit: "viel Form und wenig Gehalt."

Besprochen werden Antú Romero Nunes Inszenierung von Kafkas "Das Schloss" in Hamburg ("ein beeindruckendes existenzialistisches Körpertheater" sah Robert Matthies von der taz) und András Dömötörs "Mephistoland" am Maxim Gorki in Berlin (taz).
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Film

Kein gutes Haar lässt der für seine streitbaren Besprechungen berüchtigte National-Review-Kritiker Armond White an Noah Baumbachs Dokumentarfilm über den von Hollywood ausgestoßenen Maverick-Auteur Brian De Palma: "Dieser Film reduziert Brian De Palmas Reputation auf den Anti-Intellektualismus und den faden 'Professionalismus', wie er unter heutigen ungebildeten Filmemachern üblich ist." Für Rogerebert.com hat sich Matt Zoller Seitz ausführlich mit De Palma unterhalten.

In Beirut geht es der alten Bausubstanz an den Kragen: Abriss und Neubau sind die gängige Methode. Der libanesische Filmemacher Samer Ghorayeb möchte dieses im Verschwinden begriffene Beirut wenigstens in einem Dokumentarfilm bewahren, erklärt er im Artechock-Gespräch mit Axel Timo Purr: Bedroht sind vor allem "Gebäude aus der Jahr­hun­dert­wende des letzten Jahr­hun­derts." : "Es ist ein sehr intimes Verhältnis, das ich zu diesen Häusern habe und so ist auch das Film­ma­te­rial, intim. Denn es gibt ja nicht nur die Inter­views mit den Vorbe­sit­zern, sondern fast noch inter­es­santer war, als ich dann alleine in den alten Häusern gefilmt habe. Es war so eine Art von Begräbnis für die Häuser ... Du gehst in die Häuser rein und findest all diese Objekte, die zurück­ge­lassen worden sind. Briefe, Fotos, Kassetten. Und du filmst diese Objekte als ob sie lebendig wären, denn sie erzählen faszi­nie­rende, aufre­gende und traurige Geschichten. Weshalb dieses Projekt auch als Instal­la­tion vorstellbar ist, mit der Inklu­die­rung all dieser Mate­ria­lien, dieser Objekte… Denn damit sind regel­rechte Lebens­li­nien dieser Häuser entstanden, die stumm ihre und die Geschichten ihrer Mitbe­wohner erzählen."
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Musik

Das HR-Sinfonieorchester verabschiedet sich unter Andrés Orozco-Estrada mit einer fulminanten, von Tschechien bis Spanien umfassenden Darbietung von Werken von Werken von Bohuislav Martinu, Leos Janácek und Manuel de Falla in den Sommer, erfahren wir von Hans-Klaus Jungheinrich in der FR: "In [Martinus] in Amerika geschriebenen 1. Sinfonie (1942) wird der robust neoklassizistische Duktus quasi weichgespült mit chromatisierend-koloristischen Elementen, die dem Ganzen ein virtuoses oder gespenstisches Flirren mitteilen. Unüberhörbar die melodischen Spuren der tschechischen Volksmusik - Sehnsuchts-Zeichen einer unerreichbar gewordenen Heimat. Orozco-Estrada und das Sinfonieorchester realisierten Feinzeichnung und dynamische Aufbäumung mit äußerster Hingabe." Bei Arte gibt es einen Mitschnitt.

Weiteres: In der taz spricht Benjamin Moldenhauer mit Dolf Hermannstädter, dem Gründer und Herausgeber des Punkfanzine-Urgesteins Trust, das dieser Tage 30jähriges Bestehen feiert. Für die SZ plaudert Marcel Anders mit Flea von den Red Hot Chili Peppers.

Besprochen werden das Album "Liquid Cool" von Nite Jewel (taz), Jens Rostecks Biografie über den Chansonnier Jacques Brel (taz) und Chris Jarretts Frankfurter Konzert (FAZ).
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Architektur

In der Berliner Zeitung gratuliert Nikolaus Bernau Georg Heinrichs zum 90. Geburtstag und würdigt den Jubilar als "Architekt der Plastizität".
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Stichwörter: Aspern, Wien, Heinrich, Georg

Literatur

Ulrich Sonnenberg hat für die Welt einen schönen Essay von Karl Ove Knausgard übersetzt (hier der Text auf englisch in der New York Times), in dem der norwegische Schriftsteller von seinen Lektüreerfahrungen mit James Joyce erzählt. Bei Joyce lernt Knausgard, was Individualität bedeutet: "Um dieses Eigene und Individuelle zu erfassen, ist derjenige, der es beschreiben will, gezwungen, sich von all dem zu lösen, was uns gemeinsam ist, und genau das tut Joyce in 'Ein Porträt des Künstlers als junger Mann'. Er begibt sich in den Teil der Identität, für den es noch keine Sprache gibt, in den Zwischenraum zwischen dem, was allein dem Individuum gehört, und dem, was uns allen gemeinsam ist, in sämtliche Stimmungswechsel des Gemüts und die blind fließenden Ströme der Seele, in das, was wir als Stimmungen und Gefühle kennen, das Unartikulierte, die mehr oder weniger auffällige Präsenz der Seele, in das in uns, was uns erhebt, wenn wir uns begeistern, und uns herunterzieht, wenn wir uns fürchten oder verzweifelt sind."

Im literarischen taz-Essay zum Wochenende befasst sich der Schriftsteller Stephan Wackwitz mit der auffallenden Häufung von historischen Familienromanen seit etwa 2003 (eine Keimzelle sieht er in diesem Spiegel-Bericht Volker Hages, der auch explizit auf Wackwitz zu sprechen kommt), in denen er so etwas wie das "Leitgenre der frühen Berliner Republik" ausmacht. Warum erkunden heutige Literaten die deutsche Geschichte über den Modus der Familienerkundung, fragt er sich und sucht die Antwort "im totalitären Charakter beider deutscher Diktaturen": "Indem das 'Dritte Reich' und die DDR ihre Untertanen ganz, mitsamt ihren Lebensmenschen, ihren Gefühlen, ihren innersten Gedanken und privaten Lektüren in sich hineinzuziehen versuchten, drangen sie ununterscheidbar in ihr Innenleben. Sie wurden sozusagen Teil der Familie. Die Bilder Hitlers und Stalins hingen nicht nur in den Büros der Obrigkeit, sondern oft auch in den Wohnzimmern der Beherrschten. Die nachholende literarische Kritik der beiden deutschen Diktaturen führte zwangsläufig auf die Familie, weil faschistische wie kommunistische Machthaber sie zur Agentur ihres totalen politischen Anspruchs gemacht hatten."

Weiteres: Für den Tagesspiegel berichtet Ulrike Baureithel von den beim Berliner Poesiefestival geführten Debatten über den Kulturraum Balkan.Tell bringt den dritten Teil von Raffael Kellers Reihe über Gedichte des chinesischen Dichters Li Shangyin. Dirk Knipphals von der taz liest die 400. Ausgabe des Bargfelder Boten, der sich mit Arno Schmidts Ehefrau Alice Schmidt befasst. Die FAZ dokumentiert Michael Kleebergs Dankesrede zur Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Besprochen werden unter anderem Christian Adams "Der Traum vom Jahre Null: Autoren, Bestseller, Leser" (taz), Birgit Weyhes Comic "Madgermanes" (Berliner Zeitung), David Garnetts "Dame zu Fuchs" (ZeitOnline), Anna Katharina Hahns "Das Kleid meiner Mutter" (NZZ), Patrick Devilles "Kampuchea" (NZZ), Tom McCarthys "Satin Island" (SZ) und eine Box mit dem Briefwechsel zwischen Gottfried Benn und Friedrich Wilhelm Oelze (FAZ). Mehr in Lit21, unserem literarischen Metablog.
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