Efeu - Die Kulturrundschau

Mollig warme Mitmenschlichkeit

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27.08.2016. FAZ und WELT kommen beim Besuch der Jubiläumsausstellung im Museum Ludwig zu unterschiedlichen Ergebnissen: Trostlos oder gut gelaunte Kulturdebatten? Die NZZ ergründet unser Serien-Suchtverhalten. Zeit online und SZ hören das neue Beginner-Album und finden unendliche Arglosigkeit. Die Berliner Zeitung tanzt beim Atonal-Festival lieber mit muffigen Typen zu Drillbohrergeräuschen. Die FAZ erinnert an Friedrich Wilhelm Mader als deutschen Jules Vernes. In der Welt spricht der Schriftsteller Thomas Melle über Leben und Schreiben zwischen Manie und Depression.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.08.2016 finden Sie hier

Musik

Beim Festival Berlin Atonal ist Jens Balzer, Krach-Experte der Berliner Zeitung, ganz in seinem Element: "In den späteren Stunden, etwa ab eins, kann man sich (...) in den Katakomben des Kraftwerks in intimerer Atmosphäre von muffigen Typen an wüst verkabelten Effektgeräten mit Drillbohrergeräuschen belästigen lassen oder mit stotternden Schlägen über einem tinnitushaften Fiepfundament. Oder man lauscht einem Pianisten dabei, wie er eine Stunde lang auf seinem Instrument das eingestrichene ,b' und ein paar drumherum flatternde Töne spielt." Nur gegen die Nebelmaschinenexzesse hat er etwas: "Die nebligen Tage des Herbstes kommen schließlich noch früh genug."

Für die taz plaudert Stephan Szillus mit den Beginnern über ihre Comeback nach 13 Jahren Albumpause. Daniel Gerhardt zeigt sich auf ZeitOnline unterdessen enttäuscht über das Album "Advanced Chemistry": Musikalisch haben die Beginner zwar alle Entwicklungen des HipHop der letzten Jahre aufgegriffen, doch "warum fühlt sich die Platte so leer an? Weil sie unter ihrer fachkundig produzierten Hülle tatsächlich leer ist. Denyo und Eizi Eiz haben nichts zu sagen außer: Wir waren mal die Größten."  Cornelius Pollmer von der SZ hat mehr Freude an dem Album: Es gibt dem HipHop "eine fast vergessene Form der Arglosigkeit [zurück], ein grundsätzliches Bekenntnis zur guten Laune und die anachronistische Bereitschaft, der Welt mit einem Lächeln entgegenzutreten. Am schönsten gerät diese Arglosigkeit, wenn sie sich in der Unendlichkeit verliert, gerade weil sie sich selbst genug ist. Wenn sie, wie im Video zu 'Es war einmal', einfach so konsequent ausgelebt wird, bis der Bildschirm voller bunter Puzzleteile hängt."



Weiteres: Tazlerin Sophie Jung stellt die New Yorker DJ Veronica Vasicka vor, die sich auf Minimal Wave spezialisiert hat (hier einige Mixes zum Nachhören). Die Internationalen Hadyn-Tage werden in diesem Jahr zum letzten Mal auf dem Schloss Esterházy in Eisenstadt stattfinden, berichtet Gerald Felber in der FAZ, der die Schuld dafür in den kommerziellen Interessen der Esterházy-Stiftung sieht.

Besprochen werden die Memoiren von Peter Brem, der 46 Jahre lang Geiger der Berliner Philharmoniker war (Tagesspiegel), das Konzert des Nationalen Jugendorchesters der Niederlande bei Young Euro Classic (Tagesspiegel) und ein Konzert des Jazz-Posaunisten Nils Landgren (Tagesspiegel).
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Kunst

Das Museum Ludwig in Köln beschenkt sich zum 40-jährigen Bestehen mit einer Jubiläumsausstellung. Mit der neuen Hängung im Haus hat FAZler Georg Imdahl seinen Frieden allerdings noch nicht gemacht: "Während all die kleineren Bildwerke der Avantgarden des frühen zwanzigsten Jahrhunderts im Raumangebot der hohen Wände baden, ringen die ausladenden Formate von New York School, Informel, Color Field im Geschoss darunter - wie eben auch die Pop-Art - nach Luft. Auch hier wundert man sich über abgegriffene kunsthistorische Kategorien ... Eine zeitgenössische Perspektive auf die Gegenwartskunst lässt sich mit solchen Einfällen nicht gewinnen. Man vermisst sie auch im Souterrain, wo sich ein fragmentarisches, trostloses Bild eröffnet." Sein ernüchtertes Fazit: "Die Konsequenz und der konzeptuell-kühle Zug" des früheren Direktos Philipp Kaiser war "deutlich stringenter".

"Brillant, entspannt und gut gelaunt" findet hingegen Swantje Karich in der Welt die Ausstellung, etwa "Christian Philipp Müllers Wandinstallation 'Ihr  Name  hier', es zieht  einem kulturgutschutzgeplagten Wesen die Schuhe aus, weil es so simpel-gut ist - und mehr sagt als jede Debatte um die Verkäufe der WestLB-Warhols oder Kämpfe um Gesetze." 

Weiteres: In der SZ freut sich Catrin Lorch, dass im kommenden Herbst mit Annelise Kretschmer (im Käthe Kollwitz Museum in Köln) und Lucia Moholy (im Bauhaus-Archiv in Berlin) gleich zwei etwas in Vergessenheit geratene Fotografinnen wiederentdeckt werden.

Besprochen wird Haris Epaminondas "12x12" in der Berlinischen Galerie (Tagesspiegel).
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Film

(Bild: The Mechanic 2 - Resurrection, Jason Statham © Universum Film)

Diese Woche läuft der neue Actionfilm mit Jason Statham, "The Mechanic 2: Resurrection", im Kino an. Regie führte der deutsche Regisseur Dennis Gansel, der zuvor Filme wie "Napola", "Die Welle" und "Wir sind die Nacht" realisiert hat.. Für FR-Kritiker Christian Schlüters Geschmack biete dieser Bomben-, Pistolen- und Gewehr-Film "zu viel Bomben-, Pistolen- und Gewehrballerei. Die damit einhergehende Anonymisierung und Distanzierung der tödlichen Gewalt macht den Actionhelden blass und deshalb den Actionfilm öde." Lukas Stern vom Freitag wiederum hangelt sich von Actionszene zu Actionszene und erlebt dabei mitunter die "Reinstallation und Selbstermächtigung des Prügelkinos". Gansel habe schon in früheren Filmen Genrefilm-Ambitionen durchscheinen lassen, nun stehe "das entsprechende Instrumentarium bereit, die Genrevision einlösen zu können. Es ist die Vision von einem im Grunde konfliktlosen Kino." Doch der Film ist auch "ganz schön zusammengeschustert", merkt Danny Gronmaier auf critic.de an.

In der NZZ geht der Literatur- und Kulturwissenschaftler Daniel Stein der Seriensucht auf den Grund. Vor allem in kapitalistischen Gesellschaften versprechen Serien (Gruppen-)Identität, so Stein: "Solche Effekte sind gerade in heterogenen Gesellschaften von großer Bedeutung, weil die Menschen über sich selbst und über die anderen durch Zeitungslektüre, über die Literatur oder vor dem Fernsehgerät etwas erfahren. Serien erfüllen somit eine gesellschaftspolitische Funktion. Sie bauen ein enges Verhältnis zum Rezipienten auf, können auf aktuelle Entwicklungen reagieren und binden ein großes Publikum in den Erzählfluss ein. So wird aus individuellen Rezipienten eine Gemeinschaft, deren Mitglieder sich als Teil des Ganzen erkennen und aus dieser Erkenntnis heraus mit der Serie und ihren Inhalten zu interagieren beginnen."

Die Debatte um Nate Parker, Regisseur und Hauptdarsteller des Sklavenaufstandsfilms "Birth of Nation", der 1999 der Vergewaltigung beschuldigt wurde, geht weiter, berichtet Hanns-Georg Rodek in der Welt. Rodeks Erkenntnis: "Der Fall Parker ist ein schlagendes Beispiel  für die Lähmung der amerikanischen Gesellschaft durch die Blockade von Interessengruppen. Im Fall Parker treten zwei liberale Kampagnen gegeneinander an, die sonst stets Hand in Hand operieren: die für Vergewaltigungsopfer und die für eine Anerkennung des an den Schwarzen begangenen Unrechts, vergangen und gegenwärtig. Es ist ein unlösbares Dilemma mit zwei Maximalpositionen."

Weiteres: Im Tagesspiegel schreibt Jan Schulz-Ojala zum Tod von Volker Baer, der von 1960 bis 1992 das Filmressort des Blattes geleitet hat. Besprochen wird Leonie Krippendorffs "Looping" (ZeitOnline, critic.de, Artechock).
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Design

Für die FR liest Carmen Böker den neuen Ikea-Katalog, dem "mollig warme Mitmenschlichkeit entströmt. ... Sogar ein Mensch, der nun wiederum wie ein Double von Bushido aussieht (allerdings viel freundlicher und ohne Tätowierungen), wird in diesem humanen Geiste in die Mitte genommen."
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Literatur

Im Welt-Interview mit Britta Heidemann spricht der Schriftsteller Thomas Melle über sein autobiografisches Buch "Die Welt im Rücken", sein Leben mit Manie und Depression und den Zusammenhang ziwschen Krankheit und Kreativität: "Eine Psychiaterin, die selbst bipolar ist, hat eine Studie geschrieben über englische und irische Dichter des 18. Jahrhunderts, die manisch-depressiv waren - ein Drittel aller bekannteren Dichter dieser Zeit. Ich glaube schon, dass es da einen Zusammenhang gibt. Aber den simplen Konnex, dass der Genialbegabte immer auch eine Form von Wahnsinn mitbringen muss, vielleicht auch von Autismus, lehne ich entschieden ab. Es liegt auch an der Neuronenanzahl, heißt es. Das heißt aber nicht, dass Manisch-Depressive intelligenter sind, sondern nur, dass da mehr los ist im Gehirn."

Im literarischen Wochenend-Essay der FAZ erinnert Wolfgang Günter Lerch an den deutschen Science-Fiction- und Abenteuergeschichten-Autor Friedrich Wilhelm Mader, der bereits zu Zeiten von Wilhelm II. literarisch ins Weltall aufbrach und deshalb als "deutscher Jules Verne" gilt: Manche zeittypischen Nationalismen gestalten die Lektüre heute zwar schwer erträglich, dennoch freut sich Lerch über die baldige Veröffentlichung einer zweibändigen Erzählsammlung: "Im Licht der modernen Wissenschaft und ihrer Erkenntnisse lesen sich die Anfänge von Maders Science Fiction oft auch (unfreiwillig) humoristisch. Andererseits ist bewundernswert, wie offen der Geist dieses Autors für die Möglichkeiten alles wissenschaftlich bisher noch Undenkbaren, inzwischen freilich längst Alltäglichen gewesen ist. Gleichzeitig bewahrt ihn eine gesunde Skepsis vor einer Vergötzung der Wissenschaft."

In der NZZ plädiert der Schriftsteller Rolf Dobelli dafür, weniger, aber intensiver zu lesen: "Wir lesen zu wenig selektiv und zu wenig gründlich. Wir lassen unserer Aufmerksamkeit freien Lauf, als wäre sie ein zugelaufener Hund, den wir gleichgültig weiterstreunen lassen, anstatt ihn auf prächtige Beute abzurichten. Wir verschleudern unsere wertvollste Ressource an Dinge, die sie nicht verdient haben."

Weiteres: Auf der Medienseite der FAZ weist Hannah Bethke auf ein im ZDF in der Nacht auf Montag ausgestrahltes Gespräch zwischen Thea Dorn und Martin Walser hin. In Los Angeles wird die angebliche Asche von Truman Capote versteigert, meldet Felicitas Rhan in der FAZ. In der taz erinnert sich der syrische Schriftsteller Nihad Siris an seine Kindheit in Aleppo.

Besprochen werden Elena Ferrantes "Meine geniale Freundin" (Tagesspiegel, mehr dazu hier), Sylvie Schenks "Schnell, dein Leben" (taz), André Kubiczeks "Skizze eines Sommers" (FR), Olga Martynovas "Der Engelherd" (FR), Mathias Enards "Kompass" (SZ), Rafael Chirbes' "Paris-Austerlitz" (FAZ) und neue Hörbücher, darunter das zu Emma Clines vielbeachtetem Debüt "The Girls" (taz).
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Bühne

Ziemlich fasziniert ist Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, vom Schauspieler Michael Kessler, der für seine ZDF-Sendung "Kessler ist..." als Verwandlungskünstler in die Haut von Prominenten schlüpft und ihnen dann persönlich als Zwilling gegenüber tritt: "Kessler zeigt über weite Teile die Offenlegung eines hochgradig immersiven Vorgangs", schreibt Oberender im Tagesspiegel. "Man beobachtet den Schauspieler, wie er über Wochen immer detailgenauer zu einem anderen Menschen wird, den er, wie der Titel sagt, nicht nur vorzeigt, sondern in den er eintaucht und der Michael Kessler schließlich für einige Minuten 'ist', ganz so als wäre es ihm gelungen, in den Mittelpunkt dieses anderen Daseins zu treten und es plastisch auszufüllen."

Weiteres: Für die taz spricht Astrid Kaminski mit der Choreografin Deborah Hay. Im Tagesspiegel bringt Frederik Hanssen Hintergründe dazu, warum das große Musicaltheater am Potsdamer Platz ab Sonntag bis auf weiteres leer stehen wird. Patrick Wildermann besucht für den Tagesspiegel das Theater Thikwa. Für die FR berichtet Sylvia Staude vom Auftakt der Biennale in Wiesbaden.
Archiv: Bühne