Efeu - Die Kulturrundschau

Lärm mit Rückgrat

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04.08.2017. Die NZZ hätte sich bei Schostakowitschs "Lady Macbeth von Mzensk" etwas mehr  interpretatorische Haltung von den Wiener Philharmonikern gewünscht. Auch in der Kunst sollte man den Tyrannenmord nicht romantisieren, meint in der nachtkritik der Theaterwissenschaftler Peter W. Marx. Die FAZ staunt über die Traumerinnerungen des Malers Philip Guston. Der Tagesspiegel raucht mit Giacometti eine Zigarette. Die taz tanzt zum Dekonstruktions-Rock'n'Roll der Royal Trux.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.08.2017 finden Sie hier

Bühne


Lady Macbeth von Mzensk 2017 in Salzburg. Foto: © Salzburger Festspiele / Thomas Aurin

In Salzburg hatte Schostakowitschs "Lady Macbeth von Mzensk" Premiere. Mariss Jansons dirigierte die Wiener Philharmoniker, Nina Stemme sang die Titelpartie, inszeniert hat Andreas Kriegenburg. Im Standard ist Ljubiša Tošić insgesamt zufrieden mit der Regie: Sie "bannt Katerinas Träumereien auch in Farben: Sie trägt ein blaues Kleid. Und in Blau getaucht ist bisweilen auch das ganze trostlose Milieu, das plötzlich aus herzhaft kopulierenden Arbeiterpärchen besteht. Zwischen ihnen wandernd wirkt Katarina wie eine Besucherin ihrer eigenen Erotikfantasien. Elegant changiert die Regie zwischen Traumatmosphäre und Realismus, ohne in irgendeine Richtung zu übertreiben: Auch der sich nur für kurze Zeit erfüllende Rausch der prickelnden Nähe aktiviert bei aller eruptiv ausbrechenden Begierde keinen plumpen Realismus."

NZZ-Kritiker Christian Wildhagen fehlt dagegen etwas bei den Wiener Philharmonikern: eine "klare interpretatorische Haltung. In seinem durch und durch philharmonischen Geist bügelt das Orchester nämlich das Widerborstige dieser Musik gründlich platt: Statt den frechen, collagehaften Mix unterschiedlichster Stile und Genres - von entfesselten Tanz- und Rummelplatzmusiken über Can-Cans, Walzer-Imitationen und Märsche bis zu Chorälen - parodistisch zu schärfen, vernimmt man einen fraglos äußerst virtuosen Klangstrom, worin jedoch dem Disparaten gleichsam die Ecken und Kanten abgeschlagen wurden. Das erinnert ein wenig an die Hyper-Virtuosität früherer sowjetischer, aber auch mancher heutiger Orchester aus dem Putin-Reich, bei denen kühle Perfektion ein Schutzschild ist, um sich nicht allzu sehr auf den subversiven Geist der Musik einlassen zu müssen."

Weitere Kritiken im Bayerischen Rundfunk, auf BR Klassik, im Salzburger Drehpunkt Kultur und dem Kölner Stadtanzeiger.

Auch in der Kunst sollte man den Tyrannenmord nicht romantisieren, meint im Interview mit der nachtkritik der Kölner Theaterwissenschaftler und Shakespeare-Forscher Peter W. Marx mit Blick auf die Aktion "Scholl 2017" des  Zentrums für politische Schönheit (ZpS) , das unter anderem Flugblätter mt dem Aufruf "Tod dem Dikator" in den Gezipark flattern ließ. "Der Tyrannenmord ist ja eigentlich nicht das, was wir als Mittel der politischen Wahl tatsächlich propagieren wollen. Zumindest scheint mir das eine Lehre der jüngeren Verhältnisse zu sein: dass es eher die Rhetorik von Sieg und Niederlage ist, die uns in Schwierigkeiten bringt, als der einfache oder vermeintlich einfache Widerstand. ... Es ist eine Romantisierung von Widerstand und Tyrannenmord. Diese Romantisierung macht mich offen gesagt sehr nachdenklich, weil sie historisch nicht bis ans Ende gedacht ist. Wir haben heute internationale Gerichtshöfe, auf denen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt und Täter bestraft werden. Das scheint mir ein zivilisatorischer Fortschritt zu sein."

Weiteres: In der taz erzählt der in Berlin lebende israelische Choreograf Nir de Volff von seiner Arbeit mit Geflüchteten aus Syrien. In der Berliner Zeitung berichtet Dirk Pilz von andauerndem Widerstand der Castorf-Fans gegen Chris Dercon.

Besprochen werden Choreografien von Germaine Acogny, Rachael Young und Dwayne Antony beim Wiener Festival Impulstanz (Standard) sowie Salzburger Inszenierungen von Karin Henkel und Andrea Breth (taz).
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Kunst


Philip Guston, The Line (1978). © The Estate of Philip Guston

In der Gallerie dell'Accademia in Venedig wird derzeit große Schau Philip Gustons gezeigt. Der 1980 gestorbene amerikanische Maler war ein Solitär, meint ein begeisterter Kolja Reichert in der FAZ, mit einer ganz eigenen Bildsprache: "Erstaunlich, wie seine späteren, figurativ genannten Bilder (die ja eher Abstraktion wie Figuration gegen den Strich bürsten) Hermetik und Beredsamkeit verbinden: 'Masaccio, Piero, Giotto, Tiepolo, de Chirico', so hat Guston die Namen seiner italienischen Gewährsmänner über eine Leinwand verteilt, die er 'Pantheon' nannte. Wie Traumerinnerungen sind eine verkrüppelte Staffelei und eine Glühbirne hineingeschaltet, die als geheimnisvolle Chiffre durch seine Bilder geistern, und zugleich als profan-konkrete Reminiszenz an die Nachtarbeit im Atelier."

Weiteres: Manfred Rebhandl unterhält sich im Standard mit Hermann Nitsch. In der taz informiert Brigitte Werneburg über den sehr amerikanischen Streit um den Maler Jimmie Durham.

Besprochen werden eine Ausstellung von Adrian Villar Rojas zum 20. Geburtstag des Kunsthauses Bregenz (Tagesspiegel) und eine Ausstellung des Begründers der Paris Bar in Berlin Künstlerkumpans Michel Würthle in der Wiener Dependance der Berliner Galerie Crone ("Genauso hatte man ihn sich vorgestellt: ein etwas herrischer und ungeduldiger Elegant, mit Anfang 70 immer noch der coolste Hund der Stadt", meint Jan Kedves, der ihn für die SZ getroffen hat).
Archiv: Kunst

Film



Mit "Final Portrait", einem Film über die Sitzungen zu Alberto Giacomettis letztem Bild, ist Regisseur Stanley Tuccis "ganz gewiss einer der besten Atelierfilme aller Zeiten" gelungen, schreibt Kerstin Decker im Tagesspiegel. Der Rauch aus den Zigaretten des Künstlers ist "mitunter das Einzige im Raum, was sich bewegt. Das ist großartig! ... Man könnte das auch mehr philosophisch erklären. Kino ist eine Kunst der Zeit, in diesem Fall währt sie genau 90 Minuten. Aber zwischendurch steht sie öfter mal still: Zum Raum wird hier die Zeit! Und genau das sollte in einem Atelier passieren." Für die Welt bespricht Marcus Woeller den Film, hier ist unsere Kritik während der Berlinale. Dominik Kamalzadeh unterhält sich im Standard mit Schauspieler Armie Hammer, der in "Final Portrait" für Geoffrey Rushs Giacometti Modell sitzt.

Auch in der Schweiz diskutiert man am Rande von Festivals - wie aktuell in Locarno - über die Frauenquote in der Filmproduktion, berichtet Peter Jankovsky in der NZZ. Den Locarno-Eröffnungsfilm "Freiheit" von Jan Speckenbach hat für die NZZ eine allerdings sehr unterwältigte Susanne Ostwald gesehen. Urs Buehler spricht auf dem Festival mit der Schauspielerin Fanny Ardant, die in Nadir Moknèches "Lola Pater" eine algerienstämmige Transsexuelle spielt: Ihre "Präsenz trägt diesen Film über weite Strecken und bewahrt einer Figur, die ins Groteske kippen könnte, die Würde: Dieser Stolz bei allen Verletzungen, diese Energie und diese Sinnlichkeit - ein Anklang an Zeiten, als Ardant auf der Leinwand nur auf dem Bett sitzen und die Strümpfe ausziehen musste, um das Publikum zu elektrisieren"

Weiteres: Patrick Holzapfel hat sich in Locarno für kino-zeit.de unterdessen Sonia Kronlunds Dokumentarfilm "Nothingwood" angesehen. Für die Welt porträtiert Marcel Reich den Schauspieler Rufus Beck. Christina Tilmann erinnert in der NZZ an Robert Mitchum, der vor 100 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden Matt Reeves' "Planet der Affen: Survival" (FR, ZeitOnline, unsere Kritik hier), Philippe Lacheaus neue Komödie "Alibi.com" (FR) und die auf Tele5 ausgestrahlte SF-Serie "Dark Matter", die FAZ-Kritikerin Heike Hupertz allen Genrefans ans Herz legt: "Eine Zierde des Sommerprogramms." Hier die ersten beiden Folgen online.
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Literatur

Lars von Törne, Comicredakteur beim Tagesspiegel, hat sich in Hongkong erkundigt, wie Comiczeichner und -autoren auf das teils drastische Verhalten der chinesische Regierung gegenüber der einstigen Kronkolonie reagieren. Seit einiger Zeit wimmle es in den Strips beispielsweise vor Regenschirmen: "In Hongkong versteht das Symbol jeder Leser sofort: Der Regenschirm steht für das 'Umbrella Movement', die Demokratiebewegung, die aus den Bürgerrechtsprotesten des Jahres 2014 hervorgegangen ist. ... Noch gibt es in Hongkong vergleichsweise viele Freiräume und Foren, in denen die Bürger - im Gegensatz zur Volksrepublik China - ihre kritische Sicht ausdrücken und sich politisch zusammenschließen dürfen. Aber die Einflussnahme Pekings auf Politik und Alltag wird immer größer."

In der NZZ verabschiedet sich der Schriftsteller Ulf Erdmann Ziegler von der sich nach jüngsten Skandalen nun noch schneller neigenden Ära des Verbrennungsmotors, dessen Brummen und Röhren er als Kind noch mit Leidenschaft nachgestellt hat. "Dem Heulen des Motors bei roter Ampel, einst der Minnesang der Kavaliere, hatte Daimlers Smart ein Ende gesetzt. Mit dem Fuß auf der Bremse blieb der Motor stumm. Die Vernunft hat den Verbrennungsmotor gekapert und das Herumstehen von Fahrzeugen im Carsharing kollektiviert: Man fuhr, weil man wollte; jetzt fährt, wer muss. Das smarte Auto taugt nicht zum Statussymbol, wohl aber das smarte Phone, mit dem man das Vehikel lokalisiert und ordert." (Die SZ hat außerdem einen Artikel von Thomas Steinfeld online nachgereicht, der sich ebenfalls mit dem Niedergang des Verbrennungsmotors beschäftigt.)

Bei der Ausstellung "Von Zweig bis Handke - Die Sammlung Adolf Haslinger" im Literaturarchiv Salzburg hat FAZ-Kritiker Simon Strauss auch einen Blick in Stefan Zweigs "Hauptbuch" werfen können, eine Art Logbuch über die eigenen Veröffentlichungen, deren Auflagen, Honorare und Kritiken. Dafür dienlich war dem Schriftsteller, so erfahren wir, "Adolf Schustermanns Zeitungsausschnittdienst in Berlin, der - als ein früher Vorfahre des 'Perlentauchers' - alle wichtigen Tages- und Wochenzeitungen nach Artikeln über seine Person und sein Werk durchsuchte."

Besprochen werden Doron Rabinovicis "Die Außerirdischen" (NZZ), Anuk Arudpragasams Debüt "Die Geschichte einer kurzen Ehe" (online nachgereicht von der FAZ), Nina Bußmanns "Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen" (FR), E.C. Osondus "Dieses Haus ist nicht zu verkaufen" (Tagesspiegel),  Jaroslav Kalfařs "Eine kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt" (Tagesspiegel), Tom Schulz' Lyrikband "Die Verlegung der Stolpersteine" (Tagesspiegel), neue Mumins-Comics (Tagesspiegel) und Marcello Quintanilhas Comic "Tungstênio" (SZ).
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Musik

Kristof Schreuf springt in der taz im Dreieck vor Glück darüber, dass die Dekonstruktions-Rock'n'Roller von Royal Trux sich endlich wieder für ein Album namens "Platinum Tips & Ice Cream" zusammengefunden haben. Über das Album selbst verliert er allerdings kaum ein Wort, sondern nutzt den reichlich vorhandenen Zeichenplatz für eine Kulturgeschichte der Teenie-Langeweile, die ins Gitarrenriff mündet, und eine ausführliche Würdigung der Band, die in den 90ern im Feld der Gitarrenmusik mit die interessantesten Veröffentlichungen hervorgebracht hat. Sie entdeckte damals, "dass sich Akkorde durch den Kakao ziehen und mit Füßen treten lassen. Geschmacksverirrungen können leuchten wie ein Licht am Ende eines Tunnels und Lieder werden aus Blut gemacht. Kompressoren, Delays sowie weitere Effektgeräte lassen sich an Gitarren und Keyboards anschließen, um womöglich die Musik, aber auch sich selbst bloßzustellen. So entsteht Lärm mit Rückgrat, Spacerock aus der Graswurzel oder Rockabilly, als wenn Sun Ra ihn spielen würde." Weitere Besprechungen auf Popmatters und Pitchfork, eine Hörprobe gibt es auf Bandcamp:



Weiteres: Unerwartet "grandios" findet Andrian Kreye in der SZ das neue Album "Power of Peace", das Carlos Santana zusammen mit den Isley Brothers eingespielt hat. Auf dem Wasser vor dem Berliner Watergate-Club Klassikacts musizieren zu lassen, sei zwar an sich eine gute Idee, meint Udeo Badelt im Tagesspiegel, doch leider hatte man nicht daran gedacht, dass sich auf der benachbarten Oberbaumbrücke auch gerne mal lautstarke Punks tummeln.

Besprochen werden das neue Album von Haim (Standard), ein Konzert von Thurston Moore und Caspar Brötzmann (Tagesspiegel, taz), ein Konzert von Hauschka (FR), Jacob Mafulenis und Gary Gritness' Album "Batanidzo" (taz), eine Aufführung des Mozart zugeschriebenen "Kegelstadt-Trios" durch Dimitri Ashkenazy, Bernd Glemser und Ada Meinich in Zürich (NZZ) und neue Popveröffentlichungen (ZeitOnline), darunter das neue Album von Katie Von Schleicher. Daraus das aktuelle Video:

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