Efeu - Die Kulturrundschau

Pracht, Herrlichkeit und Verblendung

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18.11.2020. Hyperallergic bewundert die verstörende Sinnlichkeit der brasilianischen Künstlerin Lucia Nogueira. Die FAZ möchte auch den Beethoven verehren, der politisch auf der falschen Seite stand. Auf ein geteiltes Echo stößt Andres Veiel mit seinem Klima-Prozess "Ökozid". Und in der NZZ verrät David Wagner, warum Berlins Straßen so breit angelegt sind.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.11.2020 finden Sie hier

Kunst

Lucia Nogueira: Inferno Divine Comedy. Bild: Galeria Luisa Strina

Auf Hyperallergic freut sich Ela Bittencourt, dass Brasilien die große, früh verstorbene Künstlerin Lucia Nogueira entdeckt. Die Luisa Strina Galerie in São Paulo stellt ihre Aquarelle zu Dantes Inferno aus: "Nogueiras Inferno ist heiß und schrecklich, wie man es erwarten würde. Ungeheuerliche, enthauptete Gestalten ziehen durch die Landschaft, angedeutet in toten Grüntönen, diffusen Braun- und Rottönen, mit Anzeichen von Feuer und Rauch. In einem Aquarell schmachtet unter einem Laken ein kopfloser Frauenkörper. In einem anderen schwebt ein Trio nackter Körper über einer Wanne, in der eine Landschaft versinkt. Doch diese geschmeidigen, wehmütigen Szenerien betören ebenso wie sie verstören. Die rhythmische Komposition und die leuchtende orange-pinke Rohheit der entblößten Fleisches verleiht den Bildern eine ausschweifende Sinnlichkeit. Mitunter erinnert ihre offene, verzweifelte Fleischlichkeit an Egon Schiele und Francis Bacon."

Weiteres: Der Tagesspiegel informiert über die große Razzia und Festnahmen gestern in Berlin nach dem Raub in Dresdens Grünem Gewölbe. In Wien wurde gestern das House of Rituals eröffnet, berichtet Katharina Rustler von der Vienna Art Week im Standard, und wenn alles gut läuft, wird dort Elisabeth von Samsonow übermorgen das Matriarchat ausrufen. Online, versteht sich. Der Guardian holt in seiner Verzweiflung schon achtzig Jahre alte Besprechungen aus seinem Archiv.
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Architektur

Der Schriftsteller David Wagner flaniert für die NZZ durch die Straßen von Berlin und kann unter anderem auch erklären, warum sie eigentlich so schön breit angelegt sind: "Haben die Stadtplaner des 19. Jahrhunderts bereits an Autos gedacht? Die Antwort lautet wenig überraschend Nein, die breiten Berliner Straßen wurden nicht als Autoabstellfläche erbaut. James Hobrecht zeichnete sie so breit in seinen berühmten Plan von Berlin, um den Bau von Barrikaden zu erschweren. Das war die Lehre, welche die Stadtplaner des 19. Jahrhunderts aus dem Revolutionsjahr 1848 zogen: Enge Straßen sind bei Aufständen gefährlich für die Obrigkeiten; am damals noch ziemlich unübersichtlichen Platz vor dem Rosenthaler Tor standen im März 1848 Barrikaden, an die dort heute nichts mehr erinnert. Auf den neuen, breiten Berliner Straßen konnte eine Kompanie sich dann mit aufgepflanztem Bajonett nebeneinander aufstellen, um, wenn es sein musste, aufmüpfige Stadtbewohner zu befrieden."
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Film

Merkel vor Gericht: Andres Veiels "Ökozid" (Bild: ARD)

Das Erste zeigt Andres Veiels neuen Film "Ökozid", ein im Jahr 2034 angesiedeltes Gerichtsdrama, das die Verantwortlichen für die ökologischen Verheerungen der Zukunft in unserer Gegenwart sucht. Der Filmemacher "inszeniert kein Tribunal 'Gut gegen Böse'", versichert Stefan Reinecke in der taz. Zu sehen sei vielmehr "ein rhetorisches Ringen zwischen dem soliden, interessegeleiteten bundesdeutschen Pragmatismus und globaler Moral". Deutlich werde dabei, "dass die deutsche Politik in Brüssel Klimaschutz nach 2000 wirksam sabotierte." Ein "mutiges Kunstwerk" sieht SZ-Kritiker Alex Rühle in dem Film, der zwar in der Zukunft spielt, aber von der Gegenwart geprägt ist: "Gedreht wurde im vergangenen Juni, weshalb die Akteure im Gerichtssaal durch coronakompatible Plexiglaswände voneinander getrennt werden - was aber exzellent in dieses Prozess-Setting passt, so abgeschottet wie beide Seiten in ihren Argumentationsmustern hocken."

Welt-Kritiker Alan Posener hält den auf dem Wort "Genozid" aufbauenden Begriff "Ökozid" für vermessen und den so betitelten Film für fade. Obendrein fühlt er sich von den ARD-Sendern, die den Film als Teil einer ganzen Themenwoche konzipiert haben, unangenehm belehrt: "Kann es Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Medien sein, die Bürger*innen eine Woche lang auf allen Kanälen aufzufordern, ihr Leben zu ändern? Wäre das in einer Demokratie - wenn schon - nicht Aufgabe der Parteien?"

Außerdem: In der taz schwärmt Claus Leggewie von dem "nachdenklichen, doch niemals hagiografischen" Dokumentarfilm "Lettre à G." über den Philosophen André Gorz, ein Film "voller Sympathie für den antiheroischen Helden". Besprochen werden die Memoiren der Schauspieler Michael J. Fox (Berliner Zeitung) und Matthew McConaughey (SZ).
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Bühne

Seit April ist die Metropolitan Opera von New York geschlossen, im September kündigte sie an, die gesamte Spielzeit 2020/2021 zu streichen. In der FAZ schildert Roland Lindner, was das für die Musiker der Met bedeutet: "Die meisten Mitarbeiter, darunter Orchester, Chor und Bühnenarbeiter, sind seit Anfang April beurlaubt. Sie bekommen kein Gehalt mehr, nur die Krankenversicherung ist ihnen geblieben. Und da nun klar ist, sie werden bestenfalls in knapp einem Jahr wieder gebraucht und die Rückkehr zum gewohnten Alltag liegt in weiter Ferne, steht es düster um ihre Finanzen. Sie bekommen um die fünfhundert Dollar Arbeitslosenhilfe in der Woche vom Bundesstaat New York, die zusätzliche Unterstützung von sechshundert Dollar, die es anfangs noch von der Bundesregierung in Washington gab, ist im August ausgelaufen."

Wolfgang Behrens wünscht sich in der Nachtkritik wie jüngst auch Janis El-Bira oder einst Nikolaus Merck, dass das deutsche Theater Figuren der Macht nicht nur denunziert, sondern auch mal ergründet: "Um dem 'schillernden Rätsel' der Mächtigen auf den Grund gehen zu können, wird man um die Darstellung ihrer 'Pracht, Herrlichkeit und Verblendung' nicht herumkommen. Und um die psychische Grundlage, einen Lear, einen Werle, einen Dreißiger und einen Trump zu spielen, sollte man kämpfen. Ansonsten wird man das Theater als Instrument der Machtanalyse sehr bald einfach nur vergessen können."
Archiv: Bühne
Stichwörter: Metropolitan Opera

Literatur

Im Tagesspiegel porträtiert Aleksandra Lebedowicz die Schriftstellerin Lana Lux, die 1996 aus der Ukraine nach Deutschland kam. In ihrem neuen Roman "Jägerin und Sammlerin" geht es denn auch um ähnliche Migrationserfahrungen, die selten reibungslos vonstatten gehen. Entsprechend "zuckt sie jedes Mal zusammen, wenn sie die Wohlfühl-Integrationsmythen hört von Kids, die ganz von allein Deutsch aufschnappen: Wer akzentfrei sprechen möchte, müsse verdammt viel Mühe investieren. Das gilt auch fürs Schreiben."

Besprochen werden unter anderem Marius Goldhorns "Park" (Zeit), Sara Sligars Krimi "Alles, was zu ihr gehört" (Freitag), Leander Fischers "Die Forelle" (NZZ), Stefanie Sargnagels "Dicht" (online nachgereicht von der FAZ), André Acimans "Find me" (SZ) und Ilja Leonard Pfeijffers "Grand Hotel Europa" (FAZ).
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Musik

In der FAZ rät der Musikwissenschaftler Ulrich Konrad dazu, die sattsam bekannten Pfade des Beethoven-Kanons einmal zu verlassen und sich dem weitaus größeren, in Repertoire-Kisten vor sich hin verstaubenden Werk des Komponisten zu widmen. Dort warten Überraschungen, verspricht er: "Schon genug, dass der Beethoven zugeschriebene revolutionäre, beinahe demokratische Habitus bei näherer Betrachtung Fragezeichen provoziert, wenn man etwa in Aufzeichnungen wohl von 1822 liest: 'Unter unß gesagt, so republikanisch wir denken, so hat's auch sein Gutes um die oligarchische Aristokratie.' Soll man sich nun auch noch ernsthaft auf Musik einlassen, die politisch so gründlich auf der 'falschen' Seite steht wie die ambitionierte, für den Wiener Kongress geschriebene Kantate 'Der glorreiche Augenblick' op. 136? ... Beethoven geht nicht auf in dem idealistischen Bild, welches das Bürgertum des neunzehnten Jahrhunderts entworfen hat."

In der Welt plaudern die Musiker von Kruder & Dorfmeister darüber, warum sie ihr Debütalbum von 1995 erst jetzt veröffentlichen. Dass dieses Album auch heute noch problemlos bestehen kann, versichert Karl Fluch in seiner Besprechung im Standard: "Diese Musik besitzt trotz vermeintlicher Ereignislosigkeit eine hypnotische Qualität. ... Kaum jemand arbeitete so detailversessen wie die beiden. Ein bisserl Tschuggi-tschugg aus dem Latin Jazz, dort ein Lustschrei aus dem Soul, da eine Tröte vom Jazz. Verknüpft mit der Wiener (Nach-)Lässigkeit wurde das zur Trademark K&D. ... Selbst skizzenhaft erscheinende Tracks überraschen mit feinspitzigen Details." Wir hören rein:



Weitere Artikel:In der NZZ erinnert Thomas Schacher an den vor 100 Jahren geborenen Komponisten Armin Schibler. Besprochen werden neue Alben von Lambchop (taz), Christo Graham (Berliner Zeitung), Mountain Goats (Jungle World) und Annenmaykantereit (Berliner Zeitung) sowie weitere neue Popveröffentlichungen, darunter das Debüt der Sängerin Buzzy Lee, hinter deren Pseudonym sich Sasha Spielberg, Steven Spielbergs Tochter, verbirgt (SZ).

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