Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Funke emotionale Tiefe

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23.05.2023. Höchst beglückt melden die Filmkritiker aus Cannes weitere Highlights im Wettbewerb, taz und Tagesspiegel sehen Sandra Hüller in Höchstform. Die NZZ geht mit George Benjamins markerschütternde Oper "Lessons in Love and Violence" auf Höllenfahrt. Die FAZ lernt bei Yoshitomo Nara in der Wiener Albertina, dass angry girls gute Laune machen. Die SZ bewundert die Noblesse der Geigerin Erica Morini.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.05.2023 finden Sie hier

Film

Sandra Hüller stellt sich der Jury ein zweites Mal in diesem Wettbewerb: "Anatomy of a Fall"

Halbzeit in Cannes und gute Laune bei Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche, "weil der Wettbewerb in diesem Jahr auf der ganzen Linie überzeugt". Mit Justine Triets Gerichtsdrama "Anatomy of a Fall" gesellt sich ein weiteres Highlight hinzu - es ist (nach Jonathan Glazers "The Zone of Interest", mehr dazu hier und in Hanns-Georg Rodeks Besprechung in der Welt) der zweite Film dieses Wettbewerbs, in dem Sandra Hüller eine Hauptrolle spielt: Hier gibt sie eine Schriftstellerin, die bezichtigt wird, ihren Ehemann ermordet zu haben. In den Mittelpunkt des Films rückt dabei "die Anatomie einer Ehe. Die Wahrheitssuche, ob Mord oder Suizid, legt Schicht für Schicht eine komplizierte, nach einem tragischen Unfall sich langsam auflösende Beziehung offen. ... Es ist ein schauspielerischer Drahtseilakt, weil Hüllers Figur nie um die Sympathien der Jury im Gerichtssaal buhlt. 'Anatomy of a Fall' will sich keiner absoluten Wahrheit annähern", auch "weil zwischenmenschliche Beziehungen, zwischen Charakterschwächen, persönlichen Kränkungen, Egoismen sowie einer Vielzahl vertrauter Momente, am Ende immer ein Konstrukt subjektiver Erfahrungen bleiben. Gut möglich, dass Sandra Hüller in diesem Jahr ihre Palme erhält." Auch tazler Tim Caspar Boehme sieht Hüller in Höchstform: Sie "verkörpert diesen egoistischen Künstlertypus mit einer bis ins Kleinste nuancierten Ambivalenz, zwischen manipulativ und verletzlich schwankend". Auf Artechock winkt Rüdiger Suchsland eher ab: Hüllers erster Auftritt im Festival war viel besser, dieser hier ist nur "solide, der Film als Ganzes erinnert aber mehr an gehobenes Fernsehen".

Geteilte Essstörungen unter Wohlhabenden: "Club Zero"

Mit Jessica Hausners Schuldrama "Club Zero" hatte eben ein weiterer Palmenfavorit Weltpremiere, schreibt Valerie Dirk im Standard. Der Film handelt davon, wie ein neues Schulfach "Bewusst Essen" zu sektenartigen Verstrickungen führt. Diese "formalistische Kunstkinosatire auf die Nahrungszwänge der Bessergestellten" inszeniert die Regisseurin "in gewohnt distanzierenden, durchkomponierten Bildern mit Liebe zum designten Detail, während der Percussion- und Gesangssoundtrack die Spannung hält und Gesellschaftshorror - etwas offensiver als Tati - mit Humor versetzt. ... Trotz Satire und typisierten, auf Distanz bleibenden Figuren, hat sich auch ein Funke emotionale Tiefe in 'Club Zero' geschlichen, nämlich dann, wenn er den gefährlichen Konkurrenzdruck einer geteilten Essstörung erfahrbar macht und die Ratlosigkeit von Eltern, deren Kinder in selbstzerstörerisches Verhalten abdriften, Ernst nimmt."

Abseits von Cannes: Sandra Kegel befasst sich für die FAZ mit der Lage von Schauspielerinnen über 40, die kaum noch Rollen finden - und wenn, dann selten interessante. Zwar gibt es namhafte Schauspielerinnen in diesem Alter, die präsent und auszeichnungswürdig bleiben. Doch das sind Ausnahmen, wie eine Studie des Instituts für Medienforschung der Universität Rostock belegt: "Demnach nimmt hierzulande der Anteil von Frauenfiguren, die älter als dreißig sind, ab, während mehr als zwei Drittel der zentralen Figuren über fünfzig männlich sind. Zwar nehme das Personal mit zunehmendem Alter insgesamt ab, doch während dies bei Schauspielern ab fünfzig der Fall sei, würden ihre Kolleginnen bereits ab Mitte dreißig aussortiert. Verstärkt wird diese Entwicklung dadurch, dass Frauenfiguren mit Schauspielerinnen besetzt werden, die wesentlich jünger sind als die Rollenvorlage. 'Das führt bisweilen zu aberwitzigen Konstellationen, dass wir vierundzwanzigjährige Schauspielerinnen sehen, die im Film ein abgeschlossenes Ingenieurstudium haben, außerdem zwei Teenagerkinder und im Beruf auch noch erfolgreich sind', sagt die Schauspielerin Anke Sevenich."

Weitere Artikel: Andreas Busche (Tsp) und Johanna Adorján (SZ) sprechen mit Laura Poitras, deren (im Tagesspiegel besprochener) Dokumentarfilm "All the Beauty and the Bloodshed" (mehr dazu bereits hier) jetzt in den Kinos anläuft. In der FAZ gratuliert Claudius Seidl Joan Collins zum 90. Geburtstag. Besprochen werden A. V. Rockwells "A Thousand and One" (taz), die Realverfilmung des Disney-Animationsfilmklassikers "Arielle, die Meerjungfrau" (Welt, Tsp, Presse), ein Dokumentarfilm über Michael J. Fox und dessen Parkinson-Erkrankung (TA) die Comedyserie "German Genius" mit Kida Khodr Ramadan (FAZ) und die ZDF-Serie "WatchMe - Sex sells" über Erotik-Plattformen (taz).
Archiv: Film

Bühne

George Benjamins "Lessons in Love and Violence. Foto: Herwig Prammer / Opernhaus Zürich

Großereignis in Zürich mit George Benjamins Oper "Lessons in Love and Violence". Angelehnt an Christopher Marlowes Geschichtsdrama "Edward II." erzählt sie von Macht und Missbrauch, wie Marco Frei in der NZZ erklärt: Während das Volk hungert, vergnügt sich der König mit seinem Günstling Gaveston, bis beide vom Liebhaber der König grausam ermordet werden. Die sängerische Leistung sei überragend und Dirigent Ilan Volkov mache die Höĺlenfahrt geradezu körperlich spürbar, jubelt Frei. Und dann dann die Musik: "Benjamin ist ein Meister der Orchestrierung, der ohne austauschbare 'Deko-Klänge' auskommt; er zählt ohnehin nicht zu den Vielschreibern, die stets mit denselben Versatzstücken jonglieren. Benjamin sucht in seinem Schaffen immer schon nach sehr individuellen und bezwingenden Lösungen für jedes einzelne Werk. Er verfolgt dabei seit langem beharrlich einen ganz eigenen Weg, ohne irgendwelchen Moden und Trends zu erliegen. In seiner Musik hat der heute 63 Jahre alte Brite nie mit seriellen Techniken, Elektroakustik oder Geräuschaktionen gearbeitet. Das avanciert Moderne erreicht Benjamin durch die Erneuerung der Instrumentation und einen staunenswerten Umgang mit Klangfarben. Das mag er einst von seinem großen Lehrmeister Olivier Messiaen gelernt haben, seine Lösungen aber sind ureigen."

Katja Kolllmann berichtet in der taz von der Reihe 10 Treffen, das im Rahmen des Theatertreffens ukrainischen und belarussischen Künstlern eine Bühne gibt. Besonders bedrückt erzählt sie von Igor Shugaleevs Performance "375 0908 2334 The body you are calling is currently not available": "Besonders bewegend ist der Teil des Textes, in dem er erklärt, dass man als Belarusse/Belarussin von Schuldgefühlen geplagt wird, weil es einem besser geht als anderen. Zum Beispiel: Man wurde (noch nicht) verhaftet, man wurde in der Haft nicht so schlimm gefoltert wie andere und vor allem, man ist im Exil in Sicherheit. Ein Schuldsyndrom, das bei Holocaust-Überlebenden das erste Mal umfassend analysiert wurde. Shugaleev erläutert, dass die Haltung, die er einnimmt, typisch ist für eine Zwangsstellung, die die in Belarus Verhafteten in der Regel über Stunden einnehmen müssen. Er illustriert das durch ein kurzes Video aus einem belarussischen Polizeigewahrsam und kommt nun auf die symbolische Telefonnummer im Titel seiner Performance zu sprechen: 375 ist die Landesvorwahl von Belarus, 0908 steht für den 9. August 2020, den Tag der Präsidentschaftswahl und den Beginn der Proteste, 2334 bezeichnet ein Gesetz in Belarus, nachdem Demonstrierende strafrechtlich verfolgt werden können. (Bis heute wurden so über 40.000 Belaruss*innen verurteilt.)"

Besprochen werden Damiano Michielettos Inszenierung von Verdis "Aida" an der Bayerischen Staatsoper (die bei Welt-Kritiker Manuel Brug keine Opernstimmung aufkommen lassen wollte: "Wieder so eine dieser "Ja mei geht scho"-Premieren, wie sie sich in München gegenwärtig häufen"), Antú Romero Nunes' Zürcher Inszenierung von Shakespeares "Sommernachtstraum" beim Berliner Theatertreffen (Tsp), Francis Poulencs düstere Oper "Dialogues des Carmélites" an der Wiener Staatsoper (Standard) und Heike Goetzes Bühnenfassung von Jovana Reisingers Roman "Spitzenreiterinnen" am Staatstheater Kassel (FR).
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Kunst

Yoshitomo Nara: "Fuck U", 2015. Bild: Albertina Wien
Yoshitomo Nara: "Cup Kid".
Bild: Albertina Wien

FAZ
-Kritiker Hannes Hintermeier streift mit großem Vergnügen durch die Schau "All My Little Words" des japanischen Zeichners Yoshitomo Nara in der Wiener Albertina, lässt sich aber nicht von den vielen großen Kinderaugen, die ihm hier entgegenblicken, täuschen: "Die 'angry girls', für die Nara bekannt ist, tauchen Anfang der Neunziger auf, zehn Jahre später hat er jene comichafte Form für sie gefunden, die den Aufstieg zum Kunstmarkt-Star beflügelte: Überdimensionale Köpfe, runde Gesichter, schmaler Mund, winzige Nasenlöcher, riesige, häufig weit außen sitzende Kulleraugen, Pilzkopffrisuren. Die Figuren sind oft schlecht gelaunt, schimpfen, haben ein Messer oder einen Hammer in der Faust, tragen Boxhandschuhe und sagen Unartiges ("Fuck U") . Sie sind gleichzeitig 'kawaii' (niedlich, süß), rebellisch und latent aggressiv. In Kinderbücher passen sie nur bedingt. Und machen dennoch Laune." In der NZZ sieht das Sabine B. Vogel ähnlich.

Besprochen werden die Ausstellung über die Schauspielerin, Diva und Widerständlerin Tilla Durieux, die so viele Maler und Bildhauer inspirierte, im Georg-Kolbe-Museum (taz) und eine Ausstellung des Renaissance-Meisters Vittore Carpaccio im Dogenpalast von Venedig (Tsp).
Archiv: Kunst
Stichwörter: Nara, Yoshitoma, Diva, Faust

Literatur

Es geht nur noch schief, wenn ukrainische und russische Künstler auf Festivals gemeinsam auftreten oder aufgezichnet werden sollen, stellt Sonja Zekri in der SZ nach Eklats in New York, Osnabrück und Tartu fest und plädiert dafür, darauf einfach zu verzichten: "Wäre es eineinhalb Jahre nach Kriegsbeginn nicht an der Zeit, den Wunsch nach Harmonie durch die Zauberkraft der Kunst als das zu betrachten, was er ist: eine Hoffnung, eine Sehnsucht, brutaler ausgedrückt, eine Utopie? Kunst und vor allem Künstler führen keine überpolitische, sozusagen astrale Existenz, zumal unter den Bedingungen russischer Aggression."

In der NZZ setzt Sergei Gerasimow hier und dort sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Mara Delius schreibt in der Welt einen Nachruf auf den Schriftsteller Martin Amis (weitere Nachrufe hier). Besprochen werden unter anderem Robert Seethalers "Das Café ohne Namen" (FR), Igorts Comic "Berichte aus der Ukraine: Tagebuch einer Invasion" (Jungle World), Andreas Maiers "Die Heimat" (NZZ), Johannes Willms' Biografie über Louis XIV (Welt), Michel Houellebecqs "Einige Monate in meinem Leben" (Standard) und Tove Ditlevsens Erzählband "Böses Glück" (SZ).
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Musik

In der SZ freut sich Harald Eggebrecht über die Wiederbegegnung mit den nun einer großen CD-Box zusammengestellten Aufnahmen der 1995 gestorbenen Geigerin Erica Morini. Heute spielt wohl niemand mehr "das berühmt-berüchtigte Adagio aus Max Bruchs 1. Violinkonzert g-Moll so schmalzfrei, so einfach und nobel" wie sie "1958 in ihrer Aufnahme mit dem Radio-Symphonie-Orchester unter Ferenc Fricsay". Da sie "noch vorbehaltlos an die Kraft und den Adel der romantischen Klanggesten etwa von Louis Spohr, Henryk Wieniawski oder eben Max Bruch glaubte, konnte sie deren Konzerte und Salonstücke gleichsam in ihrer wahren Gestalt darstellen. Technisch geigt Erica Morini in dieser Berliner Aufnahme glanzvoll, nahezu perfekt, kein vulgärer Rutscher, kein aufdringlicher Schluchzer, keine Vibrato-Eitelkeit beschädigen und verunstalten diesen stets auf Klangschönheit und Phrasierungsdeutlichkeit gerichteten Geigengesang."



Aktuelle Plagiatsvorwürfe in der Popmusik (Ed Sheeran, Katy Perry, Loreen) findet  Konstantin Nowotny im Freitag fast schon aus der Zeit gefallen: "In naher Zukunft dürfte es ein Leichtes sein, mit der Komposition eines solchen Popsongs eine KI zu beauftragen, das lässt die aktuellen Plagiatsdiskussionen ein wenig lächerlich wirken."

Besprochen werden ein Konzert des Gewandhausorchesters unter Andris Nelsons beim Mahler-Festival in Leipzig (FAZ, hier zum Nachhören), ein Konzert von Jonas Kaufmann in Frankfurt (FR), ein Auftritt von mit Sebastian Weigle und Kit Armstrong in Frankfurt (FR), die Autobiografie des Musikproduzenten Chris Blackwell (FAZ) und neue Popveröffentlichungen, darunter das Comebackalbum der Drone-Meister von Khanate, die das Rad in ihrem Metier laut Standard-Kritiker Christian Schachinger allerdings auch nicht neu erfinden, was aber kein Grund zur Sorge ist, denn: "Von einem Erdrutsch, einer Dachlawine oder einer Erdplattenverschiebung erwartet man sich ja auch nur Handwerk mit goldenem Boden".

Archiv: Musik