Efeu - Die Kulturrundschau

Göttin des Wassers

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.07.2023. FAZ, SZ und FR können angesichts des Klangsturmes bei der Wiederaufführung von Rudi Stephans selten gespielter Oper "Die letzten Menschen" ihren Ohren kaum trauen. Der Filmdienst dringt auf dem Filmfest München unter anderem mit Maximilian Erlenweins Tauchthriller "The Dive" in die dunkleren Bereiche von Mensch und Welt vor. Die FAZ freut sich in Dresden über die Widerspenstigkeit in den Werken der aus der DDR geflohenen Künstlerin Cornelia Schleime. Die SZ wünscht sich zarteres Design.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.07.2023 finden Sie hier

Bühne

Szene aus "Die ersten Menschen" an der Oper Frankfurt. Foto:Matthias Baus.

Die Musik in Tobias Kratzers Inzenierung von Rudi Stephans Oper "Die ersten Menschen" an der Oper Frankfurt schlägt FAZ-Kritiker Jan Brachmann von der ersten Note an in ihren Bann. Die Oper wurde 1920 uraufgeführt und seitdem selten gespielt, so der Kritiker, der gar nicht weiß wohin mit seiner Begeisterung für die musikalische Gestaltung: "Das feine Gespinst der leeren Quinte f-c macht den Odem des Lebens hörbar, den alle Kreatur in sich einsaugt. Dann setzt das biegsame Englischhorn ein, gleitet langsam nach unten und windet sich bald darauf wieder empor wie eine Jugendstilranke - eine organische, vegetative Linienführung, die gleich wieder Bild, bewegtes Bild werden will. Dazu sinken Akkorde nieder, durch Septimen, Nonen und Undezimen so flauschig gemacht, dass sie in amerikanischen Radioschlagern der späten Dreißigerjahre stehen könnten oder in den Ein- und Überleitungspassagen bei den frühen Genies der Revue und des Tonfilms wie Paul Abraham, Franz Grothe oder Theo Mackeben. Man möchte sich sofort in diese Musik stürzen und in ihr untertauchen oder sie gierig auffressen, sie sich einverleiben, egal, was: Man will sie!" Auch SZ-Kritiker Egberth Toll stellen sich bei dem hier entfachten "Klangsturm" die Ohren auf, außerdem überzeugen ihn die Darsteller in dieser "völlig verrückten" Oper: "Die Typenbesetzung ist fabelhaft: Andreas Bauer Kanabas ein beflissener Adahm, Iain MacNeil ein zottelhaariger, ewig schlechtgelaunt keckernder Kajin, Ian Koziara ein glühend euphorischer Chabel. Und alle bläst Ambur Braid weg als hochemotionale Chawa..." Auch FR-Kritikerin Judith von Sternburg ist voll des Lobs, in der nmz bespricht Wolf-Dieter Peter die Aufführung.

SZ-Kritiker Alexander Menden hat in den neuen Aviva Studios eine fulminante Eröffnung des Manchester International Festival erlebt. Das Eröffnungsstück "The Faggots and Their Friends Between Revolutions" ist ein "satirisch-proklamatorisches LGBTQ+-Singspiel mit Mitmachteil", lesen wir. Der Kritiker ist ganz euphorisch: "Die 15 Darstellenden sind Multiinstrumentalisten, die ... auf höchstem Niveau spielen. Die dazu tanzen, singen, chorisch sprechen und so die Geschichte der 'Faggots' (in etwa die englische Entsprechung von 'Schwuchtel', hier liebevoll verwendet) erzählen, die sich im restriktiv-brutalen heterosexuellen Männer-Staat Ramrod eine Existenznische erkämpfen müssen - bis zur nächsten Revolution, die ihnen den Sieg bringen wird."

Besprochen werden in einer Doppelbesprechung Guntbert Warns Inszenierung von "Tartuffe" und Robert Meyers Inszenierung von Johann Nestroys Stück "Einen Jux will er sich machen" im Rahmen der Festspiele Reichenau (nachtkritik), Christian H. Voss' Inszenierung von "My Fair Lady" im Rahmen der Bad Vilbeler Burgfestspiele (FR), das Stück "Angela (a strange loop)" inszeniert von Susanne Kennedy und dem Künstler Markus Selg im Rahmen des Festivals Theater der Welt (FR) und dessen Eröffnungsstück "Die Bakchen - Holstein-Milchkühe" von Satoko Ichihara (Welt).
Archiv: Bühne

Musik

Jens Uthoff trifft sich für die taz mit mittlerweile im Berliner Exil lebenden Leuten aus dem Kollektiv, das in Kyjiw den auch schon vor Kriegsbeginn legendären Club K41 betreibt. Dieser hat in den Kriegsmonaten eine überwältigende Solidarität erfahren und ist seit vergangenem Herbst wieder geöffnet, allerdings nur bis zur Sperrstunde um 22 Uhr. "Tanya war vor einigen Monaten zuletzt in Kyjiw zu Besuch, ging auch tanzen im K41. 'Es ist ein bisschen anders als vor Kriegsbeginn. Selbstdarstellung und solche Dinge spielen keine große Rolle mehr, stattdessen geht es darum, zusammenzukommen und sich gegenseitig Mut zuzusprechen. Beim Tanzen kann man mal kurz vergessen, was gerade passiert.'" ... Tanya klingt wehmütig, wenn sie von dem Veranstaltungsort spricht, ist er für sie doch ein Sehnsuchtsort: 'Seit ich im K41 arbeitete, hatte ich das Gefühl, einen Teil von mir gefunden zu haben, der mein ganzes Leben lang gefehlt hat.'"

Außerdem: In der SZ plaudert Jakob Biazza mit Konstantin Wecker, der sich für einen Auftritt in München als Filmkomponist präsentiert. Dolly Parton macht beim allgemeinen Musikrechte-Verscherbeln nicht mit, meldet Harry Nutt in der Berliner Zeitung.

Besprochen werden Chris Isaaks Auftritt in Montreux (NZZ), ein Mahler-Konzert des Freigeist-Ensembles in Kloster Eberbach (FR), ein Konzert von Pink in München (SZ), ein von Allan Bergius dirigiertes Strauss-Konzert des Attacca-Jugendorchesters in München (SZ) und eine Anthologie mit Jazzaufnahmen des Rolling-Stones-Schlagzeugers Charlie Watts (Ohne dessen Namen "wäre das nur eine solide, aber doch etwas dürftige Zusammenstellung leicht ungelenker britischer Jazzcover", seufzt Andrian Kreye in der SZ).

Archiv: Musik

Design

Alles wird groß und breit, verzweifelt Gerhard Matzig in der SZ. Nach dem SUV-Trend kommen nun auch E-Bikes im XXL-Bereich - und das nicht nur, um auch Menschen mit mehr Gewicht zu transportieren. Auch im Möbelmarkt wurde man diesbezüglich hellhörig: "Sofas werden auf diese Weise zu Sofalandschaften und Gartenstühle zu aufgedunsenen Loungemöbeln. In der Mode gibt es den 'Airbag-Style' (man erinnere sich an das Bild von Papst Franziskus in einem weißen Aufplusterungsmantel, das durchs Netz ging und sich später als KI-Fake entpuppte). Taschen sehen aus wie Schwimmflügel. Das Leben wird zur Hüpfburg, Menschen zu Michelin-Männchen. Irgendjemand in der Produktgestaltung scheint den Satz 'Du kannst mir mal den Schuh aufblasen' verdammt wörtlich zu nehmen. Könnten wir bitte wieder zarte Autos, leichte Fahrräder, unaufgeblasene Schuhe, filigrane Handtaschen und dezente Möbel haben?"

An diesem Aufruf ein Beispiel genommen hat sich vielleicht das New Yorker Künstlerkollektiv MSCHF, das eine mikroskopisch kleine Handtasche im Louis-Vuitton-Stil aus Plastik angefertigt und für diese fast schon buchstäbliche Ahnung von einem Nichts auf einer Auktion über 63.000 Dollar eingefahren hat, wie Melchior Poppe in der NZZ meldet. Ein Mikroskop erhielt der Käufer als Dreingabe. Die Künstler nehmen dabei gerade den um sich greifenden Luxus in der Modebranche aufs Korn: "Die Vorliebe der Modeindustrie zu kleinen Taschen habe dazu geführt, dass diese 'immer mehr abstrahiert' würden - bis zu dem Punkt, an dem das Accessoire nur noch ein Markensymbol sei: 'Die mikroskopische Handtasche von MSCHF ist kleiner als ein Salzkorn und das letzte Wort in der Miniaturisierung von Taschen.' ... Eine mikroskopisch kleine Handtasche sei die logische Schlussfolgerung gewesen: 'Ein Gebrauchsgegenstand wird zu einem Schmuckstück eingedampft, dessen vermeintliche Funktion sich in Luft auflöst.'"

Archiv: Design

Film

Marius Nobach resümiert im Filmdienst das von Sparzwängen durchaus gebeutelte Filmfest München, wo sich traditionell auch immer der deutsche Filmnachwuchs präsentiert. Es geht in Richtung Genre und "polyglotte Ausrichtung", erfahren wir, etwa im "stilsicheren, wenn auch überzogenen Nacht-Neo-Noir 'Schock' von Denis Moschitto und Daniel Rakete Siegel oder den im Meer vor Malta spielenden Tauchthriller "The Dive" von Maximilian Erlenwein. Vor allem die deutschen Genre-Filme kündeten von einer Bereitschaft zu herausfordernden harten Sequenzen, womit sie beim 40. Filmfest München durchaus im internationalen Trend lagen. Auch in den anderen Sektionen präsentierten die Filme keine Erzählungen im Schongang, sondern drangen bevorzugt in die dunkleren Bereiche von Menschheit und Welt vor."

Weitere Artikel: Isabelle Huppert schwärmt im Tagesspiegel-Gespräch von der erneuten Zusammenarbeit mit dem Regisseur François Ozon bei der Krimigroteske "Mein fabelhaftes Verbrechen". Im Tagesspiegel empfiehlt Fabian Tietke die Werkschau Apichatpong Weerasethakul im Berliner Kino Arsenal. Besprochen wird Dieter Berners "Alma und Oskar" (Standard).
Archiv: Film

Architektur

FAZ-Kritiker Ulf Meyer betrachtet zwei neue "multifunktionale Hochhäuser" in Tokyo. Der Toranomon Hills Station Tower, entworfen vom Büro OMA, und den Kabukicho Tower der Architektin Yuko Nagayama: "Beiden neuen Riesenhochhäusern gemein ist eine aberwitzige Mischung und Stapelung von Funktionen. Der Toranomon-Turm beherbergt nicht nur 730 Wohnungen, 200 Hotelzimmer und Tausende von Büroarbeitsplätzen, sondern auch einen Dach-Pool, eine Brauerei, einen Busbahnhof, zwei U-Bahn-Stationen, ein Gründerzentrum, eine Theaterbühne sowie Galerien und Restaurants mit Blick auf den Kaiserpalast." Fasziniert ist Meyer von den Fassaden von Nagavamas Kabuchi-Tower, dem ersten von einer Frau realisierten Hochhaus in Japan, die das Leitmotiv Wasser haben: "Die Punktraster im Glas reflektieren das Tageslicht je nach Winkel und lassen den Turm wie eine gleißende Fontäne wirken. Nagayama hat ihren Turm Benzaiten gewidmet, der buddhistischen 'Göttin des Wassers'. Das Kettengeflecht im Hotelfoyer wirkt wie ein Wasserfall, und auch das Wandkunstwerk im Theaterfoyer im 7. Stock imitiert Eiszapfen aus Aluminium."
Archiv: Architektur

Literatur

Die Feuilletons sind erschüttert vom Tod der ukrainischen Schriftstellerin Victoria Amelina (mehr dazu bereits hier), die sich seit Kriegsbeginn in der Ukraine darauf spezialisiert hat, russische Kriegsverbrechen zu dokumentieren, und nun bei einem Raketenbeschuss ums Leben kam - alle Reaktionen finden Sie heute in unsere Debattenrundschau 9punkt. Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Der Schriftsteller Jan Kuhlbrodt erklärt im Freitag, warum auch er nach vielen Jahren Bachmann-Wettbewerb als Zuschauer von der Veranstaltung nicht los kommt. In den Actionszenen der Weltliteratur erinnert Marc Reichwein daran, wie der 71-jährige Goethe versuchte, mit der 17-jährigen Ulrike von Levetzow anzubandeln.

Besprochen werden unter anderem Joy Williams' "Stories" (Tsp), Annika Reichs "Männer sterben bei uns nicht" (FR), Philippe Dupuys Comic "J'aurais voulu voir Godard" (FAZ.net) und Michel Bergmanns "Mameleben oder das gestohlene Glück" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

"Ich halte doch nicht die Luft an". Foto: Cornelia Schleime. 

Zum siebzigsten Geburtstag der Künstlerin Cornelia Schleime zeigen die Städtische Galerie und das Albertinum in Dresden eine Auswahl ihrer Werke, freut sich Andreas Platthaus in der SZ: "Es war immer ein Grundzug ihres Schaffens, vertraute Bilder aufzubrechen, und so gibt es unter den gezeigten Gemälden etwa auch das fulminante "Selbstbildnis als Schaf", das dem Körper einer im Habitus selbstbewussten Frau einen überdimensionalen Schafskopf aufsetzt - als Irritation und Ironie gleichermaßen. Fast ausnahmslos Frauen zeigen die Bilder, nicht wenige die Künstlerin selbst, und der Gestus reicht dabei von der Ästhetik der Neuen Wilden bis zur Klassikerparaphrase im Selbstbildnis "Aus Trotz", das Schleimes Kopf im Stil des Goldenen Zeitalters hinter einer tatsächlich goldenen Kuppel zeigt - der markanten des Ausstellungsgebäudes der Dresdner Akademie an der Brühlschen Terrasse."

Ein Jahr lang hat Marina Abramović 24 Studenten aus unterschiedlichen Fachbereichen der Folkwang Universität im "Free Interdisciplinary Performance Lab" der Universität unterrichtet. Das Ergebnis kann man jetzt in 23 sechsstündigen Performances begutachten. FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster ist schon mal ziemlich beeindruckt. Was ihr "im Gang durch die Ausstellung klar wird, ist, dass die Künstlerin eine ausgezeichnete Lehrerin sein muss. Nirgends hat man das Gefühl, jemand sei zu nah am Vorbild. Schon die Inszenierungen sind ganz unterschiedlich angelegt. Einige ziehen sich hinter Glasscheiben zurück oder auf Flächen, deren Betreten dem Publikum explizit untersagt ist. Der Musiker Jakob Jentgens etwa nutzt einen gartenähnlichen Innenhof. Mit einem selbst geflochtenen Kranz aus Blüten und Blättern im Haar und einem langen, beigefarbenen Rock bekleidet, spielt er Saxophon. Über ein altes Bakelit-Telefon im Museum können die Betrachter die Performance mit dem Titel 'Entering' beeinflussen, sich Melodien, Stimmungen oder anderes wünschen."

Weiteres: In der NZZ porträtiert Tara Hill die ukrainische Künstlerin Alyona Volkova. Besprochen werden die Ausstellungen "Basquiat. The Modena Paintings" in der Fondation Beyerler in Basel (Tsp), "Schlösser. Preußen. Kolonial." im Schloss Charlottenburg (Tsp) und "Plastic World" in der Schirn Kunsthalle Frankfurt (Zeit, jetzt online nachgereicht).
Archiv: Kunst