Efeu - Die Kulturrundschau

Regeln, die über sich hinausweisen

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20.07.2023. Mit Christopher Nolans "Oppenheimer" wird heute das zweite große Film-Highlight der Saison besprochen - und wer nicht denkfaul ist, wird viel Spaß an einem Film haben, vor dem selbst David Lynch niederknien darf, versichert die FAZ. Die SZ hetzt indes hinterher und stöhnt: "Totalausfall". Im Tagesspiegel erklärt Werner Busche, weshalb Caspar David Friedrich auch heute noch fasziniert: Es liegt am "romantischen Kalkül". Das Stadtparlament Kiew will keine ukrainische Literatur mehr auf russisch, berichtet der Standard. Und in der NZZ will Martin Mosebach nicht an deutscher Hysterie teilnehmen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.07.2023 finden Sie hier

Film


Kann es derzeit einen aktuelleren Film geben als Christopher Nolans "Oppenheimer" über den "Vater der Atombombe", fragt Hanns Georg-Rodek in der Welt. Nein, aber Rodek denkt nicht an die atomare Bedrohung durch Russland, sondern an die Gefahren durch KI: "Möglicherweise erleben wir gerade einen zweiten 'Oppenheimer-Moment': Auch die Künstliche Intelligenz hat das Potenzial, die Menschheit, wie wir sie kennen, auszulöschen. Parallelen drängen sich auf: eine Gruppe von Kybernetikern, die eine Waffe ( jawohl, Waffe!) von ungeahntem Potenzial entwickelt, ein machtvoller Auftraggeber (die TechKonzern-Elite, aufmerksam beobachtet vom Militär), eine für Bürger völlig undurchschaubare Technologie, die ihre Wirkweise (sprich: Algorithmisierung) als Staatsgeheimnis betrachtet."

Aber wie ist denn nun der Film, der mit üppigem (männlichen) Ensemble auftritt und vier Zeitebenenen, darunter Oppenheimers Zeit in Cambridge, seine Rolle als Organisator des US-Atombombenprogramms im Zweiten Weltkrieg und das Verhör wegen Spionageverdacht im Jahr 1954, verschachtelt? "Es ist modernstes Geschichtenerzählen, und bald springt Nolan mühelos von einer Ebene in die andere, und es steht immer im Dienst der Geschichte, die Sprünge in Vergangenheit und Zukunft verbrämen das Verständnis nicht (wie oft bei Nolan), sondern erklären und kommentieren und tragen zu dem rasanten Tempo eines faszinierenden Films bei", so Rodek. Der Film setzt Energien frei, "wie man es von der Filmkunst fast nicht mehr erwartet hat", versichert ein begeisterter Andreas Schreiner in der NZZ: "Intelligente Filme von größerem Kaliber macht gegenwärtig keiner."

"Wer folgen kann, hat den Test bestanden; Denkfaulen ist der Zutritt verwehrt", warnt Dietmar Dath in der FAZ: Nolan nimmt "Politik als Politik ernst, nicht als Moralcode, und gesellt ihr mit höchster visueller Akkuratesse noch eine andere Schicksalsmacht hinzu: die physikalische Wirklichkeit. Leerraum, schwarze Löcher, Bogenblitze, Teilchendetektorspuren in der Nebelkammer - und dazu eine Klangregie, vor der selbst David Lynch niederknien darf: Geigerzählerknacksen, das Trampeln einer Hörerschaft, das zur marschierenden Armee wird und zum Donner einer Detonation." SZ-Kritiker Tobias Kniebe hat sich dagegen kolossal gelangweilt: Er "geht einfach nicht richtig los", stöhnt er: "Große Konfusion, teilweise fast unverständliche Dialoge, gänzlich unklare Ziele der Beteiligten, zugekleistert noch dazu mit permanent dräuender Musiksoße - schon rein handwerklich ist der erste Teil des Films ein Totalausfall. (…) Schlimmer noch als die Hetze und das Bürokratengeraune und die Bilder der Bürokratenräume, für die man nun wirklich keine Imax-Kameras braucht, ist aber die Grundfragestellung des Films, die sich daraus ergibt: War Oppenheimer vielleicht ein bisschen Kommunist? Ziemlich sicher sogar. Und ist ihm deshalb im Nachkriegsamerika großes Unrecht widerfahren? Nun ja, also …" Weitere Besprechungen in Berliner Zeitung, Tagesspiegel und Standard.

Von Oppenheimer zum Streik der Drehbuchautoren und Schauspieler in Hollywood: "Es geht um den Berufsstand Schauspieler", erklärt Nina Hoss, Mitglied der Schauspielergewerkschaft Screen Actors Guild, im Zeit-Gespräch: "Eigentlich ist es uninteressant, auszuführen, wie wir zu dem kommen, was ihr alle anschaut. Also erklären zu müssen, dass wir ja auch Arbeiter sind. Etwa wenn es um die Wiederholungshonorare geht. Ein Schauspieler muss in den USA mindestens 25.000 Dollar im Jahr verdienen, um über die Gewerkschaft krankenversichert zu sein. Das ist für viele nur durch diese Honorare erreichbar. Und wenn man mit den Streamern keine gerechte Lösung findet, weil sie sich nicht in die Karten schauen lassen wollen, dann ist das ein Problem."

Besprochen werden außerdem Greta Gerwigs "Barbie" ("Das wirklich große Kino bei 'Barbie' ist der absolut lockere, lustige, massentaugliche Ton", meint Aurelie von Blazekovich in der SZ, taz, FR, Zeit) und Edward Zwicks "The Last Samurai" (FAZ).
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Kunst

Caspar David Friedrich, Kreuz an der Ostsee, um 1815. Foto: Wikipedia


2024 ist Caspar David Friedrichs 250. Geburtstag. Der Kunsthistoriker und Friedrich-Biograf Werner Busch versucht im Interview mit dem Tagesspiegel zu erklären, warum der Maler heute noch interesserant ist: Das liege unter anderem an dessen "romantischem Kalkül", erklärt er. Friedrich hat sich sehr mit romantischer Mathematik auseinandergesetzt. In der Mathematik seiner Zeit steht Kalkül für eine Gruppe von Regeln, die über sich hinausweisen. Darum ging es Friedrich. Nicht im Sinne eines Zeichens, das eine bestimmte Bedeutung hat, sondern als ästhetisches Programm des Bildes. Am wichtigsten für ihn waren Novalis' mathematische Fragmente", sagt Busch mit Blick auf Friedrichs Gemälde "Kreuz an der Ostsee". "Die Mittelachse betont Friedrich auf vielen Bildern. Die klassische Kunst hat das grundsätzlich abgelehnt, denn es fixiert uns ja vor dem in der Mitte präsentierten Gegenstand. Wenn dann dort auch noch eine Rückenfigur zu sehen ist, sind wir aufgefordert, in ihr so etwas wie unseren Stellvertreter zu sehen und uns auf das, was er sieht, einzulassen."

Weiteres: Timo Feldhaus berichtet in monopol über das Festival Sommer.Frische.Kunst in Bad Gastein. Besprochen werden außerdem die Ausstellungen "Shift. KI und eine zukünftige Gemeinschaft" im Marta Herford (taz), "Eine Stadt wird bunt. Hamburg Graffiti History 1980-1999" im Museum für Hamburgische Geschichte (FAZ) und eine Ausstellung der Benin-Skulpturen des Weltkulturenmuseums in Frankfurt ebendort (FR).
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Literatur

"Ich weigere mich, an den Hysterien der deutschen Öffentlichkeit teilzunehmen", sagt Martin Mosebach, nachdem er erst lange über seine Arbeit als Schriftsteller gesprochen hat, im epischen NZZ-Interview mit Benedict Neff und Thomas Ribi. Die Aufklärung hält er für einen Betriebsunfall der Geschichte, den amtierenden Papst kritisiert er wegen seiner Reformbemühungen, er selbst versteht sich nicht als "konservativ", sondern als "reaktionär": "Konservativ kann man eigentlich nur vor einer Revolution sein; nach ihrem Erfolg ist das, was man bewahren wollte, verschwunden. Dann kann man sich nur noch an das halten, was immer gilt, ob die Zeitgenossen das anerkennen oder nicht. Wahrheit ist nicht davon abhängig, dass man ihr zustimmt. Ich bin davon überzeugt, dass es keine menschliche Autonomie gibt und dass deshalb die Forderung nach menschlicher Autonomie ein Wahn ist."

Im Standard berichtet Herwig G. Höller von dem "Moratorium", das das Stadtparlament in Kiew "für die öffentliche Verwendung von russischsprachiger Kulturproduktion" beschlossen hat und das auch Präsentationen, Aufführungen und Inszenierungen russischsprachiger Werke von Ukrainern betrifft: "De facto in Kiew verboten wären somit das russischsprachige Œuvre von Nationaldichter Taras Schewtschenko, die Romane von Nikolaj Gogol und Andrej Kurkow, die Filme von Kira Muratowa sowie praktisch alles, was Präsident Wolodymyr Selenskyj vor seiner politischen Karriere für das Fernsehen gedreht hat. 'Ich denke, dass das eine Provokation ist, um von den großen Fehlern und Problemen der politischen Führung in der Hauptstadt und von Bürgermeister Klitschko abzulenken', kommentierte der Kiewer Kunstkritiker und Kurator Kostjantyn Doroschenko, der selbst wie viele Intellektuelle in der Ukraine seit 2022 öffentlich kaum noch Russisch verwendet. Er verstehe auch nicht, welche legale Bedeutung diese Erklärung habe, sagte er."

Besprochen werden unter anderem John Matthews' "Die Legende von König Arthur" (FAZ), Ulrike Sterblichs Roman "Drifter" (FAZ), Lukas Bärfuss' Roman "Die Krume Brot" (ZEIT), Leon Joskowitz' "Vom Kochen und Töten" (FR) und Volker Weidermanns "Mann vom Meer" (NZZ).
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Bühne

Erst kommt der Raum, dann der Text, erklärt Ersan Mondtag im Interview mit monopol seine Arbeit am Theater. Er sei "ein Bühnenbildner, der seine Räume inszeniert, kein Regisseur, der auch noch das Bühnenbild macht ... Meine Räume entstehen aus fantastischen Vorstellungen heraus. Ich baue keine Räume, die real sind. Ich entwickle architektonische Räume, gerade interessiert mich der Brutalismus sehr. Für 'Salome' von Oscar Wilde, einer Strauß-Oper, habe ich einen Raum gebaut, der sich dreht. Ich arbeite mit bestehenden Elementen, kreiere aber einen fantastischen Raum. Innen sieht es aus wie ein belarussischer Palast, dazu kommen aber christliche gefärbte Skulpturen in Überdimensionierung, umrahmt von einem brutalistischen Palast. Aus all diesen verschiedenen Formen entsteht etwas anderes, behauptet, eine Sandburg zu sein. In Wahrheit ist alles aus Holz gebaut. Ein Imitationsraum."

Besprochen werden Brigitte Fassbaenders Inszenierung der "Götterdämmerung" bei den Festspielen in Erl (nmz) sowie Brett Deans "Hamlet" und Händels "Semele" bei den Münchner Opernfestspielen (NZZ).
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Musik

Liederabende sind nicht tot, insistiert im VAN-Interview der Bariton Benjamin Appl: "Diese Diskussion gibt es schon seit fünfzig Jahren! (...) Das Interesse ist da. Ich glaube, es hakt bei den Veranstaltern. Liedgesang ist keine Kunst, die man einmal aufs Programm setzt und dann schaut, wer kommt. Das große Problem unserer Zeit ist auch, dass wir alles in Zahlen oder Geld messen. Und das sind zwei Parameter, die in der Kunst nichts zu suchen haben. Ich verstehe: Es muss sich rentieren, wir sitzen alle im gleichen Boot. Aber Kunst kann nicht auf diesen Parametern beruhen, sonst ist sie tot. Doch es gibt andere Orte und Länder, die vielversprechend sind. In Hongkong ist der Saal mit zwölfhundert Leuten voll, in Japan ist der Andrang groß. Ich fahre jetzt nach Mexiko, da gibt es ganze Stadien, wo wir angeblich singen - ich weiß nicht, ob das an mir oder an dem mexikanischen Pianisten liegt. Es gibt aber Möglichkeiten, das Lied an Menschen heranzubringen, auch wenn man über Zahlen spricht: Der Liederabend wird grundsätzlich nicht für die große Masse sein, und das sollten wir alle akzeptieren."

Besprochen werden die Ausstellung "Der harte Norden - Heavy Metal aus den nordischen Ländern" im Fellehus der Nordischen Botschafen (taz) und Sultan Stevensons Jazzdebüt "Faithful One" (SZ). Wir hören rein:

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