Efeu - Die Kulturrundschau

Was der KI jetzt vorgehalten wird

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21.08.2023. Ersetzt KI Drehbücher von echten Menschen? Die FAZ hat beim Blick ins deutsche Vorabendprogramm jetzt schon Probleme, hier überhaupt noch Unterschiede zu erkennen. Mit seinem Roman "Unser Deutschlandmärchen" will Dinçer Güçyeter auch den Frauen der Gastarbeiterjahre ein Denkmal setzen, erzählt er im Standard. Taz und Tagesspiegel schlagen angesichts des Skandals um die "Oh Boy"-Anthologie die Hände über dem Kopf zusammen. Die FAZ sieht El Lissitzky im Spiegel seiner Nachfahren. Und die SZ wird von Anne Teresa de Keersmaekers Performance "Exit Above" bei Tanz im August hinweggefegt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.08.2023 finden Sie hier

Bühne

"Exit Above" bei Tanz im August. Foto: Anne van Aerschot.

SZ-Kritiker Dorion Weickmann wird von Anne Teresa de Keersmaekers Performance "Exit Above - After the Tempest" bei Tanz im August geradezu hinweggefegt. Das junge Tanzkollektiv verteilt "eine schallende Ohrfeige" an die Elterngeneration, die die Zerstörung des Planeten nicht aufgehalten hat und tanzt "erhobenen Hauptes in den Untergang", staunt Weickmann: "Ein weißes Tuch, groß wie ein Segel, flattert im Sturm. Gerade noch hat Meskerem Mees mit Cherubs Stimme den Engel der Geschichte beschworen, schon wirft der Tänzer Solal Mariotte seinen Körper unter dem riesenhaften Textil in den Kampf. Einsam fegt er über den Boden, der Gitarrist Carlos Garbin stimmt den ersten Blues des Abends an und taktet Mariottes Kopf- und Schulterspins, die dessen künstlerische Herkunft aus dem Breakdance verraten. Immer lauter, immer heftiger tobt der Orkan, das Segel legt sich in tausend Falten, bis völlige Stille eintritt. Die auch noch anhält, als sich ein elfköpfiger Pulk aus dem Schatten schält."

Weitere Artikel: Nachtkritiker Christian Rakow ist für Caroline Barneauds und Stefan Kaegis Performance-Wanderung "Shared Landscapes", die in sieben Inszenierungen das Naturbewusstsein stärken will, stundenlang durch den Brandenburger Wald gestapft. Auch BlZ-Kritiker Doris Meierhenrich war dort. Welt-Kritiker Jakob Hayne teilt seine Eindrücke von der Ruhrtriennale.

Besprochen werden François de Carpentries' Inszenierung von Vivaldis Oper "La fida ninfa" bei den Innsbrucker Festwochen (tsp) und Jorinde Dröses Adaption von Mareike Fallwickls Roman "Die Wut, die bleibt" bei den Salzburger Festspielen (taz, SZ).
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Film

Beim Doppelstreik in Hollywood geht es auch darum, wie Hollywood künftig mit den Potenzialen von KI umgeht. Autoren und Schauspieler drängen hier naturgemäß auf Einhegung, Regulierung und Abwehr. Charakterdarsteller hätten wohl nichts zu befürchten, glaubt Claudius Seidl in der FAZ, Komparsen dürften sich auf harte Zeiten einstellen und die Autoren pochen gerade darauf, dass nur echte Lebenserfahrung lebendige Drehbücher hervorbringen könne. "Auf der Plattform nofilmschool.com gibt es längst Beispiele für KI-generierte Dialoge zu lesen, deren geist- und witzloses Geklapper den Autoren recht zu geben scheint. Bis man sich daran erinnert, dass das deutsche Fernsehen praktisch jeden Abend um viertel nach acht so spricht. Und wenn sich dieser Verdacht im eigenen Denken erst einmal ausgebreitet hat, kann man kaum noch einen Film sehen, ohne sich die Frage zu stellen, wie viel von der behaupteten Menschlichkeit beim Schreiben und Inszenieren wohl unabdingbar war. ... Wer Drehbücher schreibt, setzt meistens bekannte Elemente neu zusammen, konstruiert seinen Plot nach bewährten Bauplänen, lässt seine Leute so sprechen, wie solche Leute immer sprechen im Fernsehen und im Kino. Er tut also das, was der KI jetzt vorgehalten wird."

Es ist eine gute Entscheidung, dass der georgische Filmfestivalmacher Gaga Chkheidze Ende des Monats in Weimar mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet wird, findet Kerstin Holm in der FAZ. In Georgien werden Kulturschaffende von der Regierung arg gegängelt. Auch Chkheidze wurden die Mittel gestrichen, dazu musste er den Posten als Direktor des Nationalen Filmzentrums räumen - und zwar "nachdem dieser voriges Frühjahr Russlands Krieg verurteilt und sich mit der Ukraine solidarisiert hatte. Kulturministerin Tea Tsulukiani habe zum Krieg geschwiegen, obwohl Russland von Anfang an auch Kultureinrichtungen zerstörte, tadelt Chkheidze. Georgiens Ministerpräsident hat zwar den Krieg verurteilt, Sanktionen wurden aber nicht gegen Russland verhängt. Die Zivilgesellschaft und insbesondere Künstler solidarisieren sich mit der Ukraine, zumal Russland auch rund zwanzig Prozent ihres Landes besetzt hält. Doch die Regierungspartei 'Georgischer Traum', deren Begründer Iwanischwili in Russland reich wurde, will es sich mit dem übermächtigen Nachbarn nicht verscherzen."

Außerdem: Morticia Zschiesche beschäftigt sich in einem Filmdienst-Essay mit dem Director's Cut von Wolfgang Petersens "Das Boot". Besprochen werden die zweite Staffel von "The Bear" (FAZ) und die ZDF-Comedyserie "Ready.Daddy.Go!" (FAZ).
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Literatur

Im Standard unterhält sich Sabine Scholl mit dem Schriftsteller Dinçer Güçyeter über dessen preisgekrönten Erfolgsroman "Unser Deutschlandmärchen", für das der Autor tief aus den Erfahrungen seiner Familie im Gastarbeitermilieu geschöpft hat: "Manchmal sind die größten Geschichten in den kleinsten Fugen versteckt. Ich bin in einer Kleinstadt groß geworden, ich lebe da bis heute, an der holländischen Grenze. Man kann diesen kleinen Ort auch als Manhattan sehen, als Metropole, denn direkt an der Grenze war das größte Rotlichtmilieu in Nordrhein-Westfalen, weil die Männer die Bordelle nicht in der eigenen Stadt besuchen, sondern die an den Grenzen. Es kamen die ganzen Lkw-Fahrer, die Sinti und die Roma mit ihren Wohnwagen, die Zirkusmenschen, die kurdischen Flüchtlinge. Die Vielfalt und die Diversität in den 1980ern waren alltäglich, wir haben einfach zusammengelebt. Alles wurde geteilt, so habe ich das in meinem Elternhaus erlebt und auch in der Kneipe meines Vaters. Deshalb schätze ich mich sehr glücklich. Die Stimmen der Frauen waren mir wichtig und das Pragmatische, wie sie mit ihrem Leben umgehen. Ich wollte sie nicht als arme Frauen darstellen, die man bemitleiden muss. Es waren starke Frauen, sie haben für ihre Familie, für ihre Männer, für ihre Kinder, für die europäische Wirtschaft sehr viel geleistet."

Der Skandal um die Anthologie "Oh Boy" beschäftigt die Feuilletons weiter: Der Co-Herausgeber Valentin Moritz hat darin in einem literarischen Essay über sein eigenes, sexuell übergriffiges Verhalten geschrieben - gegen den expliziten Wunsch der betroffenen Frau, die daraufhin die Öffentlichkeit gesucht hat (unser Resümee). "Letztlich reproduzieren die Herausgeber des Buchs genau die Männlichkeit, mit der sie sich doch eigentlich kritisch auseinandersetzen wollen", merkt Shoko Bethke in der taz an. Claudia Reinhard begrüßt im Tagesspiegel, dass der Kanon Verlag die Auslieferung des Buchs gestoppt hat und den betreffenden Text in kommenden Auflagen nicht mehr bringen wird. "Der Prozess, der dieser Entscheidung vorausging, zeigt allerdings deutlich, dass trotz der #Metoo-Bewegung, zumindest in Deutschland, Opfer nach wie vor oft erst dann gehört werden, wenn öffentlicher Druck Täter und Profiteure in die Ecke drängt."

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Hans Platzgumer erinnert im Standard an das Kantō-Erdbeben, das vor hundert Jahren Tokio schwer traf, und von dem er auch in seinem neuen Roman "Großes Spiel" erzählt. Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Sebastian Borger spricht für die FR mit dem Schriftsteller Jonathan Coe über die Lage Großbritanniens nach dem Brexit und dessen neuen Roman "Bournville". Nicolas Freund berichtet in der SZ vom Streit um die Zukunft des Buddenbrookhaus in Lübeck, bei dem es zwischen Denkmalschutz und wechselndem Bürgerwille nicht vorangehen will. In den Actionszenen der Weltliteratur (Welt) erinnert Matthias Heine daran, wie Gottfried Benn 1914 gerade noch rechtzeitig das Schiff wechselte und auf diese Weise einem Schiffsunglück entkam. FAZ-Kritiker Edo Reents greift in der August-Hitzewelle zu Walter Kempowskis "Hundstage".

Besprochen werden unter anderem Deborah Levys "Augustblau" (online nachgereicht von der FAS), Maxim Billers "Mama Odessa" (taz), Ronja von Rönnes Essay "Trotz" (FR), Richard Fords "Valentinstag" (online nachgereicht von der FAS), Ilko-Sascha Kowalczuks Biografie über Walter Ulbricht (Welt), Dana Vowinckels "Gewässer im Ziplock" (SZ) und neue Hörbücher, darunter "Und sie bewegt sich doch!" mit Bahngeschichten diverser Autoren (FAZ).
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Musik

Corina Kolbe berichtet im Tagesspiegel von den Highlights des Lucerne Festivals. Ljubisa Tosic resümiert im Standard das Jazzfest Saalfelden. Jürgen Kesting war für die FAZ bei den Birgit-Nilsson-Days in Südschweden. Niklas Maak schreibt in der FAS einen Nachruf auf Tommi Stumpff, der mit KFC eine der ersten deutschen Punkbands gegründet hatte.

Besprochen werden ein von Daniel Barenboim dirigiertes Konzert des West-Eastern Divan Orchestras mit Igor Levit (Tsp), der Berliner Auftritt von Jimetta Rose mit ihrem Gospelchor The Voices of Creation (taz), Dexys' neues Album "The Feminine Divine" (FR), ein Auftritt von AnnenMayKanterei in Berlin (BLZ), der Auftritt des Tbilisi Youth Orchestras beim Berliner Festival Young Euro Classic (Tsp), Tobias Bleeks Buch "Im Taumel der Zwanziger" über das Musikjahr 1923 (online nachgereicht von der FAZ), die Hörbuchausgabe von Hartmut Rosas "When Monsters Roar and Angels Sing" über Heavy Metal (FAZ) und Benjamin Appls CD "Forbidden Fruit" (Welt).
Archiv: Musik

Kunst

Der neue Mensch, der Ansager, der Konstrukteur. El Lissitzky: Das Selbstbildnis als Kestner Gesellschaft, Installationsansicht, Foto: Volker Crone, 2023 

"Tiefe Spuren" hinterließ der russische Avantgardist El Lissitzky bei seinem ersten Besuch in der Kestnergesellschaft in Hannover im Jahr 1923, weiß FAZ-Kritiker Georg Imdahl. Dort, wo er seine allererste Einzelausstellung hatte, kann man in einer Gruppenschau nun eine Auswahl von Arbeiten des Konstruktivisten betrachten, so Imdahl: Lissitzky war "ein Multitalent, das Kunst und Ästhetik als sozialutopischen Transmissionsriemen auffasste und die schneidige Form als Ausdruck von Fortschritt und Zukunft begriff". Ergänzt werden seine Arbeiten durch eine Auswahl von Werken seiner künstlerischen Nachfolger: "Einen alten Drahtzaun, einen roten Anorak und rohe Holzplatten kombiniert Martin Boyce, Jahrgang 1967, zu einem Mobile. Der schottische Bildhauer triggert damit Insignien der Moderne: das Raster, die Abstraktion, das Objet trouvé - prosaisch, aber völlig illusionslos. Gute Wahl auch dies: Marysia Lewandowska lässt Lissitzkys spätere Frau, Sophie Küppers, in einer fiktiven Rede als ebenso fiktive Leiterin der Kestnergesellschaft anno 1923 zu Wort kommen. Geschickt lässt die 1955 geborene Polin sie nicht nur informativ über die damalige Kunstszene sprechen, sondern auch über ihre Rolle als Frau und Mutter."

Weitere Artikel: In der FAZ berichtet Thomas Thiel über eine Frankfurter Tagung, die sich mit der Frage auseinandersetzte, ob Kunst noch autonom ist. Die türkische Kunstszene ist in Aufruhr, berichtet Susanne Güsten im tagesspiegel: Die Istanbuler Stiftung für Kultur und Kunst (IKSV) benannte überraschend die britische Kunsthistorikerin Iwona Blazwick als Kuratorin für die 18. Biennale Istanbul, und nicht die vom Expertenbeirat einhellig empfohlene türkische Kuratorin Defne Ayas.

Besprochen wird die Augmented-Reality-Ausstellung "Apis Gropius" der serbischen Performance- und Installationskünstlerin Ana Prvački im Gropius Bau Berlin (taz).
Archiv: Kunst