Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Orkan aus Frischluft

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11.09.2023. Die Filmkritiker feiern Yorgos Lanthimos' weibliche Frankensteiniade "Poor Things", die bei den Filmfestspielen von Venedig den Goldenen Löwen erhalten hat: Der Film pustet die Synapsen frei, schwärmt die FAZ, der Filmdienst sieht darin die Welt wie zum ersten Mal. Die FAZ amüsiert sich mit der Adaption von Benjamin von Stuckrad-Barres Roman "Noch wach?" am Thalia-Theater über einen Medienchef als Dracula - taz und SZ vermissen die Frauenstimmen in diesem MeToo-Stück. Die NZZ staunt über die Souveränität von Valdimir Jurowski, der Klimaklebern bei seinem Konzert das Wort erteilt hat.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.09.2023 finden Sie hier

Film

Begeisterte die Kritik: Emma Stone in "Poor Things"

Mit einem Goldenen Löwen für Yorgos Lanthimos' "Poor Things" (unser Resümee) sind die Filmfestspiele Venedig zu Ende gegangen. Die Kritiker können damit bestens leben: "Das ganze Ding ist ein Orkan aus Frischluft", frohlockt Dietmar Dath in der FAZ. Bei "dieser weiblichen Frankensteiniade" konnte sich "niemand dem rauschhaften Gefühl entziehen, die Wunder des Kinos gleichsam in einer Überdosis serviert zu bekommen", schreibt Daniel Kothenschulte in der FR. Standard-Kritikerin Valerie Dirk bezeugt "ein kreatives Füllhorn an Frankenstein- und Emanzipationsmotiven, angesiedelt in einem futuristischen Europa um 1900, getragen von der wunderbaren Schauspielerin Emma Stone". Letzter widmet Marian Wilhlem ein Porträt im Standard. Lanthimos versucht sich in seinem Film an der "Quadratur des Kreises", schreibt Andrey Arnold in der Presse: " Eine Aussöhnung 'harter', tendenziell älterer Kunstfilmer-Attitüden mit eher 'weicheren', jüngeren, sprich: die Verquickung eines schonungslosen Blicks auf die Schlechtigkeit der Welt mit einer optimistischen, emanzipatorischen Grundhaltung. Dass 'Poor Things' obendrein Humor beweist, prädestinierte ihn zum Konsensfilm von Venedig - und Oscar-Anwärter." Mit diesem Film kann man "einmal die Welt sehen, als sähe man sie zum ersten Mal", schwärmt auch Felicitas Kleiner im Filmdienst: Hier "finden die schiere Lust am Spektakel und am Spekulativen, an der sinnlichen Wirkmächtigkeit des Mediums Film und ein origineller Blick auf die 'conditio humana' auf schönste Weise zusammen."

Das Kino zeigt sich in diesem Jahrgang tief mit der Gegenwart verstrickt, diagnostiziert Andreas Busche im Tagesspiegel. Und die Jury bezog Stellung: Die beiden Flüchtlingsdramen "Green Border" von Agnieszka Holland und "Io Capitano" von Matteo Garrone (unser Resümee) erhielten Auszeichnungen. "Niemand möchte gerade die Halbwertzeit der skandalumwitterten Meloni-Regierung prognostizieren, doch die Sorgen in Italien sind groß. Nicht mal unter Berlusconi hat die Politik so massiv in das Kulturleben eingegriffen. Auch die Biennale, die Dachorganisation des Filmfestivals, dürfte von den kulturpolitischen Personalrochaden nicht verschont bleiben. Darum sollte man den Regiepreis für Matteo Garrone ... auch als Signal verstehen. Der Film begleitet einen jungen Senegalesen, gespielt von Seydou Sarr, auf seiner Odyssee durch die Sahara und über das Mittelmeer. Garrone spart dabei keine Brutalität aus, er will das Mitgefühl des Publikums mit drastischen Mitteln."

Die Jury unter dem Vorsitz von Damien Chazelle erfasste mit ihren Entscheidungen das Kino in seinem ganzen Spektrum, schreibt Katja Nicodemus: Es "kann mit seinen Bildern durch die Decke fliegen und dennoch auf dem Boden unserer Welt bleiben. Es kann abheben, zur surrealen Versuchsanordnung werden und gleichzeitig Stellung beziehen, sich sogar mit aller Wucht in die Wirklichkeit hineinschrauben." Die Entscheidungen stehen "für eine gewagte Bilderpolitik, für abgefahrene Filme, die dennoch sehr genau wissen, was sie tun - und wollen". Auch SZ-Kritikern Susan Vahabzadeh reist satt und zufrieden vom Lido ab: "Wenn eine solche Reihung großartiger Filme in einem einzigen Sommer möglich ist, kann es dem Kino nicht ganz schlecht gehen." Tim Caspar Boehme von der taz kann mit den Preisen gut leben, ist aber insgsamt nur milde begeistert: "Im Großen und Ganzen bleibt der Eindruck eines Jahrgangs, der unter den vertretenen Regisseuren reichlich Prominenz auffuhr, ohne dass diese Höchstleistungen erkennen ließen." Welt-Kritiker Jan Küveler hingegen tritt seinen Heimflug eher schlecht gelaunt an: Insgesamt war zu viel Untergangsstimmung für ihn, aber mit den Preisen ist er einverstanden.
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Kunst

In der FAZ gratuliert Freddy Langer der Fotografin Nan Goldin zum Geburtstag. Die "brutale Distanzlosigkeit", mit der sie fotografisch das New York der späten siebziger und frühen achtziger Jahre festhielt, machten sie zu einer Pionierin der Autorenfotografie, wie Langer weiß: "Ihre Bilder ergaben sich aus Beziehungen, nicht aus Beobachtungen. Sie waren die optischen Tagebuchnotizen einer Dauerorgie, an der sie aktiv teilnahm wie alle anderen auch. Sie sprach von Schnappschüssen, weil diese Form der Fotografie aus Liebe und dem Wunsch nach Erinnerung entstünde."
Archiv: Kunst
Stichwörter: Goldin, Nan

Musik

Als Klimaaktivisten sich beim Lucerne-Festival in Luzern im Konzert des Bayerischen Staatsorchesters ans Dirigentenpult klebten, reagierte Vladimir Jurowski souverän und diplomatisch, berichtet Christian Wildhagen in der NZZ: Er gab dem teils vehement vorgetragenen Unmut des Publikums nicht nach, sondern forderte nach kurzem Austausch mit den Aktivisten sein Publikum vielmehr dazu auf, ihnen zuzuhören: "Als auch diese Mitteilung mit vereinzelten Buhrufen quittiert wurde, wiederholte er mehrmals die Bitte: 'Lasst sie reden.' Weil auch das nicht zu einer Beruhigung der Situation führte, legte er schließlich mit der Ansage nach: 'Wenn Sie die beiden nicht ausreden lassen, gehe ich von der Bühne.' Anschließend setzte er sich im Schneidersitz auf sein Podest, um den beiden demonstrativ zuzuhören. Die Aktivistin trug nun ihre Befürchtungen angesichts des 'Klimanotstands' vor. ... Danach bedankten sich die beiden Aktivisten beim Dirigenten und verließen unter vereinzeltem Applaus die Bühne und den Saal. Das Konzert wurde mit dem Finalsatz der Bruckner-Sinfonie ohne weitere Störung fortgesetzt und endete mit einer kurzen, aber heftigen Ovation für Jurowski und seine Musiker."

Hin und weg ist FAZ-Kritiker Max Nyfeller davon, wie das WDR-Sinfonieorchester unter Sylvain Cambreling Werke des Spektralisten Gérard Grisey "mustergültig" eingespielt hat. "L'icône paradoxale" etwa, das von Piero della Francescas "Madonna del parto" inspiriert ist: Das rege Interesse des Rezensenten weckt, wie Grisey "die augenfällige Dynamik des Bildes in formale und zeitliche Abläufe umsetzte. Die beiden Singstimmen artikulieren vorwiegend Phoneme, die aus dem Namen Piero della Francesca abgeleitet sind und die lange gehaltenen Gesangstöne klangfarblich beleben. ... Mit der linguistisch-nüchternen Textbasis kontrastieren Faktur und klingende Erscheinung. Kontraktion und Expansion der zeitlichen Verläufe sowie die Überlagerung verschiedener Zeitebenen setzen die musikalische Form unter Hochspannung. Die Klangprozesse scheinen sich gleichsam in die Zeit zu ergießen."

Weitere Artikel: Karl Fluch blickt im Standard auf den Erfolg des Rappers Travis Scott. Ueli Bernays erinnert in der NZZ an Johnny Cash, der vor 20 Jahren gestorben ist. Besprochen werden ein von Rafael Payare dirigiertes Konzert der Berliner Staatskapelle (BLZ, Tsp), ein von Lahav Shani dirigiertes Konzert des Israel Philharmonic Orchestras in München (SZ, einen Mitschnitt gibt es bei Dlf Kultur), James Blakes neues Album "Playing Robots into Heaven" (Standard) und das postume Album "Fly or Die Fly or Die Fly or Die (World War)" von Jaimie Branch (Standard, mehr dazu bereits hier).

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Literatur

In was für Zeiten leben wir eigentlich, fragt sich Lukas Gedziorowski in einem großen Longread für sein Batman-Projekt mit Blick auf die unter Comicnerds gängigen Klassifizierungen der historischen Comicphasen von Golden Age über Silver und Bronze Age bis zum Modern Age, das seit den mittleren Achtzigern bis heute anhalten soll. "Doch was kommt danach? Ist bereits ein neues Zeitalter angebrochen? Wenn ja, wann und wie?" Vielleicht ist es ja auch das Consumerist Age? Zwar ist die Comicindustrie mittlerweile so divers ausdifferenziert wie nie zuvor und auch die Erzähluniversen lassen sich kaum mehr souverän im Blick behalten. Hinzu kommt eine Nostalgie-Sparte, die mit aufwändigen Gesamtausgaben den zu Geld gekommenen Fans des mittleren Lebenszeitalters an den Geldbeutel rückt: "Das klingt zwar alles nach paradiesischen Zuständen, und wer einmal in einem gut sortierten, prall gefüllten Comicladen war oder selbst Regalmeter voller Comics zu Hause hat, weiß, wie sich das Glück anfühlt, es hat aber auch eine Kehrseite: Ein riesiger Aufwand an Ressourcen wird aufgewendet, um immer mehr Produkte herzustellen, die wir alle konsumieren sollen, um das Goldene Kalb der Wirtschaft am Laufen zu halten. Man kann auch sagen: Es ist reine Verschwendung."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow schreibt hier und dort in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. In der NZZ erinnert Armin Fuhrer an den Schriftsteller Emil Ludwig, der vor 75 Jahren gestorben ist.

Besprochen werden unter anderem Marion Poschmanns "Chor der Erinnyen" (FR), Ferdinand von Schirachs "Regen" (Tsp), Jeremy Adlers "Goethe. Die Erfindung der Moderne" (Standard), Amir Gudarzis "Das Ende ist nah" (Standard), Jacob Ross' Krimi "Shadowman" (FR), Ursula Poznanskis Jugendroman "Oracle" (online nachgereicht von der FAZ) und eine Neuausgabe von R. C. Sherriffs "Zwei Wochen am Meer" (NZZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Kristina Maidt-Zinke über Robert Gernhardts "Sonett im Krebs":

"Alles zurück! Kommt! Laßt uns Krebse werden!
Der Krebsgang ist nun mal der Gang der Stunde ..."
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Architektur

Die Tank-und Rastanlage "Leubinger Fürstenhügel". Foto: IBA Thüringen.

Autobahn-Raststätten sind hierzulande ja eher keine architektonischen Meisterwerke, seufzt FAZ-Kritiker Matthias Alexander. Umso mehr freut er sich, dass es bei der "Tank- und Rastanlage Leubinger Fürstenhügel" mal anders ist. Die unweit der Autobahn gelegene "Grabstätte eines namentlich nicht bekannten frühbronzezeitlichen Herrschers - immerhin die bedeutendste ihrer Art in Mitteleuropa" wurde in den Entwurf miteinbezogen - und das Ergebnis kann sich sehen lassen:  "Mono Architekten aus Berlin, die sich in einem Wettbewerb durchsetzen mussten, haben einen eleganten lang gestreckten, abgewinkelten Bau errichtet, unter dessen zunächst flachem, nach Nordosten hin gleichmäßig ansteigendem Satteldach mit heller Stehfalzdeckung alle Funktionen vereint sind. Es reicht über die Zapfsäulen und den Hauptbau mit Shop, Funktionsräumen und Restaurant und gipfelt in einer mächtigen, von oben bis unten verglasten Giebelseite samt weit auskragendem Vordach. Aus dem Gastraum, der mit hellem Holz verkleidet und mit Boden aus venezianischen Steinplatten ausgestattet ist, geht der Blick auf den Fürstenhügel."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Mono Architekten

Bühne

Szene aus "Noch wach?" am Thalia Theater. Foto: Krafft Angerer.


Von einem Hotelpool in Hollywood geht es in Christopher Rüpings Adaption von Benjamin von Stuckrad-Barres Schlüsselroman "Noch wach?" in ein Schloss nach Transsilvanien, verrät FAZ-Kritikerin Julia Encke. Dass der Regisseur in seiner Inszenierung am Thalia-Theater den Chef eines Medienkonzerns, der in einen MeToo-Skandal verwickelt wird, als Dracula, und seine Mitarbeiter ebenfalls als Blutsauger darstellt, findet die Kritikerin passend. Besonders gefällt ihr eine Szene, die die Männerfreundschaft des Medienmoguls mit dem Erzähler als entrückten Tanz inszeniert: "Der Schauspieler Hans Löw, großartig in der Rolle des Senderchefs, zieht seinen Dracula-Umhang aus, entschlüpft dem Konzernchefhabitus und beginnt, zögerlich erst, zu tanzen. Macht sich locker. Geht aus sich heraus, exaltiert. Hier, zusammen mit dem Erzähler, der in den Rückblende-Szenen noch sein Freund ist, kann er das. Und dieser Freund, den Nils Kahnwald als Stuckrad-Alter-Ego spielt, der viel kleiner ist als Löw, sehr dünn und zappelig, wirft sich ihm tanzend in die Arme wie ein Kind. Hier sind beide Kinder, selbstvergessen, libidinös verbunden. Es ist ein Akt der Weltflucht, Regression und Ekstase, in der das Schloss im Hintergrund kein Medienhaus mehr darstellt, sondern eher eine Mischung aus Großgrundbesitzervilla und Technoclub. Bis irgendwann Schluss ist." Taz-Kritikerin Katrin Ullman sieht es ein wenig anders: Dafür, dass hier der sehr reale Skandal um den ehemaligen Bild-Chefredakteur Julian Reichelt verhandelt wird, dem Mitarbeiterinnen sexuelle Belästigung vorwarfen, kommen die Frauen in diesem Stück erstaunlich wenig zu Wort, meint sie. Ähnlich sieht es Christiane Lutz in der SZ, nur "am Ende kurz bevor im Finale die Frauen den Sender stürmen (Spoiler: ganz anders als im Roman), Pflanzen, Bürobedarf, Kuscheltiere und ein Feldbett aus den Fenstern schmeißen, entsteht etwas, das dem ganzen Roman fehlt: Wut. Und Bitterkeit."

Szene aus "Doktormutter Faust". Foto: Birgit Hupfeld

Einen "aberwitzigen Remix der Faust-Bausteine" bekommt Nachtkritikerin Dorothea Marcus mit Selen Karas "kon-genialer" Inszenierung "Doktormutter Faust" am Schauspiel Essen zu sehen. Im Stück, geschrieben von Fatma Aydemir, ist Margarete Faust Professorin für Gender-Studies und geht eine verhängnisvolle Affäre mit einem ihrer Studenten ein. Da werden die goetheschen Machtverhältnisse schön über den Haufen geworfen und gleichzeitig, so lässig wie komplex, "Identitäts- und Machtdiskurse der Gegenwart" thematisiert, lobt Marcus: "Und ist nicht letztlich doch manches erlaubt im Namen der Liebe? Eine sinnliche Walpurgisnacht lang, mit wollüstigem Trance-Techno grundiert, scheint alles gut zu sein. Mit seligem Lächeln und nackter Brust schaukelt die Professorin in der Ursuppe, abwechselnd mit Karim, es haucht und atmet, nackt, seufzend und singend treiben die Schauspieler durch den Kunsteisnebel der Lüste. Schön ist das gemacht und könnte besser jene Grauzonen nicht ausdrücken, die hier verhandelt werden."

Besprochen werden außerdem Juan Mayorgas Stück "Der Junge aus der letzten Reihe" inszeniert von Christiane Jatahy am Schauspielhaus Zürich (nachtkritik), ebenfalls dort: Nicolas Stemanns Inszenierung von Brechts "Das Leben des Galilei" (nachtkritik, NZZ), Daniela Löfflers Inszenierung von Frank Wedekinds Stück "Lulu" am Staatsschauspiel Dresden (nachtkritik), Julian Chavaz Inszenierung von Paul Abrahams  Operette "Blume von Hawaii" an der Oper Magdeburg (nmz), Carsten Kirchmeiers Inszenierung von Jonathan Larsons musikalischem Theaterstück "tick, tick...Boom!" am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen (nmz), Julien Gosselins Inszenierung von "Extinction" an der Berliner Volksbühne (taz), David Böschs Inszenierung von Henrik Ibsens "Die Stützen der Gesellschaft" am Theater in der Josefstadt in Wien (Standard), Claudia Bauers Adaption von Ingeborg Bachmanns Roman "Malina" am Volkstheater in Wien (Standard) und Max Emanuel Cencics Inszenierung von Georg Friedrich Händels Oper "Flavio, Re de' Longobardi" Bayreuth Baroque Festival (FAZ).
Archiv: Bühne