Efeu - Die Kulturrundschau

Statthalter des Geheimnisvollen

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12.09.2023. Kann man einen früheren, zum Kriegsdienst gezwungenen, ugandischen Kindersoldaten wirklich in Den Haag verurteilen, fragt sich der Filmdienst nach der Doku "Theatre of Violence." Die Literaturkritiker hörten gerne zu, wie Salman Rushdie in Berlin via Schalte über seinen Roman "Victory City" sprach. Die taz trauert in Rom mit dem Schmelz von Bruno Martino um den Sommer. Die FAZ taucht mit Claude Débussys "Palléas et Mélisande" in Budapest ab in einen schummerigen Zauberwald des Unbewussten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.09.2023 finden Sie hier

Film

Wer ist Opfer, wer Täter? Und wer ist als Opfer Täter? (Cine Global/ Made in Copenhagen, Corso Film)

Lukasz Konopas und Emil Langballes Dokumentarfilm "Theatre of Violence" befasst sich mit dem Fall des ehemaligen Kindersoldaten Dominic Ongwen aus Uganda, der 2021 in Den Haag zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde. Diesem Fall "liegt ein Widerstreit zugrunde, dessen Unwägbarkeiten sich 'Theatre of Violence' mit kluger Zurückhaltung nähert", schreibt Silvia Bahl im Filmdienst. "Wie urteilt man über Täterschaft, die selbst aus einer Situation schwerer Menschenrechtsverletzung entstanden ist? Führt die Tatsache, dass Ongwen mit neun Jahren von der LRA entführt und unter Androhung des eigenen Todes zum Töten gezwungen wurde, dazu, ihn auch als Opfer zu sehen, das mildernde Umstände geltend machen kann? ... Ohne Off-Kommentar, erläuternde Einblendungen oder 'Talking Heads' gelingt allein durch eine kluge Montage und Dramaturgie eine genaue Durcharbeitung der ugandischen Konfliktlinien."

Weitere Artikel: Eine Findungskommission bestehend aus Edward Berger, Florian Graf, Anne Leppin, Sara Fazilat, Roman Paul und Claudia Roth selbst will "schon bis zur kommenden Berlinale" einen neuen Intendanten für das kulturpolitisch zuletzt arg gebeutelte Festival präsentieren, berichtet David Steinitz in der SZ und knüpft daran die Hoffnung, in Berlin künftig von weniger Filmkunst behelligt zu werden, aber dafür mehr Filmstars zu sehen.

Besprochen werden Paul B. Preciados "Orlando, meine politische Biographie" (FAS), Stephan Lambys ARD-Doku "Ernstfall - Regieren am Limit" über die Ampel ("auf interessante Weise nicht gut", findet Dirk Peitz auf ZeitOnline), Nimrod Antals Actionthriller "Retribution" mit Liam Neeson (Filmdienst) und die neue "Star Wars"-Serie "Ahsoka" (NZZ).
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Literatur

Beim Internationalen Literaturfestival Berlin sprach Salman Rushdie - wenn auch nur via Schalte - über seinen aktuellen Roman "Victory City": "Es machte Spaß ihm zuzuhören", schreibt Gerrit Bartels im Tagesspiegel und Petra Ahne notiert in der FAZ Rushdies Schlusswort: "Schriftsteller hätten keine Panzer und Armeen, aber Geschichten, und die blieben." Zur Auszeichnung mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels im Oktober will er in Frankfurt persönlich anwesend sein. Wir haben aus diesem Anlass unseren Rushdie-Büchertisch in unserem Online-Buchladen erweitert.

Außerdem: Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Die Schriftstellerin Marica Bodrožić denkt derzeit "über das Wissen der Tiere nach", erzählt sie im ZeitOnline-Gespräch, diese hätten sie "als Statthalter des Geheimnisvollen" stets fasziniert. Lars von Törne empfiehlt im Tagesspiegel die neue Ausgabe der in Berliner Comicläden gratis ausliegenden Anthologie Moga Mobo, deren Fokus auf Comics aus der Ukraine liegt. In der FAZ gratuliert Paul Ingendaay dem Schriftsteller Michael Ondaatje zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Thomas Hettches "Sinkende Sterne" (Tsp), Wolf Haas' "Eigentum" (Tsp), Tim Staffels "Südstern" (FR), Nora Haddadas Debütroman "Nichts in den Pflanzen" (FAZ) und Elif Batumans "Entweder oder" (SZ).
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Design

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Für das ZeitMagazin porträtiert Gabriel Proedl die britische Modedesignerin Grace Wales Bonner, die sich für ihre Arbeit von Galionsfiguren schwarzer Geschichte inspirieren lässt - von James Baldwin etwa, aber auch von Josephine Baker. "Bei Baldwin interessiert sie, wie er in der Öffentlichkeit jenen Stil etabliert, der vorher Weißen vorbehalten war: sein dandyhaftes Auftreten, seine Stilisierung von Intellektualität - mit Paisley-Halstuch und Mustang-Sonnenbrille, Schlaghosen, Krawatte und Manschetten. Bei Baker ist es die Freiheit, die sie für sich beanspruchte, und der Stolz, mit dem sie ihre Herkunft zeigte, wenn sie auftrat. Eines von Bakers berühmtesten Kostümen etwa, ein Kleid aus Straußenfedern, übersetzt Wales Bonner in eine schwarze Stoffhose, deren Beine nach unten hin ausfransen; durch die Bewegung beim Gehen entstehen so quastenähnliche Büschel. 'In Filmaufnahmen von ihr macht es den Anschein, als würde sie schreien: Seht her, seht mich an, ich gehöre dazu - und ich gehe auch nicht mehr so schnell weg', sagt Wales Bonner über Baker."
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Kunst

Der Hans-Thoma-Preis wurde dieses Jahr an den niederländischen Grafiker Marcel van Eeden vergeben - das war vorauszusehen, meint FAZ-Kritikerin Julia Schmidt, imaginierte dieser doch schon im "The Karlsruhe Sketchbook" zeichnerisch eine Begegnung mit dem Maler. Die Verleihung des Preises findet sie jedoch nicht unproblematisch. Immerhin stand Thoma antisemitischen reaktionären Kreisen nahe, erklärt sie. Bei einer Ausstellung im Hans-Thoma-Museum in Bernau sucht van Eeden nun einen anderen Zugang zu Thoma, so Schmidt: Er wartet "nicht mehr mit dem Stil seiner nachgerade kanonisch gewordenen Graphic Novels auf, sondern mit Kontaktabzügen digitalisierter, auf großformatigen Transparentfolien zwischenkopierter fotografischer Negative auf eigenhändig mit einer lichtempfindlichen Schicht versehenem Papier. ... Auch ist es nicht mehr eine Bilderzählung, die van Eeden präsentiert, sondern eine Folge fotografischer Reisebilder. Ihr Sujet wiederum ist einer wenig bekannten Reise abgewonnen, die Hans Thoma im Frühherbst 1898 in die Niederlande unternahm." Im Grunde, so Schmidt, entfalten van Eedens Gummidrucke hier "eine Parallelgeschichte. Und suchen womöglich durch den nostalgischen Zugriff historische Distanz zu gewähren."

Weitere Artikel: Die Berlinische Galerie erhält das Werk "Hours of Fun" von Wolf Vostell als Schenkung der Berliner Volksbank, berichtet Ingeborg Ruthe in der FR. Die Fassade des Parlaments in Bern wurde vom Basler Studio Renée Levi neu gestaltet, schreibt Phillip Meier in der NZZ. Tom Mustroph resümiert für die taz das Medienkunstfestival Ars Electronica in Linz. In der Berliner Zeitung porträtiert Ingeborg Ruthe den Künstler Norbert Bisky.
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Bühne

FAZ-Kritiker Wolfgang Sandner taucht bei Claude Débussys Oper "Pélleas et Mélisande" am Müpa in Budapest in die "tief verborgenen Schichten des menschlichen Wesens, vielleicht auch seines Unwesens" ein. Denn das Seelische teilt sich hier laut Sandner durch die Musik mit. Der Dirigent Iván Fischer übernahm nicht nur die musikalische Leitung, sondern auch die Inszenierung und findet eine überraschende Lösung für die Umsetzung, staunt er: "Es gibt keine Trennung zwischen einem (hier ohnehin nicht vorhandenen) Orchestergraben und der Bühne. Die Musiker sind Teil der Szene, fügen sich komplett ins Einheitsbühnenbild von Andrea Tocchio, einen spärlich erleuchteten Zauberwald... All die lauernden, einstweilen an die Kette gelegten, sich zu bösem Gift der Eifersucht entwickelnden und dann wieder die Kapriolen von schüchterner Annäherung, Liebe, emotionalem Verstehen ausleuchtenden Orchesterklänge tönen aus dem wild wuchernden Unterholz, als sei der Wald tatsächlich zu so etwas wie der natürlichen Erscheinung des menschlichen Seelenlebens mutiert."

In einigen Tagen soll Anna Netrebko an der Berliner Staatsoper auftreten. Dagegen zirkulieren Petitionen, und es wird wohl Demos vor der Oper geben. Die Osteuropaexpertin Franziska Davies hat bemerkt, dass die Staatsoper die Bio Netrebkos nach Kritik geändert hat und postet es auf Twitter.


Weitere Artikel: Im Tagesspiegel teilt Ute Büsing Eindrücke vom "Draama Festival" und dem "Estonian Contemporary Performing Arts Showcase" in Estland. 

Besprochen werden Lilja Rupprechts Adaption von Rainer Werner Fassbinders "Die bitteren Tränen der Petra von Kant" am Akademietheater in Wien und David Böschs Inszenierung von Henryk Ibsens "Die Stützen der Gesellschaft" am Theater in der Josefstadt (FAZ), Iván Fischers Inszenierung von Claude Debussys Oper "Pelléas et Mélisande" am Müpa in Budapest (FAZ), Boris Charmatz Choreografie "Liberté cathédrale" am Tanztheater Wuppertal (FAZ), Johannes Maria Stauds Inszenierung von "missing in cantu" und Amir Reza Koohestanis Inszenierung von "Dantons Tod reloaded" beides im Rahmen des Kunstfest Weimar (SZ), Christopher Rüpings Adaption von Benjamin von Stuckrad-Barres Roman "Noch wach?" am Thalia Theater in Hamburg (Welt) und Marie Gottschalks Inszenierung von Uta Bierbaums Jugendstück "Hasen-Blues. Stopp" am Staatstheater Darmstadt (FR) und Adrian Figueroas Inszenierung von Wolfgang Herrndorfs "Arbeit und Struktur" am Düsseldorfer Schauspielhaus (SZ).
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Musik

Tazlerin Annabelle Hirsch lässt den Sommer in den Straßen von Rom mit Bruno Martinos Evergreen "Estate" aus den Sechzigern ausklingen, denn "kein Lied beschreibt das Gefühl des sich zu Ende neigenden Sommers besser: Es geht um Schönheit und Vergänglichkeit, um Dankbarkeit und Wut. Um die Sonne, die duftenden Blumen, die Wärme, die salzigen Küsse, die etlichen Sonnenuntergängen, die wir tausend Mal gesehen haben und doch immer wieder bestaunen." Und um "jene Liebe, die der Sommer mit seiner Fähigkeit, alle Bedenken auszuräumen und alle Illusionen zu befeuern, erfindet, nur um sie dann später, nach dem Höhepunkt des Ferragosto, wieder zu töten." Es ist eine "eine Ode an unsere Fähigkeit, uns in die Liebe wie in den Sommer zu stürzen: Mit vollem Körper- und Geisteseinsatz, so als wüssten wir nicht, dass das Ende möglich und sogar wahrscheinlich ist, mit der Lust, sich zumindest für kurze Zeit der wundervollen Illusion hinzugeben, dass es von nun an immer warm und sonnig sein wird."



Außerdem: Beate Scheder und Julian Weber resümieren in der taz die ersten Tage des "Berlin Atonal"-Festivals. Keno-David Schüler ist im Tagesspiegel gespannt auf Kate Ledgers Klavierkonzert kommenden Mittwoch in Berlin. Christian Wildhagen bilanziert in der NZZ das Lucerne Festival.

Besprochen werden ein Strawinsky-Konzert mit Andris Nelsons und dem Boston Symphony Orchestra beim Musikfest Berlin (online nachgereicht von der FAZ) und Olivia Rodrigos "Guts" ("jedes 'motherfucking' sitzt", konstatiert Susanne Romanowski auf ZeitOnline).

Archiv: Musik