Efeu - Die Kulturrundschau

Erkenntnisgewinn durch Verzweiflung

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22.09.2023. Die SZ erlebt Formen der Agnosie in einer Duisburger Ausstellung der Bildhauerin Alicja Kwade. Die neue musikzeitung hat in Straßburg einen Riesenspaß mit Simon Steen-Andersens Oper "Don Giovanni aux enfers", die erzählt, wie es nach Don Giovannis Höllenfahrt weiterging. FAZ und SZ erliegen in der Zeche Zollverein dem Verzweiflungscharme von Nina Hoss in Barbara Freys Inszenierung von Dostojewskis "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch". Artechok fliegt nach Taipeh und lernt in einer Ausstellung über den Autorenfilmer Edward Yang, was Filmkunst ist.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.09.2023 finden Sie hier

Bühne

Szene aus "Don Giovanni aux enfers" in Straßburg. Foto © Klara Beck


Wie geht es nach seiner Höllenfahrt eigentlich weiter für Don Giovanni? Das fragte sich der dänische Komponist Simon Steen-Andersen. Das Ergebnis, die Oper "Don Giovanni aux enfers", kann man an der Opéra national du Rhin in Straßburg betrachten. Für nmz-Kritiker Joachim Lange ein Riesenspaß: Steen-Andersen "geht gleich zu einem adaptierten Readymade-Verfahren über und zitiert und collagiert, was das Zeug hält ... Da finden sich Passagen von Monteverdi, Gluck, Rameau, Berlioz, Boito aber auch aus Verdis, Wagner, Gounod, Puccini und für Polystophélès aus Rubinsteins 'Dämon'. Und dann bricht natürlich auch Offenbachs Unterwelt Cancan aus. Es ist allemal ein Augenzwinkern dabei, wenn Don Giovanni diversen 'Kollegen' begegnet, ob sie nun Faust, Macbeth oder Jago heißen. Eine musikalisch interpretatorische Meisterleistung ist die Umkehrung von Don Giovannis Avancen, in denen er diesmal zum Objekt der übergriffigen Begierde der Frauen wird und schließlich zur Strafe splitterfasernackt vor den Zuschauern auf dem Prospekt im Hintergrund singen muss."

Nina Hoss als Dostojewski in Barbara Freys "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" in der Zeche Zollverein / Ruhrtriennale. Foto: Matthias Horn


Wow, Barbara Freys Abschiedsfeier von der Ruhrtriennale mit Dostojewskis "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" in der Zeche Zollverein ist rundum gelungen, freut sich in der SZ Alexander Menden. Schon der Ort passte: "Eine ölige Flüssigkeit tropft durch einen der viereckigen Betontrichter auf den senkrecht punktuell beleuchteten Boden. Ein Raum im Stockwerk darüber ist mit Mulch ausgelegt, der einen dumpfen Geruch verbreitet. Im nächsten Raum steht eine Räucherkerze, der darauffolgende ist mit Trockeneisnebel gefüllt und sanft von orangefarbenem Licht durchströmt. Was esoterisch und preziös sein könnte, schafft im Kontext der überdimensionierten Beton- und Backstein-Raumfluchten eine eigene, allenfalls etwas jenseitige Atmosphäre."
 
Auch Simon Strauß (FAZ) ist fasziniert, vor allem vom Spiel der Nina Hoss: "Vom ersten Satz an unterläuft Hoss den existenzialistischen Parlando-Ton der 1864 erstmals erschienenen Vorlage mit einer fast aufgekratzten Heiterkeit. ... Nur wenn sie schweigt und über einen klappernden Laufsteg ins Publikum hineinläuft, meint man, einen Hauch von Angst in ihren Augen zu sehen. Ansonsten aber argumentiert sie mit diebischer Freude gegen die allgemeinen Glücksvorstellungen. Wider die Herrschaft der Vernunft stellt sie den Erkenntnisgewinn durch Verzweiflung, macht selbst im Zahnschmerz einen Triumph des Wollens aus - 'denn man stöhnt ja dabei'. Der freie Wille gilt diesem Wesen mehr als alles andere, den evolutionären Vorteil des Menschen sieht es in seinem unbändigen Begehren."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel schreibt Christiane Peitz zum Tod des Wagnertenors Stephen Gould, in der FAZ schreibt Jan Brachmann.

Besprochen werden John Adams' Oppenheimer-Oper "Doctor Atomic" am Theater Bremen (taz), Elisabeth Gehrs' "Fasia - Das letzte Jahr", ein Stück über das Leben der afrodeutschen Aktivistin Fasia Jansen, an der Volksbühne Berlin (nachtkritik) und Christiane Rösingers "Die große Klassenrevue" im Berliner HAU1  (Tsp, taz),
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Literatur

Besprochen werden unter anderem Sherko Fatahs "Der große Wunsch" (Tsp), Maja Haderlaps "Nachtfrauen" (Tsp), Roy Jacobsens "Die Unwürdigen" (FR), Adam Soboczynskis Essay "Traumland" (FR), Linus Reichlins "Der Hund, der nur Englisch sprach" (NZZ) und neue Sachbücher, darunter Paulita Pappels Streitschrift "Pornopositiv" (FAZ).
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Film

Auf zum Flughafen und in den nächsten Flieger nach Taipei gestiegen, ruft uns Axel Timo Purr auf Artechock entgegen. Der Wochenendausflug lohnt sich alleine schon wegen der großen Ausstellung, die dort dem taiwanesischen Autorenfilmer Edward Yang gewidmet ist. Dieser feierte um 2000 auf internationalen Festivals noch große Erfolge, ist seit seinem Tod im Jahr 2007 aber etwas in Vergessenheit geraten. Die Ausstellung balanciert zwar "chronologisch über das Leben Yangs spielerisch hinweg", fokussiert aber vor allem auf Yangs filmische Sujets, erzählt Purr, der hier erlebt, "was Filmkunst ist und wie Film entsteht. Dazu haben die Kuratoren nicht nur eine beeindruckende Sammlung an Storyboards, Filmkameras, aber auch ganz profanen Alltagsgegenständen aus Yangs Umfeld zusammengetragen, sondern beeindrucken vor allem mit klug gewählten Filmausschnitten, die über in dunklen Räumen schwebenden Projektionsflächen miteinander korrespondieren und dabei nicht nur die Entwicklung von Yangs visuellem Stil - sein bedächtiges Tempo, die langen Einstellungen, eine statische Kamera, wenige Nahaufnahmen, leere Räume und Stadtlandschaften - deutlich wird, sondern auch seine narrative Entfaltung, die sich mit jedem Film mehr der Veränderungen der taiwanesischen Gesellschaft auf die Mittelschicht annimmt und den Konflikt zwischen Moderne und Tradition, Wirtschaft und Kunst und wie Gier Kunst korrumpieren kann, so poetisch wie gnadenlos analytisch seziert." Dieser Videoessay befasst sich ausführlich mit "Yi Yi", für den Yang 2001 in Cannes den Regiepreis erhielt.



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Außerdem: In seiner Artechock-Wochenkolumne freut sich Rüdiger Suchsland auf das Filmfestival in San Sebastian und legt uns den Gesprächsband "Der unsichtbare Dritte" ans Herz, in dem Josef Schnelle mit deutschen Filmschaffenden über deren Blick auf Hitchock spricht (die Gespräche bilden auch die Grundlage für diese fast dreistündige Sendung zum Thema im Dlf Kultur).

Besprochen werden Paul B. Preciados Essayfilm "Orlando, meine politische Biografie" (Perlentaucher, Zeit), Michael Chaves' Horrorfilm "The Nun 2", der Perlentaucher Lukas Foerster einmal mehr beweist, dass "das Horrorgenre nach wie vor der Ort ist, an dem sich die vielleicht größte Qualität des amerikanischen Kinos, seine lebendige Normalität, am besten bewahrt", Pablo Larraíns eben noch in Venedig, aber nun schon auf Netflix gezeigte Pinochet-Groteske "El Conde" (Standard), die Wiederaufführung von Hou Hsiao-Hsiens "Millennium Mambo" aus dem Jahr 2001 (Filmdienst), Héloïse Pelloquets "Wild wie das Meer" ("Ein feministisches Manifest für starke, unangepasste Frauen", freut sich Tatiana Moll auf Artechock), Éric Besnards Komödie "Die einfachen Dinge" (Welt), Rainer Kaufmanns "Weißt Du noch" mit Senta Berger (Artechock), der Dokumentarfilm "Vergiss Meyn Nicht" über den im Hambacher Forst ums Leben gekommenen Filmemacher und Aktivisten Steffen Meyn (Tsp), die zweite Staffel der "Sex and the City"-Fortsetzung "And Just Like That..." (Freitag), die vierte Staffel von "Sex Education" (Welt) und die Sky-Serie "Family Law" (FAZ).
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Kunst

Irgendwie unspektakulär auf Entzauberung gerichtet ist die Kunst Alicja Kwades, die das Lehmbruck Museum in Duisburg gerade in der Ausstellung "In Agnosie" zeigt, notiert Max Florian Kühlem in der SZ. Angeregt wird er dennoch: "Agnosie bezeichnet als Krankheitsbild die Störung von Sinneswahrnehmungen oder ihrer Interpretation. Alicja Kwade ist allerdings nicht auf die perfekte Sinnestäuschung aus. Wenn die Besucher in der zum ersten Mal in Deutschland gezeigten Arbeit 'Superheavy Skies' schwere Steine an Mobiles schweben sehen oder in 'Between Glances' um ein Kabinett aus Spiegeln, Fenstern, leeren Rahmen kreisen und bald nicht mehr wissen, welche der darin stehenden Glühbirnen nun echt oder nur ein Spiegelbild, dann ist das Handwerk hinter der Illusion immer noch zu erkennen - und stiftet trotz aller Verwirrung, die die Künstlerin gerne auslöst, auch ein aufklärerisches Moment, ein Moment der Entzauberung eben."

Cornelis de Heem: "Frühstücksstillleben", 1660-1669. Kunsthistorisches Museum Wien



NZZ-Kritiker Philipp Meier erlebt eine Tour d'Horizon zum Zeitphänomen in einer Ausstellung des Kunsthauses Zürich zur "Zeit - von Dürer bis Bonvicini", von der Renaissance bis zur Gegenwart. "Dabei vergisst man gerne ausgerechnet die Zeit selber: etwa vor einem Bild mit Austern, das vor dreihundertsechzig Jahren gemalt wurde. Die Meeresfrüchte dienten damals dem niederländischen Stilllebenmaler Cornelis de Heem als Vorlage, bevor sie bald schon zu faulen und zu stinken begannen, um sich dann in nichts aufzulösen. Vergänglichkeit und Dauer treten hier in ein dialektisches Verhältnis."

Weitere Artikel: In der FAZ schreibt Freddy Langer zum Tod des Fotografen Erwin Olaf.

Besprochen werden eine Ausstellung des malerischen Werks von Louise Bourgeois im Wiener Belvedere (Standard), eine Ausstellung Jakob Mattners in St. Matthäus am Kulturforum Berlin (BlZ), eine Ausstellung des Malers Michael Hegewald in der kommunalen Hohenschönhausener Galerie 100 in Berlin (FR) und die Gruppenausstellung "Image Ecology" im C/O Berlin (Tsp).
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Architektur

Michael Mönninger (FAZ) verliert sich während der Architektur-Biennale in Venedig in einem begehbaren Großmodell der neuen saudischen Zukunftsstadt Neom, das im ehemaligen Kloster San Gregorio aufgebaut ist. Minderwertigkeitskomplexe haben die Saudis nicht, stellt er fest: "Hier das im neunten Jahrhundert gebaute Kloster am noch viel älteren Canal, dort das kaum fünf Jahre alte Neom-Projekt, das auf der diesjährigen Architekturbiennale frech verkündet: 'Die traditionellen Städte der westlichen Zivilisation haben keine Zukunft mehr - Neom ist die Stadt der Freidenker für die wirtschaftlichen und ökologischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.'"
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Musik

Kylie Minogue ist die Kaiserin des turnusmäßigen Comebacks, auch wenn der Turnus verlässlich einige Jahre umfasst, schreibt Jakob Biazza in der SZ mit der ganzen Herablassung, die männliche Musikkritiker so gern gegenüber weiblichen Popstars pflegen. Aus den langen Phasen, in denen sie deutlich unter dem Radar fliegt, meldet sich Minogue aber eben doch immer wieder mit einem Coup zurück. Aktuell ist es der Song "Padam Padam", mit dem der 55-jährigen Popsängerin nun ausgerechnet auf der Teenie-Plattform TikTok die Herzen und also der Chartserfolg zuflogen. Ansonsten enthält das dazu gehörige Album "Tension" für Biazza "eher unterschiedlich egale Versionen von Begattungslyrik zu tanzbarem Geglitzer." Zu erleben ist "teure Mimikry von echter Musik. Bäckchenwärme, wo Lenden gemeint sind."



2017 sang der russische Rapper Face noch gegen den Westen (was wohl aber eher parodistisch gemeint war), doch seit er den Angriff auf die Ukraine kritisierte und von Russland als "ausländischer Agent" eingestuft wurde, ist er aus der Öffentlichkeit geflohen, berichtet Johann Voigt in der taz. Bis jetzt, denn nun, auf seinem neuen Album, "rappt Face, dass er zurück nach Russland kommen und Molotowcocktails auf den Kreml werfen will. ... Er gibt sich wütend auf den Staat, auf die Scheinheiligkeit der Mitläufer, auf die Kriegsunterstützer und die Schweigenden. 'Das Problem ist, dass der Staat nicht nur nervt, sondern auch beißt', rappt er an einer Stelle und umschreibt damit die Angst, die viele russische Künstler*innen davon abhält, sich kritisch zu äußern. Face beißt mit seiner Musik immerhin zurück."

Außerdem: Johann Voigt berichtet in der taz von einem Verfahren wegen Verdachtsberichterstattung gegen den Rapper Cr7z. Besprochen werden ein Auftritt von Elvis Costello und Steve Nieve in Hamburg (taz), das überraschend veröffentlichte Album "Laugh Track" von The National (SZ-Kritiker Jakob Biazza erlebt dabei "eine Art Re-Intensivierung der Emotionen") und Gaikas Album "Drift" (tazler Christian Werthschulte findet sich wieder auf einem "Trip, bei dem die Grenzen von Soundsystemkultur, Punk und Londoner HipHop-Underground nicht mehr existieren").

Archiv: Musik