Efeu - Die Kulturrundschau

Das Wort bannt die Wirklichkeit

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10.10.2023. Nach den Anschlägen auf Israel herrscht in der hiesigen Kunst- und Clubszene "ohrenbetäubendes Schweigen". Kein Wunder, wenn man BDS-Sympathisanten und Antisemiten in die Institutionen lässt, notieren taz und Welt. Die FAZ nimmt Salman Rushdies angekündigten Besuch auf der Frankfurter Buchmesse zum Anlass einer literarischen Würdigung. Im c/o Berlin entdeckt sie Schönheit, die wehtut in den Fotografien von Mary Ellen Mark. Essen ist zu beneiden, ruft die SZ nach dem Saisonauftakt am dortigen Schauspielhaus.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.10.2023 finden Sie hier

Kunst

Auf der einen Seite Posts oder Likes solcher Posts von in Deutschland tätigen Künstlern und Kuratoren (darunter Emily Jacir, Jumana Manna, Edwin Nasr und die Ruangrupa-Mitglieder Reza Afisina und Iswanto Hartono - alle bestens vernetzt in der deutschen Kunstszene), die die Anschläge auf Israel feiern, auf der anderen Seite "ohrenbetäubendes Schweigen" in den deutschen Galerien und Kunstinstitutionen: In der Welt ist Boris Pofalla fassungslos: "Die Kunstwelt, das zeigte sich schon in der trotzigapologetischen Reaktion auf die Documenta fifteen, hat sich in den letzten zehn Jahren noch jedem antiisraelischen Klischee bereitwillig geöffnet, sie hat Antisemiten in ihre Institutionen gelassen und Propaganda für bedeutsam ausgegeben. Sie hat der Menschenverachtung Freiräume gewährt und für all das hat sie Fördergelder und Respekt eingefordert. Nicht zuletzt europäische Ausstellungshäuser haben so massiv zur Legitimierung von Israelhass beigetragen. Die israelische Kunstkritikerin Hili Perlson spricht in diesem Zusammenhang von einer 'langsamen Dehumanisierung' ihrer Landsleute."

Bild: Kissing in a bar, New York, 1977 © Mary Ellen Mark, Courtesy of The Mary Ellen Mark Foundation and Howard Greenberg Gallery 

Auch wenn es die Mission der amerikanischen Fotografin Mary Ellen Mark war, zu zeigen, "was wehtut, weil es zur Schattenseite der sichtbaren Welt gehört", verspürt Andreas Kilb (FAZ) in der großen Retrospektive im C/O Berlin durchaus auch Glück. Denn Marks Bilder bestechen auch durch ihre Schönheit, schreibt er. Etwa "das Bild eines Mädchens in einem Kinderkrankenhaus, aufgenommen im gleichen Jahr. Das Mädchen steht vor dem Fenster seines Krankenzimmers. Es hat keine Haare mehr. Von seinem Körper abwärts führen drei durchsichtige Schläuche zu drei verschiedenen Geräten auf einem fahrbaren Instrumententisch am rechten Bildrand. Es trägt weiße Socken und ein schimmerndes weißes, mit Spitze besetztes, in der Taille plissiertes, an den Schultern gebauschtes Konfirmandenkleid. Während es in die Kamera schaut, rafft es den Saum des Kleides, als wollte es zu tanzen beginnen. Links daneben, im Fenster, sieht man Palmen und ferne Hügel. Den hohen Himmel. Die Außenwelt."

"Toi Moko" - so nennt man die mit Tätowierungen verzierten Köpfe der Maori, für die europäische und amerikanische Sammler einst viel Geld zahlten. Für die taz hat Urs Wälterlein mit Te Herekiekie, Chef der Gruppe für die Repatriierung von Kulturgütern am neuseeländischen Nationalmuseum Te Papa in Wellington, über das Ritual und die Versuche der Rückführung der Artefakte gesprochen: "Nach dem Ende einer Schlacht gehörte es vielerorts zur Tradition, den Besiegten den Kopf abzuschneiden." Die Häupter wurden "geräuchert und in der Sonne getrocknet und als Kriegstrophäen zur Schau gestellt - 'als Zeichen des Spottes'. Aber auch die Köpfe wichtiger Familienangehöriger seien auf diese Art konserviert worden. Der mit Haut überzogene Schädel wies noch die Tätowierung auf, die eine Identifizierung als Individuum ermöglichte. Damit konnte ein Verstorbener Mitglied seiner Gemeinschaft bleiben. (...) Die Köpfe hatten aber auch eine andere Funktion: Sie waren Handelsobjekte. Nicht nur im Austausch zwischen verschiedenen Māori-Stämmen. 'Genauso wie Kulturgüter wie Schnitzereien aus Jade oder Holz oder fein geflochtene Gewänder und Netze waren sie eine heiß begehrte Sammlerware für Europäer und Nordamerikaner'".

Besprochen wird eine Ausstellung mit Werken der rumänischen Künstlerin Larisa Sitar im Berliner Kunstverein OST (FR).
Archiv: Kunst

Literatur

Martin Kämpchen nimmt in der FAZ Salman Rushdies angekündigten Besuch auf der Frankfurter Buchmesse zum Anlass einer literarischen Würdigung. Zwar verließ Rushdie Indien bereits in jungen Jahren, wo er als Schriftsteller auch lange Zeit schlecht behandelt wurde - dennoch nimmt in seinen Romanen die "indische Idee" in Zeiten zunehmender Globalisierung einen zentralen Stellenwert ein: Dabei "erweist sich die Übersetzbarkeit von Rushdies Prosa als komplex, weil deren Sprache von barock überquellender Fülle ist. Bei der Lektüre wähnt man sich vor einem südindischen Tempelturm stehend, an dessen Wänden es von bunten Figuren - Göttern, Halbgöttern, mythischen Helden und Dämonen - wimmelt. Sprachliche Vexierspiele und abgründige, spöttische, verballhornende Lautspiele, die andeutende oder symbolische Bedeutungen haben, sowie ständige Anspielungen auf indische Situationen machen die Übersetzung zu einer Sisyphusarbeit, bei der ein Teil der intellektuellen Brillanz verloren gehen kann. ... Ist es erstaunlich, dass Salman Rushdie die modernen europäischen Zweifel an der Fähigkeit der Literatur, die Wirklichkeit abzubilden, nicht berühren? Seine direkte Darstellung, die stets 'einfach' das ausspricht, was sie meint, ist mit der Methode der indischen Mythen verwandt, die auf den Zauber des Erzählflusses vertrauen. Das Wort bannt die Wirklichkeit, ja, Wörter bauen sie auf und geben ihr Zusammenhang und Sinn."

Die FAZ dokumentiert das von zahlreichen Akteuren getragene Ljubljana-Manifest, das für die Förderung kritischer und resilienter Lesekompetenz plädiert: "Wie man dem Verfall dieser Lesekompetenzen entgegensteuert, ist eine der dringendsten Herausforderungen, denen unsere Gesellschaft gegenübersteht. Um uns als informierte Bürger aktiv an einer demokratischen Gesellschaft zu beteiligen, benötigen wir fortgeschrittene Lesekompetenzen und intensive Lesepraktiken, die weit über das reine Entziffern von Texten hinausgehen." Dem kann Fridtjof Küchemann im beistehenden Artikel nur beipflichten.

Weiteres: Matthias Heine erinnert in den "Actionszenen der Weltliteratur" an Scharmützel um den norddeutschen Wilhelm Raabe im süddeutschen Stuttgart. Besprochen werden unter anderem Daniel Kehlmanns "Lichtspiel" (Standard), Angelika Klüssendorfs "Risse" (Zeit), Francesca Cartier Brickells "Die Cartiers. Eine Familie und ihr Imperium" (taz), Adam Schwarz' "Glitsch" (Jungle World), János Székelys "Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann" (NZZ), Thomas Hettches "Sinkende Sterne" (SZ) und Marion Poschmanns "Chor der Erinnyen" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Paul Ingendaay schreibt in der FAZ zum Tod des britischen Filmemacher Terence Davies, dessen Werk vor allem aus dem Leid seiner tristen Kindheit und Jugend in Liverpool schöpft: "Bei dem ängstlichen, scharf beobachtenden Kind, das zugleich die Gabe besaß, sich von Schönheit verzaubern zu lassen, führte die Kombination aus Erniedrigung und poetischem Empfinden zum unverwechselbaren Stil seines Werks. Es gibt wie bei kaum einem anderen Regisseur ruhige, lange Dialoge, die tatsächlich den Eindruck vermitteln, Davies' Figuren versänken in ihren Gedanken. Es gibt, besonders im späteren Werk, extrem langsame Kamerafahrten durch abgedunkelte Innenräume, geduldiges Verharren auf den Gesichtern, als wären es Landschaften, und immer wieder minutenlange Stille - bis Musik erklingt und die Mienen seiner Figuren löst. Es wird viel gesungen bei Terence Davies, ob im Pub oder auf der Opernbühne, und immer versteht der Regisseur darunter ein besseres Reich, in das keine väterliche Gewalt eindringen kann, den einzig möglichen Ort der Erlösung."

Außerdem: Thomas Stillbauer empfiehlt in der FR das Frankfurter Lucas-Festival für Jugendfilme. In der Zeit feiert Andrea Petković das mit Brad Pitt besetzte Baseballdrama "Moneyball" (unsere Kritik) aus dem Jahr 2011 als besten Sportfilm aller Zeiten.
Archiv: Film

Bühne

Szene aus "Rausch". Foto: Nils Heck

Drei Saisonpremieren hat das Schauspiel Essen unter der neuen Leitung durch die Regisseurin Selen Kara und die Dramaturgin Christina Zintl nun hinter sich - und spätestens nach der Aufführung von Armin Petras' "Rausch" ruft Martin Krumholz in der SZ: Essen ist zu beneiden! Denn diese Inszenierung, die auf dem gleichnamigen Film von Thomas Vinterberg beruht, "vibriert förmlich vor Lust am exzessiven Schau-Spiel, an verrückten Ideen, an sinnlicher Kraft." Petras inszeniert "mit sicherem Instinkt für die Qualität der Vorlage, die auf der Hypothese beruht, der Mensch sei 'mit einem halben Promille zu wenig auf die Welt gekommen' und müsse dem systematisch abhelfen. Selbstoptimierung durch Alkohol, nur tagsüber genossen, nicht abends, nicht am Wochenende. Die Helden sind vier frustrierte Lehrer, und ihren Plan ziehen sie gnadenlos durch. Petras hat einen wunderbaren Einfall gehabt: Er flankiert den Gang der Handlung durch einen Kinderchor, der die Schülerschaft darstellt, prächtig singt und ab und zu auch kleinere schauspielerische Aufgaben übernimmt. Eine Art Basso continuo, der dem Stück den kammerspielartigen Zuschnitt raubt."

Im Tagesspiegel resümiert Ute Büsing das 15. Internationale Theaterfestival in Tiflis, das mit 54 Produktionen aus allen Teilen Georgiens einen neuen Rekord aufstellte und mit vielen freien Theatern ein Zeichen gegen staatlichen Einfluss setzte: "Der Staat in Gestalt der Kulturministerin von der herrschenden Partei Georgischer Traum greift immer heftiger ein. Wie bereits bei der Leitung des Nationalen Filmcenters und beim Haus der Schriftsteller versucht sie, linientreue Administratoren einzusetzen."

Außerdem: 25 Jahre nachdem Judy Winter das letzte Mal die Marlene am Berliner Renaissance-Theater gegeben hat, schlüpft nun der deutsch-niederländische Sänger Sven Ratzke unter der Regie von Guntbert Warns in die Rolle. Im Welt-Interview mit Jakob Hayner erklärt er, was heute noch an der Dietrich fasziniert: "Wie sie ein Image kreiert hat, das war etwas Neues. Heute gibt es Facebook und Instagram, jeder macht sich selbst zu einer Ikone - mit ganz vielen Filtern und trotzdem schlechter als sie damals." "Berlin hat eine neue 'Marlene'", applaudiert Patrick Wildermann im Tagesspiegel zufrieden nach der Premiere. "Sven Ratzke singt gut, nur richtiger Marlene-Charme kommt einfach nicht auf", meint hingegen Irene Bazinger in der Berliner Zeitung.

Besprochen werden Heiki Riipinens Inszenierung "Insomnia" am Berliner Ensemble (taz), Tina Laniks Inszenierung von Nino Haratischwilis "Phädra, in Flammen" ("Der Funke springt nicht über", meint Wolfgang Kralicek in der SZ), Theresa Reibers Musiktheaterproduktion "Warten auf Gertrud oder das Treffen der 100 Wunderkinder" in der Berliner Villa Elisabeth (Tsp), Wilke Weermanns Inszenierung von Kim de l'Horizons "Hänsel & Greta & The Big Bad Witch" am Theater Bamberg (nachtkritik) und Ohad Naharins Choreografie "Last Work", getanzt vom Hessischen Staatsballett in Darmstadt (FR).
Archiv: Bühne

Musik

Aus der hiesigen Clubszene dröhnt nach dem erschütternden Massaker der Hamas auf dem Supernova-Festival im Süden Israels "ohrenbetäubendes Schweigen", hält Nicholas Potter in der taz fest - wenn überhaupt, dann werden die Gewalttaten der Hamas mit Solidaritätsbekundungen verharmlost. Kein Wunder: Die Szene besteht zum beträchtlichen Teil aus BDS-Sympathisanten. "Die Buzzwords der BDS-Bewegung finden auf der Tanzfläche Resonanz. Antisemitismusvorwürfe werden abgeschmettert. ... Klare Worte der Solidarität, der Anteilnahme, der Verurteilung dieser abscheulichen Verbrechen passen offenbar nicht zu einem Weltbild, das Israel nur als Täter kennt - und nie als Opfer. Ganz egal, wie viele Hamas-Raketen die queere Partymetropole Tel Aviv treffen, ganz egal wie viele lebensfrohe Festivalbesucher*innen kaltblütig ermordet werden. ... Für jüdische und israelische DJs, viele von ihnen links und keine Fans von 'Bibis' rechtsradikaler Regierung, ist das verheerend."

Die Band U2 hat in Las Vegas The Sphere mit einem Konzert eingeweiht - eine atemberaubende, akustisch genau ausgefuchste Konzertvenue, die jede Band vor einer gigantischen LED-Bildschirmkuppel zum Statist beim eigenen Konzert verzwergt, während sich auf der Fläche ringsrum riesige Video-Simulationen abspielen, die das 19000 Menschen fassende Publikum beispielsweise auf Ausflüge ins Weltall mitnehmen. Welt-Kritiker Martin Scholz merkt "den Musikern an, dass sie sich selbst mit einer Mischung aus Faszination und Ehrfurcht in dieser Kugel-Architektur und ihrem 'Larger than Life'-Videoeinspielungen bewegen." Das Publikum hält derweil Andacht: "Wer ständig versucht, möglichst viel von den visuellen Eindrücken festzuhalten, kann nicht klatschen. Andere wiederum stehen einfach nur da und staunen. ... U2 stellen sich ganz in den Dienst dieses Raumschiffs", die Band "ist an diesem Ort Performance-Künstler, wir sehen sie als Akteure auf einem Plattenspieler, nicht als Rockstars." Einen buchstäblich kleinen Eindruck vermittelt dieses Youtube-Video:



Weiteres: Ueli Bernays versucht in der NZZ , dem sagenhaften Erfolg von Taylor Swift auf die Schliche zu kommen. Besprochen werden Axel Brüggemanns Buch "Die Zwei-Klassik-Gesellschaft" (Standard), Roger Waters' Neuaufnahme des Pink-Floyd-Klassikers "The Dark Side of the Moon" (Presse) und das neue Wilco-Album "Cousin" ("oft liegt in der Mikromodifizierung eine spezielle Schönheit", lautet der Befund von Standard-Kritiker Karl Fluch).

Archiv: Musik