Efeu - Die Kulturrundschau

Etwas zu viel Flow

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.10.2023. Die Feuilletons teilen Eindrücke von der Frankfurter Buchmesse: Wo bleibt bei den ganzen politischen Debatten eigentlich die Literatur, fragt die taz. Salman Rushdie folgen die Kritiker auf Schritt und Tritt: Die FR lauscht hingerissen seinem Geplauder und und hätte gerne noch mehr davon gehört. Die SZ denkt mit Ingrid Lausunds Monolog "Der geflügelte Froschgott" über Pizza im Jenseits nach. Und die Filmkritiker gratulieren Catherine Deneuve zum Achtzigsten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.10.2023 finden Sie hier

Literatur

Dirk Knipphals berichtet in der taz von seinen Eindrücken von der Frankfurter Buchmesse. Unter anderem fällt ihm auf, dass Themen und Debatten die Literatur locker in die Taschen stecken. Wer in Frankfurt nicht gerade Salman Rushdie, Tonio Schachinger, Daniel Kehlmann oder vielleicht noch Charlotte Gneuß heißt, findet kaum statt. "Dass die literarischen Stimmen derzeit weniger sichtbar sind, mag der düsteren Weltlage geschuldet sein. So ganz wird man aber auch den Eindruck nicht los, dass die Gründe dafür auch an Veränderungen im Literaturbetrieb selbst liegen. Was immer man gegen solche Platzhirsche wie Grass, Walser, Frisch, Enzensberger sagen kann, sie haben die Literatur stets im Gespräch gehalten. Niemand wünscht sich diese Zeit zurück, doch an ihre Stelle getreten ist vielleicht etwas zu viel Flow. Besondere Aufmerksamkeit für Debüts, auf Zielgruppen zugeschnittene Programme, auf Preise hin terminierte Veröffentlichungen, boomende Festivals bei gleichzeitiger Diskreditierung von Rezensionen als altbacken - dass diese Melange zwar viele aufpoppende Namen, aber nur wenige schwergewichtige Stars produziert, die von sich aus Sichtbarkeit herstellen, ohne über Themen gehen zu müssen, das muss man eben auch feststellen." Allerdings bietet die Buchmesse auch genügend Möglichkeit zum Ablenken von den großen Themen und Krisen dieser Tage, berichtet Nadine A. Brügger in der NZZ und findet das auch richtig so, denn "ja, diese Pluralität ist nötig".

Die Literaturkritiker folgen Salman Rushdie auf der Frankfurter Buchmesse auf Schritt und Tritt. Beim Empfang im etwas privateren Rahmen gab sich der morgen in Frankfurt mit dem Friedenspreis geehrte Schriftsteller beim Schütteln aller im Raum verfügbaren rechten Hände "stoisch freundlich und humorvoll", beobachtet Gerrit Bartels im Tagesspiegel. Am nächsten Morgen beim Pressetermin (deren Fragen Judith von Sternburg in der FR als Frage-Antwort-Text resümiert) wird es dann besonders schön, "als Rushdie ins Plaudern kommt, er sich an Begegnungen in anderen europäischen Ländern erinnert", mit etwa Adam Michnik, Adam Zagajewski und Italo Calvino. Davon "hätte man gern noch mehr von Salman Rushdie gehört, da ist er besser, als wenn er immer wieder wie ein Orakel zum Zustand der Welt und was aus ihr werden soll, befragt wird." Weitere Resümees von Rushdies Pressekonferenz schreiben Nora Zukker (TA), Felix Stephan (SZ) und Paul Jandl (NZZ).

Weitere Artikel: Susanne Klingenstein führt in "Bilder und Zeiten" der FAZ durch Leben und Werk des Schriftstellers Robert Plunket, der in den USA gerade in Form von Wiederveröffentlichungen wiederentdeckt wird: Der New Yorker feierte ihn vor wenigen Monaten als "einen von Amerikas witzigsten, schwulsten Schriftstellern", Paris Review bringt einen Auszug aus Danzy Sennas Vorwort "Wer war Robert Plunket" zur Neuausgabe von "My Search for Warren Harding". Thomas Ribi erzählt in der NZZ von seinem Nachmittag in der Berliner Paris Bar mit dem Schriftsteller-Ehepaar Eva Sichelschmidt und Durs Grünbein. Der Schriftsteller Kurt Drawert meditiert in "Bilder und Zeiten" der FAZ über die USA. Alex Rühle erzählt in der SZ von seiner Begegnung mit dem schwedischen Autor Alex Schulman, der gerade seinen neuen Roman "Endstation Malma" veröffentlicht hat. Aron Boks schreibt für die taz weiter Tagebuch von der Frankfurter Buchmesse. Für das Literarische Leben der FAZ fragt Melanie Mühl bei Autoren, Buchhändlern und einem Lektor nach, wie man einen Bestseller schreibt. In der FAZ erinnert Jürgen Kaube an Otfried Preußler, der vor 100 Jahren geboren wurde: Das flankiert Dlf Kultur mit einer Langen Nacht von Barbara Giese und einem Streifzug durch die Radioarchive. Arno Widmann gratuliert in der FR der Schriftstellerin Ilse Helbich zum 100. Geburtstag. Dlf und Dlf Kultur gratulieren ihrerseits mit Features.

Besprochen werden Margaret Atwoods "Brennende Fragen" (Welt), Uwe Timms "Alle meine Geister" (taz), Joris Mertens' Comics "Béatrice" und "Das große Los" (Filmdienst) und Gabriela Adameșteanus "Der Trevibrunnen" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

In stiller Verzweiflung: "Eureka" von Lisandro Alonso

Die Viennale zeigt Lisandro Alonsos neuen Film "Eureka", der sich ausgehend von einem Western-Pastiche munter durch die Genres und Stile mixt. Zu erleben ist "ein Triptychon aus lose miteinander verwobenen Geschichten über Existenzweisen und Repräsentationsformen indigenen Lebens", erklärt Esther Buss im Standard. "Auf den Western folgt ein hypnotisches Sozialdrama oder auch ein Cop-Film im Pine-Ridge-Reservat der Gegenwart, der fließend - oder vielmehr fliegend - in eine im brasilianischen Urwald der 1970er-Jahre spielende mythische Erzählung übergeht. Ein Vogel, der von Film zu Film wandert, fungiert als reinkarnative Instanz. Das Herz von Eureka schlägt im mittleren und längsten Teil, in ihm zeigen sich die Zerstörungen durch gewaltsame Landnahme, Rassismus und Entwurzelung in stiller Verzweiflung."

Catherine Deneuve in Roman Polanskis "Ekel"

Catherine Deneuve wird 80 Jahre alt. "Sie ist die Magie des Bildlichen, der Bild gewordenen Schönheit schlechthin, das Glücksversprechen einer Erscheinung, die sich hingibt, indem sie sich entzieht", schwärmt Andreas Kilb in der FAZ, "und vielleicht liegt darin das Geheimnis ihrer einmaligen Karriere: dass sie nie aufgehört hat, an das Kino zu glauben, als Kunst und als Lebensform. Als Kind bewunderte sie Marilyn Monroe, als Teenager wandelte sie auf den Spuren von Brigitte Bardot. Beide hat sie weit hinter sich gelassen, mit Disziplin, Überlebenswillen, Klasse und Charme." Sie ist nicht von dieser Welt, schwelgt auch Willi Winkler in der SZ: "Sie wurde im Kino geboren und lebt nur dort" und ist daselbst ohnehin "die einzige Göttin. ... Der Zuschauer darf dabei sein, wenn sie jedes Mal nicht in der Rolle aufgeht, sondern Catherine Deneuve erscheint, die er nur vage wiedererkennt. Keine Rolle ist ihr, wie es so merkwürdig heißt, auf den Leib geschrieben, sie entdeckt sie erst beim Spielen. Großen Regisseuren hat sie erlaubt, ihr zuzuschauen, wie sie dabei immer fremder und ferner wird, aber sie waren bei diesem Spiel nichts weiter als bessere Gehilfen, unerlässlich zwar, aber letztlich auch nur staunende Zuschauer." Hier ein Videoessay von Arte über Deneuve:



Besprochen werden Balojis in "fulminanten Bildern" erzähltes, auf der Viennale gezeigtes Regiedebüt "Augure" (Standard), die Apple-Serie "Eine Frage der Chemie" (Zeit), die Disney-Serie "The Other Black Girl" (Presse) und Horst Peter Kolls in seinem Buch "Drachen reiten. Freunde finden. Älter werden" (Filmdienst).
Archiv: Film

Kunst

Aus der Ausstellung "A place of our own". Foto: Iris Hassid.

Ein "Stück Hoffung", findet SZ-Kritikerin Kathrin Cahlweit in der Ausstellung "A place of our own", die das Jüdische Museum Hohenems zeigt. Angesichts der aktuellen Entwicklungen ist diese aber auch gleichzeitig "schon jetzt ein Relikt": Die israelische Fotografin Iris Hassid hat vier junge Palästinenserinnen aus Tel Aviv durch ihren Alltag begleitet, so Cahlweit, schaut ihnen "beim Erwachsenwerden zu", beim "Feiern, Chillen, Reden, Shoppen. Beim Träumen und Trauern." Ein sehr privater Einblick in ihr Leben und gleichzeitig ein Zeugnis aus "einer Gesellschaft, in der die Entfremdung immer weiter voranschreite", stellt Cahlweit fest. Vor allem eindrucksvoll findet sie die Kommentare der Frauen, die die Bilder ergänzen: "Sie erzählen von Zurückweisung, Hass und Verlorenheit. Und zugleich von einem kämpferischen Selbstbewusstsein. Samar, Majdoleen, Aya und Saja begeben sich inmitten eines überwiegend jüdischen Umfelds nicht in die Isolation, sie wollen Teil einer großen Community sein: als Palästinenserinnen, als Araberinnen, als Israelinnen." Ob eine so vertraute Zusammenarbeit nach den jüngsten Ereignissen noch möglich wäre, weiß die Kritikerin nicht.

Weiteres: FAZ-Kritiker Benjamin Paul sieht sich die Skulpturen der iranisch-deutschen Künstlerin Nairy Baghramian in der Fassade des Metropolitan Museum of Art genau an und versucht, deren "Anti-Ästhetik" zu ergründen. In der FAS lässt sich Susanne Kippenberger von Museumswärter Patrick Bringley durch das Metropolitan Museum führen.

Besprochen wird die Ausstellung "Zoom auf Van Eyck. Meisterwerke im Detail" in der Berliner Gemäldegalerie (tsp).
Archiv: Kunst

Bühne

Szene aus "Der geflügelte Froschgott" am DT Berlin. Foto: Thomas Aurin. 

In die "schönsten Absurditäten und Pointen" schraubt sich Ingrid Lausunds Jenseits-Monolog "Der geflügelte Froschgott" am Deutschen Theater Berlin, freut sich SZ-Kritiker Peter Laudenbach. Lausund kennt er schon als Drehbuchautorin der Serie "Tatortreiniger". War diese allerdings noch sehr diesseitig angesiedelt, geht es hier um das Leben nach dem Tod, so der Kritiker. Wenn es denn eines gibt? So entspinnt Lausund hier "ein Gedankenspiel über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Jenseitsvertrauens...Kennen Theologen zum Beispiel die Antwort auf die Frage, ob die Lieblingspizzeria mit der Schlager-Jukebox wohl jenseits- und transzendenzfähig ist?" Dabei glänze die Uraufführung von Regisseur FX Mayer durch "zwei bestens gelaunte Schauspieler, Regine Zimmermann und Bernd Moss, aus Lausunds Aberwitz-Monolog eine sehr musikalische Sprech-Operette, mal im Chor, mal im Duett, und immer mit maximaler Charme-Offensive: zwei Performer für ein Halleluja." Rasant findet Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung diesen Text: Er "stapelt Annahmen, Folgerungen und Zweifel aufeinander, verliert sich auf Nebensträngen der Spitzfindigkeit, kehrt zum Ausgangspunkt zurück, knallt gegen Widersprüche". Tagesspiegel-Kritikerin Christine Wahl hat sich amüsiert, findet aber auch, dass Lausunds Humor Geschmackssache ist.

Weitere Artikel: NZZ-Kritikerin Marion Löhndorf besucht die Retrospektive der "Schmerzensfrau" Marina Abramović in der Royal Academie of Arts in London, in der ihre, oft extremen, Performances von Künsterlinnen nachgestellt werden: "Am spektakulärsten in 'The House with the Ocean View', einer Performance, die auf das Jahr 2002 zurückgeht: Drei Frauen stehen auf Plattformen an einer Wand der Royal Academy, 24 Stunden am Tag über zwölf Tage hinweg. Sie betrachten das Publikum, und das Publikum betrachtet sie. Sie sprechen nicht und trinken nur Wasser." Welt-Kritiker Manuel Brug besucht eine Probe mit dem neuen Direktor des Berliner Staatsballetts Christian Spuck. Im FR-Interview unterhält sich die Opernsängerin Waltraud Meier mit Markus Thiel.

Besprochen werden Dimitris Papaioannous Performance "Ink" im Haus der Berliner Festspiele (tsp) und Roland Wilsons Rekonstruktion der Heinrich Schütz Oper "Tragicomedia von der Dafne" (deren Noten verschollen sind) beim Heinrich Schütz Musikfest in Dresden (nmz).
Archiv: Bühne

Musik

Andreas Hartmann unterhält sich im Tagesspiegel mit Sulu Martini vom Kollektiv, das in Berlin den Club About Blank betreibt. Es war der einzige Berliner Club, der das Massaker der Hamas in Israel mit eindeutigen Worten verurteilt hatte, während der Rest der sonst zwar sehr solidarisierungsfreudigen, aber auch sehr BDS-nahen Szene es vorzog, zu den antisemitischen Exzessen vornehm zu schweigen. "Wir werden auf BDS-Listen als proisraelischer, prozionistischer und antipalästinensischer Club gelabelt", erzählt Martini. "Dazu gehört auch, dass DJs angeschrieben werden, wenn sie bei uns auf Line-Ups auftauchen. Warum sie hier spielen würden, werden sie dann gefragt. Das heißt, diese Kampagne läuft weiterhin. Und jetzt, wo wir uns so geäußert haben, wird diese sicherlich wieder an Fahrt aufnehmen." Das queere Berliner Clubkollektiv 'Room 4 Resistance' hat nach dem Überfall auf Israel Demo-Aufrufe des palästinensischen Netzwerks Samidoun unterstützt, das die Gräueltaten der Hamas gefeiert hat. Das ist schon ein skurriles Bündnis. Eigentlich ist es unvorstellbar, dass Queers mit Hamas-Sympathisanten gemeinsam auf die Straße gehen."

Weitere Artikel: Karl Fluch zerbricht sich im Standard den Kopf über den sagenhaften Erfolg von Taylor Swift: Generationen überdauernde Superstars wie früher werde es ja nie wieder geben (sagen jedenfalls diejenigen, die in etwa der Alterskohorte dieser Superstars entstammen), aber Swift macht sich dennoch gerade drauf und dran, eben so ein Superstar zu werden - wenn sie es nicht längst schon ist. Markus Thiel unterhält sich für die FR mit der Mezzosopranistin Waltraud Meier, Joachim Hentschel für die SZ mit PJ Harvey. Jan Paersch berichtet in der taz vom Enjoy Jazz Festival in der Rhein-Neckar-Region. Wolfgang Luef streift für die SZ durch das Wenige, was aus dem Leben von Nick Drake bekannt ist, der sich nach einigen mäßig erfolgreichen Alben 1974 umbrachte und heutzutage ein Millionenseller ist. In der FAZ gratuliert Wolfgang Sandner dem Dirigenten Hugh Wolff zum 70. Geburtstag. Andreas Hartmann erzählt im Tagesspiegel von seiner Begegnung mit der Berliner Musikerin Kiki Bohemia, die gerade ihr zweites Album veröffentlicht hat.



Besprochen werden ein von Gustavo Dudamel dirigiertes Konzert der Berliner Philharmoniker (SZ), das neue Album der Rolling Stones (Presse), ein Auftritt von Laibach (FR), ein Solistenkonzert von Anna Netrebko in Wien (Standard), Sigrid Horns neues Album "Nest" (Standard), Chers Weihnachtsalbum (hier und da "blueselt und jazzelt es zart", bezeugt Standard-Kritiker Christian Schachinger), eine Ausstellung im Berliner Musikinstrumentenmuseum zu Ehren des Instrumentenbauers Johann Joachim Quantz (FAZ) und Billy Childs' Album "Winds of Change" (SZ-Kritiker Andrian Kreye hört "eine gute Bestandsaufnahme, wie weit sich der Bop jenseits der Avantgarden und Aufbrüche eben doch entwickelt hat").

Archiv: Musik