Efeu - Die Kulturrundschau

Kaleidoskop der Details

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24.10.2023. Wo war eigentlich das besondere Sicherheitskonzept auf der Frankfurter Buchmesse, fragt die SZ. Außerdem schwärmt sie vom neuen Entwurf für die deutsche Botschafterresidenz in Tel Aviv. Die Schriftstellerin Rebecca F. Kuang will vor allem als Geschichtenerzählerin, nicht als asiatische Autorin wahrgenommen werden, verrät sie ZeitOnline. Die taz blickt zurück auf das Werk von Füsun Onur - einer unerschrockenen Pionierin der türkischen Avantgarde.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.10.2023 finden Sie hier

Kunst

Installationsansicht Füsun Onur. Retrospektive Raum mit Muse, 2023 Museum Ludwig, Köln 2023, © Füsun Onur Foto: Saša Fuis

Mit der Retrospektive der Künstlerin Füsun Onur im Museum Ludwig blickt taz-Kritiker Ingo Arend auf die Laufbahn einer unerschrockenen Pionierin der türkischen Avantgarde zurück. Onur verarbeitete in ihrer Kunst alltägliche Dinge und einfache Materialien wie "Plexiglas oder Tüll", so Arend, gleichzeitig war ihre Kunst sehr politisch und traf mehr als einmal ins "sexistische und patriarchale Herz der türkischen Mehrheitsgesellschaft". Für die Ausstellung ganz neu konzipiert hat Onur den "Raum mit Muse", den der Kritiker gespannt betritt: Es eröffnet sich ihm ein "fast leerer, in ein blaues Dämmerlicht getauchter Saal. Nur ein paar hölzerne Schemel der Sorte, auf denen man in Istanbul auf der Straße Tee zu trinken pflegt, stehen darin. Von der Decke baumelt eine aus Draht gebogene Engelsgestalt, von fern sind leise Geigenklänge zu hören. Wer den sphärischen Raum betritt, ist aufgerufen, ihn mit der Fantasie zu füllen, von der Onur behauptet, sie habe 'für mich nie an Glanz verloren. Sie nimmt mich mit auf eine Reise und trägt mich zu einem Ziel. Wo auch immer sie mich hinnimmt, da komme ich an'.

Wo seid ihr
, Leute? Das Deprimierende ist, dass Katya Kazakina diese Frage schon am 12. Oktober in Artnet stellen konnte, und dass sie ihren Artikel am 21. Oktober fast ohne jede Aktualisierung in Tablet übernehmen konnte: Sie schildert für Amerika eine ähnlich dröhnende Stille, wir wir sie in Deutschland von all den angeblich so "weltoffenen" Museen und Kunstinstitutionen vernehmen. Kaum jemand äußert Solidarität mit Israel: Um wieviel empörungsbereiter war man damals, als man sich für BDS einsetzen konnte! (Natürlich, man selbst ist nicht BDS, dafür schickte man die Künstler vor.) Auch in New York und in ganz Amerika, so Kazakina, herrscht Schweigen. Auch große Galerien wie Gagosian, Pace, Hauser & Wirth und die Galerie des Deutschen David Zwirner sowie die Auktionshäuser Christie's, Sotheby's, and Phillips äußerten sich nicht. Könnte es sein, dass es dafür eine einfache Erklärung gibt, nämlich (neben Antisemitismus) schlichte Gier? "Vielleicht haben die Menschen Angst, das Falsche zu sagen und jemanden zu beleidigen. Vielleicht haben die Museen Angst, von ihrem Publikum kritisiert oder gecancelt zu werden. Vielleicht haben Galerien Angst, ihr Geschäft zu verlieren. Mächtige Kunstmäzene wie Sheikha al Mayassa aus Katar, die in den letzten zwanzig Jahren zu den wichtigsten Sammlern gehörte und Vorsitzende der Museen von Katar ist, postete nach dem Massaker in den sozialen Medien Bilder der palästinensischen Flagge, die auf Museumsgebäude in Doha projiziert wurden."

Weiteres: Tilman Baumgärtel stellt in der taz den Grafiker Jesse Simon vor, der besondere Seiten des Berliner Stadtbildes auf seinen Fotos festhält, die in den Bänden "Berlin Typography" und "Plattenbau Berlin", sowie in den sozialen Medien und hier zu sehen sind.

Besprochen werden die Ausstellung "Dieric Bouts - Bildermacher" im Museum Leuven (FAZ), die Ausstellung "From Texture To Temptation" mit Werken von Silke Radenhausen in der Stadtgalerie Kiel (taz) und die Ausstellung "Niko Pirosmani" in der Fondation Beyeler (NZZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Zumindest am Publikumstag war auf der Frankfurter Buchmesse in Halle 3 von einem besonderen Sicherheitskonzept insbesondere für jüdische Menschen wenig zu spüren, berichtet Christiane Lutz in der SZ: Unübersichtliches Gedränge, kaum ersichtliche Ausweichmöglichkeiten und vor allem kaum Kontrollen von mitgeführtem Gepäck ließen bei manchen mulmige Gefühle entstehen, die die Buchmesse auf Anfrage zwar allesamt als unbegründet zur Seite schiebt. "Mindestens unpassend ist es allerdings, wenn als Actionfiguren verkleidete Menschen auf dem Messegelände herumlaufen und Veranstaltungen jüdischer Autoren besuchen. Tomer Dotan-Dreyfus, israelischer Autor, saß mit anderen jüdischen Autoren auf der Bühne des Frankfurt Pavilion bei einer spontan vom PEN Berlin einberufenen Lesung. Er sagt: 'Als ich auf der Bühne saß, kam ein Verkleideter rein, mit Helm und Gewehr. In der ersten Sekunde dachte ich mir: Jetzt sterben wir alle. Dann erkannte ich die Star-Wars-Figur und war kurz beruhigt. Aber: Wäre ich ein Terrorist, wäre diese Verkleidung ja perfekt. ... Ich lebe seit 13 Jahren in Deutschland und habe es immer genossen, dass es hier nicht so streng ist wie in Israel'", doch "'jetzt fühle ich das anders. Wegen der gesamten Situation hätte ich mir mehr Sicherheitsmaßnahmen auf der Messe gewünscht'."

Rebecca F. Kuang, in China geborene US-Autorin, setzt sich im ZeitOnline-Gespräch mit Annabel Wahba angenehm differenziert zwischen alle Stühle. Einerseits nervt es sie, wenn Leute sie nur deshalb lesen, weil sie wohl was von einer asiatischen Autorin lesen sollten: "Mein Job ist es, eine gute Geschichte zu erzählen. Und darin möchte ich genauso ernst genommen werden wie jede andere Geschichtenerzählerin." Zugleich findet sie es lächerlich, wenn weiße Autoren barmen, sie würden aus dem Betrieb aussortiert. "Der Grund, warum dieser Mythos besteht, ist die Angst vor der Veränderung und die Unsicherheit darüber, dass nun Menschen, die historisch keine Plattform hatten, ihre Geschichten erzählen. Jedes Fenster, das sich für diverse Autoren öffnet, wird nun als Bedrohung für die Verlagsindustrie gedeutet. Was auch zu dieser Haltung beiträgt, ist die Kultur des sogenannten tokenism: Wenn sich eine kleine Anzahl an Titeln nicht weißer oder queerer Autoren gut verkauft, dann wird dieser Erfolg aufgeblasen, und man behauptet, er sei repräsentativ für eine ganze Gruppe. Er wird als Beweis dafür gesehen, dass die Literaturbranche sich total verändert habe. Und dann gibt es auch immer noch ganz altmodische Diskriminierung". Eben ist auf Deutsch Kuangs Fantasyroman "Babel" erschienen, ihre Satire "Yellowface" erscheint in ein paar Monaten.

Weitere Artikel: Dima Albitar Kalaji erzählt in der Berliner Zeitung von ihren gemeinsamen Bundesarchiv-Recherchen mit Annett Gröschner zu Erfahrungen in der DDR und in Syrien (mehr zu diesem Projekt hier). Die FAS hat Harald Paulis anlässlich einer Apple-Doku über John le Carré geführtes Gespräch mit den Söhnen des Thriller-Autors online nachgereicht. Aron Boks bringt die letzte Lieferung seines taz-Tagebuchs von der Frankfurter Buchmesse. In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Matthias Heine daran, als Friedrich Rückert mit Eleonore Prochaska die "deutsche Jeanne d'Arc" besang.

Besprochen werden unter anderem die Ausstellung "Ingeborg Bachmann. Eine Hommage" in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien (Jungle World), Milan Kunderas erstmals auf Deutsch vorliegender Essay "Der entführte Westen: Die Tragödie Mitteleuropas" (Standard), Stephen Kings "Holly" (Zeit) und Chava Rosenfarbs "'Durch innere Kontinente'. Ein Lesebuch" (FAZ).
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Architektur

Gustav Düsing, Berlin mit wolff:architekten, Berlin mit Architekten für nachhaltiges Bauen, Walsrode und emmerik garden design and research, Rotterdam

Ein Entwurf, der mehr "an Feste als an Festung" erinnert und dem SZ-Kritiker Peter Richter von ganzem Herzen eine schnelle Realisierung wünscht: Der Berliner Architekt Gustav Düsing hat einen Wettbewerb zur Neugestaltung der deutschen Botschafterresidenz in Tel Aviv gewonnen, der den Kritiker auf allen Ebenen überzeugt. Düsing hob sich von den anderen Entwürfen unter anderem dadurch ab, dass er das noch bestehende Gebäude in seine Planung mit einbezog: "Das Haus stehen lassen, innen neu zuschneiden und modernisieren, der zusätzliche Raum für die gelegentlichen Empfänge wird dagegen vor und neben dem Haus untergebracht, auf der ausgreifenden Terrasse, in einem Zwischending zwischen Drinnen und Draußen, nämlich beschirmt von einem leichten, nach Bedarf verschiebbaren Vorhang aus Metall. Das ist natürlich eine maximal wörtliche Auslegung des klassisch-modernen Begriffs von der 'Vorhangfassade'. Dieser halbdurchsichtige, aber winddichte Gittervorhang soll dann einfach dahin gezogen werden können, wo man jeweils eine Verschattung braucht oder die Privaträume blickdicht haben will."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Düsing, Gustav

Film

Ralph Trommer führt in der taz durch 100 Jahre Disney Company. David Steinitz wirft für die SZ einen Blick auf aktuelle Gerüchte rund um die Besetzung des nächsten Bonds. In der FAZ gratuliert Maria Wiesner dem Regisseur Martin Campbell zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Richard Hubers Komödie "Ein Fest fürs Leben" mit Christoph Maria Herbst (Welt) und Klaus Scherers ARD-Doku "Inside Rheinmetall - Zwischen Krieg und Frieden" (ZeitOnline).
Archiv: Film
Stichwörter: ARD

Bühne

Schauspieler Michael Maertens und Regisseur Michael Sturminger werden beim nächsten "Jedermann" in Salzburg nicht dabei sein, meldet Christine Dössel meldet in der SZ. Stattdessen wird es eine ganz neue Inszenierung geben, lesen wir. Für die österreichische Theaterwelt sind diese plötzlichen und überraschenden Absetzungen ein ziemlicher "Knaller", schreibt Dössel. Jürgen Kesting bespricht in der FAZ eine CD Edition zum hundertsten Geburtstag von Maria Callas, die umfangreichste, die es bisher gab.

Besprochen werden Giacomo Puccinis Oper "Madame Butterfly" im Admiralspalast Berlin, aufgeführt vom Nationalen Opern- und Balletttheater Charkiw unter der Leitung von Oleg Orishchenko (tsp), Christian Spucks Ballett-Adaption von Gustave Flauberts "Bovary" (Welt) und Mable Preachs Performance-Projekt "I Am. We Are" im Ballhof Zwei in Hannover (taz).
Archiv: Bühne

Musik

Mit gerade einmal 36 Jahren hat Igor Levit "die Vollendung erreicht", schwärmt SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck nach dem Hören von "Fantasia". In Levits "Klanguniversum" verbinde sich "Virtuosität mit Luzidität, kontrapunktischer Irrsinn mit Klangrausch, Visionäres mit Tänzerischem, Fugen mit Fantasien." Seine neue Veröffentlichung "umgibt dieses Universum mit der finalen Gloriole, pianistisch wie konzeptuell, und führt von, mal wieder, Bachs Chromatischer Fantasie und Fuge über Franz Liszts megalomane H-Moll-Sonate und Alban Bergs expressiv zerfurchte Klaviersonate zu dem Virtuosen und Visionär Ferruccio Busoni." Dessen Hauptwerk "Fantasia contrappuntistica" spiele Levit "drängend elegant, kraftvoll tönend, heilkündend und mit Grandezza. Dabei entfacht er ein Kaleidoskop der Details und Subtilitäten, die sich nie selbst genügen, sondern zum letzten Triumph der Musik beitragen, der bei diesem Pianisten immer eine lebenswertere und bessere und menschlichere Welt bedeutet." Wir hören rein:



Weitere Artikel: Jakob Biazza fragt sich in der SZ, warum Richard Hawley eigentlich kein Superstar ist. Elmar Krekeler präsentiert in der Welt seine liebsten Aufnahmen der Goldberg-Variationen. Besprochen werden ein Berliner Beethoven-Abend mit dem Deutschen Symphonie-Orchester und Navid Kermani (Tsp, SZ), der auf der Viennale gezeigte Porträtfilm "I Am Noise" über Joan Baez (Standard), Evgenij Dajnovs Buch "Politik und Rock'n'Roll" (Standard) und Kylie Minogues aktuelles Album "Tension" (FR).
Archiv: Musik