Efeu - Die Kulturrundschau

Der Kopf schwirrt vor Musik

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02.11.2023. Die fünfte Kiev-Biennale gibt der Kunst Raum, den Krieg zu verarbeiten, berichtet die Zeit: der Künstler Volodymyr Kuznetsov schickt Tütensuppe an die Front. Ihr sollt politisch engagiert sein, nicht Eure Romane, ruft Thea Dorn ebenfalls in der Zeit ihren Schriftstellerkollegen zu. Im US-Rap grassiert der Antisemitismus auch wegen der seit langem anhaltenden Verflechtung mit der Nation of Islam, erklärt die Jungle World. Die Dylanologen verzetteln sich mit großer Lust in einem neuen Luxusband mit Dylan-Archivalia. Und der Standard schlendert durchs verstummte Musikerviertel Kabuls.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.11.2023 finden Sie hier

Kunst

Zeit-Kritikerin Olivia Kortas besucht die fünfte Kiew-Biennale, die wegen des Kriegs nur zum Teil in der Ukraine stattfinden kann. Lange, so Kortas, war es schwer für die ukrainische Kunstszene den Krieg zu verarbeiten, es fehlte die Distanz. Hier finden die widerstreitenden Emotionen Raum, mit denen die Ukrainer seit dem Beginn des Krieges zu kämpfen haben, wie Kortas bei Aljona Karawais Ausstellung "On the Periphery of war" in Iwano-Frankiwsk beobachtet: diese "provoziert Wut auf sich selbst, ein Gefühl der Verantwortung, des Ertapptwerdens. Die Ausstellung beginnt mit so einer Provokation: einem Gemüsetrockner. Das Küchengerät, so groß wie zwei Mikrowellen, steht auf einem klinisch sauberen Tisch und summt vor sich hin. Alle sieben Stunden kommt eine Freiwillige, hängt das Absperrseil ab, nimmt die getrocknete Rote Bete aus dem Gerät, füllt frische Gemüseschnipsel nach, hängt das Absperrseil wieder dran und geht. Die Tütensuppe, die der Trockner auf diese Weise produziert, wird an die Front geschickt. 'Wenn Sie schlafen, wenn Sie zur Arbeit gehen, wenn Sie essen, wenn Sie Sex haben, wenn Sie Ausstellungen besuchen, die Trockner arbeiten weiter', steht auf dem Schild neben dieser Installation von Volodymyr Kuznetsov. Mit anderen Worten: 'Während Sie diesen Gemüsetrockner betrachten, essen anderswo Soldaten Tütensuppe und riskieren ihr Leben, was dafür sorgt, dass Sie hier in Ruhe diesen Gemüsetrockner betrachten können.'"

FR-Kritikerin Sylvia Staude bewundert unaufgeregte Fotokunst aus Slowenien in der Ausstellung "Paradise, Performance, Replica" im Fotografie-Forum Frankfurt: "Eine der Stille und dem genauen Hinsehen verpflichtete Ausstellung ist aus Slowenien gekommen, eine, die scheinbar gar nicht viel zeigt, auf der es aber umso mehr zu entdecken gibt. Man muss nur für eine Weile den Lärm der Welt vergessen, vor allem den Bilderlärm."

Besprochen werden die Ausstellung "Holbein und die Renaissance im Norden" im Städel Museum Frankfurt (FAZ, tsp) und die Ausstellung "Alles auf einmal. Die Postmoderne, 1967-1992" in der Bundeskunsthalle Bonn (FAZ).
Archiv: Kunst

Musik

Dass in einem aktuellen Rap-Track von Noname und Jay Electronica wüste antisemitische Muster aus der "Protokolle der Weisen von Zion"-Mottenkiste aufgerufen werden, wundert Charlie Bendisch in der Jungle World nicht: Zentraler Stichwortgeber und Einflüsterer ist hier der Prediger Louis Farrakhan von der Nation of Islam, dessen antisemitisch durchsetzte Reden im US-Rap schon seit den Achtzigern herumschwirren. Er "erkannte früh, dass es seinem Einfluss zuträglich war, sich mit Rappern medienwirksam zu inszenieren. 'Ein Rap-Song von euch ist mehr wert als Tausend meiner Reden', betonte er 2001 vor Publikum. Farrakhans Verflechtung mit der Rap-Szene hält bis heute an. Als 2019 seine Facebook- und Instagram-Accounts aufgrund seines Antisemitismus und seiner Homophobie gesperrt werden sollten, kritisierten das diverse Rapper wie Snoop Dogg und Ice Cube als Zensur. Als der Fernsehsender Fox Soul Farrakhans Rede zum Independence Day 2020 nicht ausstrahlen wollte, da sie voller Hassrede steckte, streamte P Diddy sie auf seinem Youtube-Kanal. Russell Simmons, Mitgründer des Labels Def Jam, bezeichnet Farrakhan als seinen zweiten Vater, Busta Rhymes, Killer Mike oder Jay-Z bauten Schnipsel aus seinen Reden in ihre Songs ein und von Eminem bis Kendrick Lamar scheint kaum ein Rapstar auf ein Selfie mit Farrakhan verzichten zu wollen. Zweifelsfrei waren auch Kanye Wests jüngste antisemitische Tiraden von Farrakhan beeinflusst."

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Mark Davidson und Parker Fishel genossen für den von ihnen herausgegebenen Prachtband "Dylan: Mixing Up The Medicine" privilegierten Zugriff aufs Bob-Dylan-Archiv und erschlagen die Dylanologen entsprechend mit einer riesigen Menge an bislang unbekannten Fotografien und Details. Bemerkenswert findet Harry Nutt in der Berliner Zeitung an diesem "Produkt für Nerds und Eingeweihte" daher auch "die Lusterzeugung auf ebenso überflüssige wie verblüffende Details, der man sich kaum zu entziehen vermag", schließlich besteht der Band "aus endlosen Abschweifungen und Randnotizen". Das Buch "gleicht eher einer Kiste als einem Buch", schreibt auch Rüdiger Schaper im Tagesspiegel, dem im Angesicht der Materialfülle kalter Rezensenten-Angstschweiß ausbricht: "Ein Briefchen von George Harrison, innige Fotos mit Francoise Hardy und Patti Smith und David Bowie, wo soll man beginnen! Im Studio, auf der Bühne mit Johnny Cash, The Band, The Grateful Dead, Tom Petty, Mark Knopfler: Der Kopf schwirrt vor Musik. So einen Wälzer kann man nicht lesen, ohne gleich die Songs hervorzuholen. Dylans Alben bieten in diesem unglaublichen Universum von Kreativität und Zeitgeschichte die Orientierung."

Die afghanische Musik ist verstummt, erzählt Emran Feroz in seiner Standard-Reportage aus Kabul. "Bis heute ist Kharabat bekannt als das einst ehrwürdige Musikerviertel Kabuls. Praktisch alle Meister der klassischen afghanischen Musik, Männer wie Mohammad Hossain Sarahang, Abdul Mohammad Hamahang oder Rahim Bakhsh, stammten von hier. Der 60-jährige Cheshti kennt Kharabat wie seine Westentasche. Kein Wunder, denn auch er gehört zu den Meistern seiner Zunft. Seit fast einem halben Jahrhundert spielt er die Tabla. Cheshti ist mit den zwei Trommeln praktisch aufgewachsen und gehörte zu den Schülern einer weiteren Legende aus Kharabat, Mohammad Hashem Cheshti, dessen Beinamen er aus Respekt vor seinem Meister angenommen hat. Heute sollte es eigentlich Asadullah Cheshti sein, der die nächste Generation der Tabla-Spieler Kharabats ausbildet. Doch seitdem die militant-islamistischen Taliban im August 2021 abermals die Macht im Land übernommen haben, wird weder ein Instrument gespielt noch ein Lied gesungen."

Weitere Artikel: Gregor Dotzauer besucht für den Tagesspiegel eine Probe des Komponisten Henry Threadgill, dessen neue Komposition "Simply Existin Surface" beim heute beginnenden Jazzfest Berlin uraufgeführt wird. Dazu passend spricht Maxi Broecking in der taz mit Steph Richards, die ebenfalls beim Jazzfest Berlin auftreten wird und "definitiv einen neuen Sound mit sensorischer Elektronik" verspricht. Arno Lücker blickt für VAN zurück auf seine langjährige Recherchereihe zu seiner Serie über Komponistinnen, die nun auch als Buch erschienen ist. Anna Schors recherchiert für VAN kuriose Nebeneinkünfte von Komponisten.

Besprochen werden das Jubiläumskonzert zu 100 Jahren Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (taz, hier zum Nachhören), der Auftakt der Mendelssohn-Festtage in Leipzig (Tsp) und eine Paramount-Doku über Aufstieg und Fall von Milli Vanilli (TA).

Außerdem bringt das Logbuch Suhrkamp die neue Folge von Thomas Meineckes "Clip//Schule ohne Worte", diesmal unter der Überschrift "Zehn Shellac-Singles, die ich dieser Tage in Austin erwarb":

Archiv: Musik

Literatur

Sollte Literatur politisch und engagiert sein oder dem Theater der Fantasie und des Weltrückzugs eine Bühne geben? Um diese Frage, um die sich schon die Mann-Brüder gebalgt haben, dreht sich Thea Dorns Dankesrede zum Julius-Campe-Preis, die die Zeit dokumentiert. Dorn versucht den Kuchen zu essen und ihn gleichzeitig zu behalten: Die ästhetisch-geistige Sphäre vor Indienstnahme schützen, aber umso energischer in der politischen auftreten! "Es ist Zeit, so klar und leidenschaftlich für Menschenrechte und Demokratie, für Vernunft und Zivilität Partei zu ergreifen wie Thomas Mann und die Existenzialisten im vergangenen Jahrhundert." Doch "der Kampf um Menschlichkeit, um das Humane muss in der gesellschaftlichen Welt ausgetragen werden. Irrationalität, Ressentiment und Hass lassen sich nicht mit 'Sensitivity-Lektoraten' bekämpfen. ... Bisweilen drängt sich mir der Verdacht auf, dass es Ausdruck objektiver Verzagtheit, ja hilfloses Symbolhandeln ist, wenn angesichts einer bedrohlicher und roher gewordenen Welt mit Eifer daran gearbeitet wird, wenigstens die Künste zum sensibilitätsgerechten 'safe space' umzubauen. Geben wir der Sphäre des Politischen, was des Politischen ist, und lassen wir dem eigentümlichen Nebenreich der Literatur, was der Literatur ist. Streiten wir für eine bessere, friedlichere, zivilere Welt, und bewahren wir uns die Literatur als einen Raum, in dem die Trauer, der Zorn und das Gelächter über die Unrettbarkeit der Welt ihren Platz haben."

Weitere Artikel: Um das Comicfestival in Lucca zeichnet sich ein Skandal ab: Nachdem einige Comickünstler ihre Teilnahme abgesagt hatten, weil die israelische Botschaft Schirmherrin des Festivals ist, haben nun ihrerseits die israelischen Comickünstler Tomer und Asaf Hanuka wegen dieser politischen Überformung des Festivals ihre Teilnahme daran abgesagt, meldet Matthias Rüb in der FAZ. Nora Zukker spricht im Tages-Anzeiger mit dem Schriftsteller Necati Öziri über dessen für den Deutschen Buchpreis nominierten Debütroman "Vatermal". Marc Reichwein schreibt in der Welt einen Nachruf auf den Germanisten Heinz Schlaffer.

Besprochen werden unter anderem Carmen-Francesca Bancius "Ilsebill salzt nach" (Tell), Susan Chois "Vertrauensübung" (Tsp), Andreas Pflügers Thriller "Wie Sterben geht" (Zeit), Paul Austers "Baumgartner" (Zeit) und Zsigmond Móriczs "Der glückliche Mensch" (FAZ). Außerdem veröffentlicht die Welt ihre besten Sachbücher des Monats. An der Spitzenposition: Saul Friedländers "Blick in den Abgrund".
Archiv: Literatur

Bühne

Szene aus "Le nozze di Figaro" an der Bayerischen Staatsoper. Foto: W. Hösl.

Ein Hauch von Haschisch weht SZ-Kritiker Helmut Mauró von der Bühne der Bayerischen Staatsoper entgegen. Das ist aber nicht der Grund, warum sich der Kritiker bei Evgeny Titovs Inszenierung von Mozarts "Le nozze die Figaro" herrlich amüsiert hat. Da ist zunächst einmal die Musik: "Stefano Montanari bringt das Orchester zu einer wahrlich eleganten Klangrede, ein bisschen klanghistorisch aufgeraut, aber nicht ruppig rechthaberisch. Das Ergebnis von Montanaris sichtbar leidenschaftlicher Anstrengung: ein authentischer Klang, eine Musik, die in sich glaubhaft ist und erst mal keiner Bebilderung und Texterzählung bedarf." Und dann ist die Inszenierung, die Titov zum Teil in einer ausladenden Hanfplantage spielen lässt, manchmal auch einfach lustig, freut sich Mauró: "Als Figaro die Räuberpistole seiner adeligen Herkunft auftischt, wird es Susanna zu viel. Und doch, das ist schon lustig, wenn sie rüberschaut zu dem jamaikanisch-britischen und keineswegs weißen Bassbariton Willard White und wieder zurück zu Figaro und ebenso ungläubig wie belustigt immer wieder nachhakt: Sua padre?" In der nmz ist Kritiker Wolf-Dieter Peter weniger angetan und beklagt Titovs "Holzhammer-Ästhetik", Trost spendeten ihm dafür die Solisten. Ähnlich sieht es Judith von Sternburg in der FR: ein bisschen "derb" findet sie das alles, lobt aber das "junge, starke Ensemble".

Weiteres: Tagesspiegel-Kritikerin Ute Büsing berichtet vom Theater-Festival "Kosovo Theatre Showcase" in Pristina.

Besprochen wird Claus Peymanns Inszenierung von Thomas Bernhards Stück "Minetti" am Residenztheater München (Zeit, FR).
Archiv: Bühne

Film

Billige Schadenfreude: Paul Dano in "Dumb Money"

Craig Gillespies "Dumb Money" erinnert an eine der kurioseren Geschichten im ersten Coronjahr, als Trolle, Finanz-Idioten und sehr viele Naivlinge auf die Videos von "Roaring Kitty" abgingen, im Zuge die an sich völlig wertlose Gamestop-Aktie gigantisch nach oben ging und der Aktienmarkt für eine kurze Zeit völlig Kopf stand, Außenseiter die große Kohle machten und alteingesessene Aktienfuchse geradezu geplündert wurden. Mit Paul Dano, Seth Rogen und Nick Offerman ist der Film hochkarätig besetzt. Darin "werden die Finanz-Protagonisten kümmer- und lächerlicher, je näher die Kamera an sie herantritt", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel. "Helden, wenn es sie denn in dieser Geschichte überhaupt gibt, sind neben Paul Danos naivem Aktien-Aktivisten Keith die vielen Privatanleger, die sich als Teil einer Revolution wähnen - und darum an ihren Gamestop-Anteilen festhalten, als der Kurs durch die Decke geht. Womit sie Leerverkäufer wie Plotkin und Griffin an den Rand des Ruins bringen. Die Schadenfreude ist in 'Dumb Money' billig zu haben." Für taz-Kritikerin Barbara Schweizerhof steht der Film in der Tradition der großen US-Filme übers große Geld und die große Gier. Toll findet Schweizerhof, wie genau die Kultur der Message Boards hier dargestellt wird - und "ganz nebenbei funktioniert 'Dumb Money' auch noch als eine der bislang besten Schilderungen der Corona-Epoche als solche. ... Der Film zeichnet ein erschreckend präzises Soziogramm davon nach, wer von Lockdown und Covid am stärksten betroffen war und wie sich die gesellschaftliche Ungleichheit währenddessen auf direkte Weise in die Gesichter schrieb."

Weitere Artikel: Thomas Abeltshauser spricht für den Freitag mit Justine Triet über deren in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnetes (und aktuell in der Zeit und bei uns besprochenes) Gerichtsdrama "Anatomie eines Falls" (mehr dazu bereits hier). Außerdem spricht Abeltshauser für die taz mit dem Regisseur Christos Nikou über dessen Science-Fiction-Liebeskomödie "Fingernails". Auf Zeit Online erinnert sich die Filmemacherin Doris Dörrie an ihre gemeinsame Arbeit mit dem verstorbenen Schauspieler Elmar Wepper (unser Resümee). Die Film-Community Letterboxd verkauft ihre Daten an die Filmindustrie, berichtet Mathis Raabe in der taz. Immer mehr Streamingdienste durchsetzen ihr Angebot mit Werbung und nähern sich damit dem (damals allerdings deutlich günstigeren...) Privatfernsehen der Neunziger an, berichtet Christian Meier in der Welt. Friedhöfe sind in Filmen selten friedlich, beobachtet Presse-Kritiker Andrey Arnold.

Besprochen werden Sudabeh Mortezais "Europa", der auf der Viennale den Spezialpreis der Jury gewonnen hat (Standard), die DVD-Ausgabe von Roman Nemecs "Die Höhle" (taz), die Netflix-Adaption von Anthony Doerrs Roman "Alles Licht, das wir nicht sehen" (Tsp) und die DVD-Ausgabe von Wolfgang Staudtes Hauptmann-Adaption "Rose Bernd" von 1957 ("In diesem unscheinbaren idyllischen Stück Deutschland wird ein solcher Grad von wunderschön gefilmter Unannehmlichkeit erreicht, der schon hier in Richtung des Kinos von Rainer Werner Fassbinder weist", staunt Robert Wagner auf critic.de).
Archiv: Film