Efeu - Die Kulturrundschau

Utopisches Rieseninstrument

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04.11.2023. Das Regime in Teheran spaltet die iranische Filmszene gleich doppelt, berichtet die FAZ. Außerdem blickt sie unter den Eindrücken der Mängellisten-Affäre skeptisch darauf, dass Ingo Schulze künftig Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung wird. Die taz gestattet einen Blick in die ukrainische Verlags- und Literaturszene. Der Standard ist sich unklar, ob er mit einer neuen Komposition von Georg Friedrich Haas in die Weiten des Kosmos fliegt oder maschinelle Urbanität auskostet. Und der Tagesspiegel findet mit Israel Hershbergs fotorealistischen Landschaften seltene Juwele der Malerei.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.11.2023 finden Sie hier

Film

Für "Bilder und Zeiten" der FAZ schreibt die iranische Schriftstellerin Shiva Rahbaran über den kürzlich ermordet aufgefundenen, iranischen Autorenfilmer Dariush Mehrjui, der in der Diaspora durchaus umstritten war, wie wir erfahren: Die Herausforderung, sich zwischen Zensur und künstlerischer Freiheit zu verorten, "war und ist extrem schwierig in einem System, das die Kunst nicht nur einschränkt, sondern auch als Propagandainstrument einsetzt. Dadurch wurden Künstler wie Mehrjui zur Zielscheibe für Verfechter des islamischen Regimes wie auch für dessen Gegner. Beide Gruppen kritisierten ihn und seine Kollegen, weil sie weiterhin in Iran blieben und arbeiteten. Er wurde gleichermaßen beschuldigt, ein Nonkonformist und ein Relativierer zu sein. Mehrjui sagte mir, das sei eine der Taktiken des Regimes, nämlich beide Empfindungen zu nutzen, um eine 'doppelte' Spaltung herbeizuführen - zwischen den Künstlern und ihren Werken wie auch zwischen ihnen und dem Publikum. Diese Spaltung ist die größte Tragödie, von der die Filmindustrie in Iran nach der Islamischen Revolution getroffen wurde. Und im Kontext der Frau-Leben-Freiheit-Proteste ist diese tragische Spaltung nicht nur schädlich für die Filmindustrie, sondern auch für die Einheit der Opposition gegen das islamische Regime."

Weitere Artikel: Im Filmdienst spricht der Regisseur Hans Steinbichler über seine Verfilmung von Robert Seethalers Roman "Ein ganzes Leben". Der Tages-Anzeiger hat Tobias Kniebes SZ-Gespräch mit Martin Scorsese online nachgereicht. Valerie Dirk blickt für den Standard auf die Karriere von Sandra Hüller, die aktuell in "Anatomie eines Falls" (unsere Kritik und gleich drei auf einmal bei Artechock) im Kino zu sehen ist. Nora Moschuering wirft für Artechock einen Blick auf die Dokumentarfilme im November. Christel Strobel resümiert für Artechock die zweite Ausgabe des DOXS-Ruhr-Festivals. Und critic.de meldet, dass es ab morgen mit dem zweiwöchigen Filmpodcast Framing an den Start geht - wir wünschen gutes Gelingen.

Besprochen werden die große Ausstellung zur deutschen Filmgeschichte in der Völklinger Hütte (Artechock), Craig Gillespies "Dumb Money" (Artechock, Presse, Standard, mehr dazu bereits hier), Khavns "Love Is a Dog from Hell" mit Lilith Stangenberg (FD, Artechock, mehr dazu bereits hier), Mathieu Vadepieds "Mein Sohn, der Soldat" (Tsp, Artechock), Hannes Hirschs Debütfilm "Drifter" (FAZ), Christian Werners Satire "Kommt ein Vogel geflogen" (Welt), Elizabeth Chai Vasarhelyis und Jimmy Chins Netflix-Film "Nyad" (FAZ), die Netflix-Serie "Alles Licht, das wir nicht sehen" (Zeit, Welt) und die Amazon-Serie "Mandy" (Presse).
Archiv: Film

Architektur

2014, Umbrella-Movement, Hongkong Protestcamp im Mong-Kok-Distrikt Foto: © Vicky Chan, 6. November 2014

Eine spannende und aktuelle Ausstellung sieht NZZ-Kritiker Andres Herzog im Deutschen Architekturmuseums (DAM): Die Schau "Protest/Architektur" befasst sich mit der materiellen Seite des politischen Widerstandes: "Es geht in erster Linie um das handfest Gebaute, nicht um die politischen Inhalte der Proteste. Also nicht ums Klima, sondern um den Klebstoff, mit dem sich die Aktivisten auf der Strasse befestigen." Von der Julirevolution 1830 über die Blockaden der Anti-Atomkraftbewegung in Deutschland sieht Herzog die unterschiedlichsten (Bau)formen des Protestes, dabei sind es oft die alltäglichsten Dinge, die große Wirkung entfalten: "Oft werden einfache Gegenstände zum Symbol einer Protestaktion. Etwa die Regenschirme, mit denen sich die Demonstranten in Hongkong vor den Überwachungskameras schützten. In Wien wurde ein pyramidenförmiges Gebäude zum ikonischen Zeichen der Bewegung, die ein Auengebiet vor der Zerstörung durch einen Autobahnzubringer retten will. Die wiedererkennbare Geometrie macht die Architektur zum idealen Träger der Protestbotschaft."

Die Architekturbiennale in Venedig legt ihren Fokus dieses Jahr auf afrikanische Länder: Wird auch Zeit, meint NZZ-Kritiker Hubertus Adam. Allerdings wurden sowohl Beginn und Ende der Biennale von Skandalen überschattet, wie Adam schildert: Zuerst waren da die Missbrauchsvorwürfe gegen den Architekten David Adjay (der daraufhin einen Teil seiner Mandate niederlegte). Jetzt wird bekannt, dass der französische Architekturkritiker Léopold Lambert, der auch an der Ausstellung teilnimmt, das Massaker der Hamas vom 7. Oktober in einem Facebook-Post verteidigte. Auch hier sieht man wieder, so Adam: "Antisemitismus ist nicht nur im postkolonialen Diskurs von Entwicklungs- und Schwellenländern - man denke an die Documenta-Macher des vergangenen Jahrs in Kassel -, sondern auch in akademischen und kulturellen Milieus der westlichen Welt ein nicht zu unterschätzendes Problem." Der Kritiker versucht sich aber trotz allem auf die Ausstellung zu konzentrieren und sieht tolle Beiträge: "Der Goldene Löwe für den besten Länderpavillon wurde in diesem Jahr an einen Beitrag der nichtwestlichen Welt verliehen. Das überrascht kaum. Mit einer eindrücklichen Installation - der Boden des von Carlo Scarpa entworfenen Länderpavillons ist mit Erde bedeckt - dekonstruiert Brasilien das Narrativ, dass die synthetische Hauptstadt Brasilia im Niemandsland gebaut worden sei. Vielmehr wurde nämlich die indigene Bevölkerung vertrieben - 'Terra', so der Titel der Schau, erinnert daran."
Archiv: Architektur

Bühne

In der FAZ versucht Sophie Klieeisen sich ein Bild von der Haltung deutscher Schauspielhäuser zu Israel und den Hamas-Angriffen zu machen und stellt fest: Es herrscht vor allem große Unsicherheit, nur wenige Häuser beziehen klar Position oder zeigen ein Zeichen mit der Israel-Flagge. Oft flüchtet man sich in allgemeine Phrasen, so Klieeisen: "Dass die Unsicherheit über die angemessene Reaktion groß ist, kann man auch daran ablesen, dass viele Häuser keine eigenen Stellungnahmen veröffentlichen. Dafür dient den Theatern in Dresden, Leipzig, Köln, Weimar, dem Hamburger Schauspielhaus oder dem Deutschen Theater Berlin das Statement des Bühnenvereins als Ausweichvorlage. Der letzte Satz des von Carsten Brosda verfassten Schreibens klingt wie der Wunsch nach einem von der Wirklichkeit ungestörten Weitermachen: 'Die Theater und Orchester wollen und werden auch weiterhin das Miteinander in Vielfalt und Freiheit in unserer Gesellschaft fördern.'"

Weiteres: Welt-Kritiker Jakob Hayner schaut sich die aktuelle Situation der deutschen Bühnen an, die sich langsam von der Pandemie erholen, aber sich auch neu ausrichten wollen. Die Schauspielerin und Regisseurin Emmy Werner wurde mit dem Nestroy-Theaterpreis ausgezeichnet, freut sich Uwe Mattheis in der taz.

Besprochen wird Rui Hortas Choreografie "Core" beim Tanzfestival Rhein-Main (FR).
Archiv: Bühne
Stichwörter: Israel, Hamas, Brosda, Carsten

Musik

Mit seiner Komposition "11.000 Saiten" umhüllt Georg Friedrich Haas das Publikum des Festivals Wien Modern buchstäblich mit Musik: 50 vor allem an den Rändern positionierte Klaviere ergeben hier ein "utopisches Rieseninstrument", berichtet Ljubisa Tosic im Standard aus diesem "akustischen Energiefeld, das die Eingehüllten emotional unmittelbar erfasst. Etwas mehr als 60 Minuten werden atmosphärisch dichte Strukturen durch den Raum gesendet, die von filigransten Einzelstatements bis hin zu kollektiven clusterartigen Glissandi reichen. Zwischen dieser Entfesselung des Klanges (...) ergeben sich immer wieder kleine Inseln des Innehaltens. Eine Qualität bei Haas trotz aller Komplexität: Das Sinnliche des Klanges animiert unentwegt zu Assoziationen. Geht es um unendliche Weite des Kosmos? Wird maschinelle Urbanität evoziert?"

Weitere Artikel: Für die taz besucht Jolinde Hüchtker die Rapperin Nashi44 in Berlin-Lichtenberg. Andreas Hartmann porträtiert im Tagesspiegel die Berliner Musikerin Mary Ocher. Jan Brachmann schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Dirigenten Juri Temirkanow. Im FAZ-Gespräch mit Gerald Felber blicken die Chorsänger Dagmar Wietschorke und Ingolf Horenburg auf 75 Jahre RIAS Kammerchor zurück.

Besprochen werden Till Lindemanns Soloalbum "Zunge" (SZ) sowie Jojo Mayers und Joshua Redmans Auftritt beim Festival Jazznojazz 2023 (NZZ).
Archiv: Musik

Kunst

Israel Hershberg: Aria Umbra I, 2003-2004, oil on linen. Foto: Galerie Plan B.

Im Tagesspiegel empfiehlt Dorothea Zwirner dringend, die rare Gelegenheit zu ergreifen, die Werke dieses "unzeitgemäß zeitlosen Malers" zu bewundern: der in Linz in einem "Displaced Persons"-Camp geborene und dann nach Israel emigrierte Künstler Israel Hershberg ist zwar in wichtigen Privatsammlungen, aber kaum in öffentlichen Ausstellungen zu sehen, verrät Zwirner. Für die Kritikerin ist es deshalb ein großes Glück, Hershbergs fotorealistische Malerei in einer Ausstellung in der Galerie Plan B in Berlin sehen zu können. Die Kritikerin kommt aus dem Staunen gar nicht heraus über "die unglaubliche Feinmalerei, die die Bilder wie von Innen leuchten lässt": "Sei es die getrocknete Sonnenblume auf einem Holztisch, die beiden Zitronen hinter der Glasflasche oder das skelettierte Chamäleon am Haken, seien es die silbrigen Sprotten in ihrer Pappschachtel oder die Zypressenspitzen vor blauem Himmel - sie alle werden zu berückenden Kleinoden zwischen Ikone und Konzept, die von der Kostbarkeit und Vergänglichkeit des Lebens zeugen. Stilistisch finden sich Anklänge an Renaissance-Malereien, doch der schonungslose Verismus eines männlichen Akts auf einer Liege erinnert auch an Philip Perlstein und das leere Wasserglas an Peter Dreher."

Weiteres: Hannes Hintermeier besucht für die FAS die Fotokünstlerin Verena von Gagern-Steidle, die zurückgezogen auf dem Land lebt. Tagesspiegel-Kritikerin Eva Karcher teilt Eindrücke von der Turiner Messe "Artissima", die ihr 30. Jubiläum feiert.

Besprochen werden die Ausstellung "Petromelancholia" im Brutus in Rotterdam (SZ), die Ausstellung "Dix und die Gegenwart" in den Deichtorhallen Hamburg (FAZ), die Ausstellung "Gertrude Stein und Pablo Picasso" im Musée du Luxembourg in Paris (FAS), die Ausstellung "Kleber und Falten" der Künstlerin Julia Lübbecke im Projektraum Neun Kelche in Berlin (tsp), "Küstenland" mit Fotografien von Fritz Schleifer in der Alfred Ehrhardt Stiftung (tsp), die Ausstellung "Geniale Frauen. Künstlerinnen und ihre Weggefährten" im Bucerius Kunst Forum Hamburg (tsp), die Ausstellung "Van Gogh entlang der Seine" Van Gogh Museum Amsterdam (tsp) und die Ausstellung des kanadischen Trios General Idea im Gropius Bau Berlin (tsp).
Archiv: Kunst

Literatur

Die Schriftstellerin Sophie Sumburane erzählt in der taz von ihrer Reise als Delegierte des PEN Berlin in die Ukraine. Unter anderem traf sie Oksana Guk vom Vivat Verlag in Charkiw, unweit der Front. "'Gerade jetzt, wo die Russen unsere Kultur bekämpfen, ist es umso wichtiger, so viel Literatur wie möglich von ukrainischen Autor*innen zu publizieren. Wir bei Vivat wollen ein ukrainisches Kulturgedächtnis anlegen.' Und viele der Veröffentlichungen sind Neudrucke, die wenigsten wurden im Krieg geschrieben. Auch aus einem sehr profanen Grund: 'Zahlreiche unserer Mitglieder haben sich freiwillig gemeldet. Sie sind in die Armee gegangen und kämpfen jetzt an der Front', sagt Tetjana Teren", die die PEN-Reise managt, "'Viele haben wir auch schon verloren.' ... 'Es ist ganz klar ein Krieg gegen die ukrainische Kultur. Gegen unsere Sprache, unsere Kultur, Literatur', sagt Olena Odynoka, stellvertretende Direktorin des Ukrainian Book Institute."

Ingo Schulze wird neuer Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Seit 1996 hatte kein Schriftsteller mehr diese Position. Das Vizepräsidium bilden künftig die Linguistin Rita Franceschini, die Schriftstellerin Olga Martynova und der Literaturkritiker Lothar Müller. FAZ-Kritikerin Sandra Kegel ist nicht völlig überzeugt von dieser Entscheidung, lieber wäre ihr eine Frau gewesen (die angesprochenen Kandidatinnen hätten wohl "abgewunken"). Und beim Blick auf Schulze und seinen Vizepräsidenten Müller wird ihr auch anders: "Die vertraute Nähe der beiden ließ sich erst jüngst ausmachen, als Müller mit Ingo Schulze nach dessen sogenannter Mängelliste-Affäre ein Interview führte, bei dem entschiedene Nachfragen unterblieben. Schulze hatte seine Beanstandungen am Debütroman 'Gittersee' seiner Verlagskollegin Charlotte Gneuß dem Verlagsleiter geschickt, aber auch der anonymisierten Weitergabe an die Jury des Deutschen Buchpreises zugestimmt - was ein grober Fehler war. Gerade deshalb muss Ingo Schulze sich jetzt als Akademiepräsident umso prägnanter in den Dienst von Autorinnen und Autoren stellen - nicht gegen sie."

Weitere Artikel: Die russische Schriftstellerin Natalja Kijutscharjowa lebt seit kurzem im deutschen Exil, trug sich mit dieser Entscheidung aus Sorge um ihre Sprache als Arbeitsinstrument allerdings schwer, wie sie in einem Essay für "Bilder und Zeiten" der FAZ darlegt: "Wie kann ich weggehen, wenn meine Sprache mein Beruf ist?" In einem Essay für das "Literarische Leben" der FAZ meditiert der Lyriker Jan Wagner über das Verhältnis zwischen Mensch, Tier und poetischer Sprache, "die uns die Annäherung an all die anderen Wesen auf dieser sonderbaren Erdkugel gestattet". Für "Bilder und Zeiten" der FAZ sprach Patrick Bahners mit dem Schriftsteller Richard Ford. Nadine A. Brügger erzählt in der NZZ von ihrem Besuch beim Schriftstellerpaar Julia Weber und Heinz Helle. Jan Küveler porträtiert in der WamS den Verleger Joachim Unseld. In der FAZ gratuliert Paul Ingendaay dem Germanisten Paul Michael Lützeler zum 80. Geburtstag. Georg Stefan Troller erinnert sich in der Literarischen Welt an seine Begegnung mit B. Traven.

Besprochen werden unter anderem Paul Austers "Baumgartner" (FR), A.L. Kennedys Essayband "Der Kern der Dinge" (Tsp), Hayao Miyazakis Manga "Shunas Reise" (FD), Jens Andersens Biografie über die Schriftstellerin Tove Ditlevsen (taz), Kate Zambrenos "Mutter (Ein Gemurmel)" (taz), Alain Mabanckous "Das Geschäft der Toten" (FAZ), Peter Handkes Erzählung "Die Ballade des letzten Gastes" (SZ) und Zadie Smiths "Betrug" (LitWelt).
Archiv: Literatur