Efeu - Die Kulturrundschau

Denn es ist ein Mensch

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25.11.2023. Nennt mich nicht postkolonial, sagt Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah der FR. Peter Stamm plädiert in seiner von der NZZ dokumentierten Poetikvorlesung für Gefühl statt für gedrechselte Sätze. Bastian Kraft inszeniert die "Buddenbrooks" an der Berliner Volkbühne als Fotoalbum, durch das die Nachtkritik angeregt blättert. Sie darf weiterhin kritisch über Adania Shiblis Roman "Eine Nebensache" berichten, meldet die taz in eigener Sache: Literaturkritik hat das Recht auf Zuspitzung, bescheinigt ihr ein Gericht. Und Zeit Online tanzt mit dem neuen Album von Take That durch den Regen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.11.2023 finden Sie hier

Literatur

Im FR-Gespräch mit Sylvia Staude erklärt der Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah, warum er das Label "postkoloniale Literatur" skeptisch betrachtet: "Wenn Sie also etwas postcolonial literature nennen, sagen Sie damit: Das sind Texte, von denen wir denken, dass sie etwas gemeinsam haben." Aber "das sind Begriffe für einen Studienplan. Das sind Arten, Texte zu organisieren, um sie zu lehren. Ich möchte auch nicht Nationalitäten verwenden, sagen, ich bin ein argentinischer Autor oder etwas anderes." Das "ist eine Art, die Dinge zu vereinfachen ... Ich mag es nicht, wie Begriffe auf eine nationalistische Art und Weise gebraucht werden. Auch nicht 'postcolonial', denn es sagt: Leute aus einer Welt, die kolonisiert wurde. Aber es ist nicht so, dass postkoloniale Autoren alle gleich schreiben. Also wehre ich mich gegen diese Etiketten, britisch, afrikanisch, postkolonial - das ist nicht, was ich mich selbst nennen würde. Ich würde gern dabei bleiben, nur zu sagen, dass ich ein Schriftsteller aus Sansibar bin, der in UK lebt."

Jony Eisenberg meldet in der taz, dass die Schriftstellerin Adania Shibli keinen Erfolg damit hatte, der taz per Gericht deren kritische Berichterstattung zu ihrem Roman "Eine Nebensache" zu untersagen. Das Gericht sieht in dem beanstandeten Text eine "zulässige Meinungsäußerung. Literaturkritik dürfe zuspitzend werten, es könne über die Richtigkeit der Beurteilung auch kein Beweis erhoben werden. Zudem befasse sich der Artikel mit dem Inhalt des Buches, nicht mit den Überzeugungen der Autorin, sodass nicht von der Behauptung einer 'inneren Tatsache' auszugehen sei."

In seinen Zürcher Poetikvorlesungen, die die NZZ auszugsweise dokumentiert, plädiert der Schriftsteller Peter Stamm für das Gefühl, die Lebenserfahrung als Antriebsmotor und Ziel jeder Literatur und nicht den gedrechselten Satz, der nur für sich steht: "Wenn ich an Bücher denke, die mir wichtig waren, die mich tief berührt, vielleicht sogar mein Leben verändert haben, Bücher, die ich auch nach Jahrzehnten nicht vergessen habe, dann denke ich selten an die Schönheit der Sprache, sondern viel eher an die Tiefe der Gedanken und Gefühle, an Szenen, die so lebendig waren, dass es mir scheint, ich hätte sie selbst erlebt, an Aufrichtigkeit, Mitgefühl, Verständnis, Haltung, Kraft. Schreiben lernen heißt, die Sprache beherrschen lernen, aber die Sprache ist nur Mittel zum Zweck. Die Sprache zu beherrschen, heißt, mit Sprache das ausdrücken zu können, was die Literatur ausmacht, das Außersprachliche. Alles andere ist Kalligrafie."

Die FAZ dokumentiert im "Literarischen Leben" Christoph Ransmayrs unter den Eindrücken des Todes seines Bruders geschriebene, mitunter ziemlich metaphysisch über das Verhältnis von Trauer und Literatur nachdenkende Dankesrede zur Auszeichnung mit dem Park-Kyong-ni-Preis: "Die Verwandlung von Dingen und Wesen in Sprache hebt alles Verwandelte nicht nur über die Zeit, sondern bewahrt darüber hinaus alles, was an der bloßen physischen Existenz jemals sichtbar oder erlebbar war."

Außerdem: Kai Sina liest für "Bilder und Zeiten" der FAZ Thomas Manns Demokratie-Reden im Lichte der aktuellen Eskalation in Nahost. Kathleen Hildebrand und Cornelius Pollmer holen die Jugendromane von Robert Habeck und Andrea Paluch erneut aus dem Buchregal. "Bilder und Zeiten" der FAZ dokumentiert Wolfgang Matz Laudatio auf den mit dem Malkowski-Preis ausgezeichneten Schriftsteller Norbert Scheuer. Margarete Affenzeller liest für den Standard Cornelia Funks Fantasy-Bestseller. Andreas Rosenfelder liest für die Welt Walter Benjamins Berichte seiner Haschisch-Experimente nach. Rüdiger Görner erinnert in "Bilder und Zeiten" an den im 17. Jahrhundert gestorbenen Dichter Georg Rodolf Weckherlin, um dessen Popularität es wohl nie sonderlich gut bestellt war ("Wer kennt ihn noch, wer kannte ihn je?").

Besprochen werden unter anderem Daniel Kehlmanns "Lichtspiel" (FD), Barbara Yelins Comicbiografie "Emmie Arbel" (Tsp), Sergej Lebedews "Titan oder die Gespenster der Vergangenheit" (taz), die Hörspieladaption des BR von Karen Duwes Roman "Sisi" (taz), Marica Bodrožićs "Mystische Fauna" (Freitag), Pirkko Saisios "Das rote Buch der Abschiede" (FAS) und Hilary Mantels Erzählungsband "Sprechen lernen" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.

Außerdem bringt die FAZ heute eine Literaturbeilage, die wir in den kommenden Tagen an dieser Stelle auswerten.
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Kunst

Es ist kompliziert: Im FAS-Interview mit Niklas Maak spricht Documenta-Geschäftsführer Andreas Hoffmann über die Schwierigkeit, Kunstfreiheit zu gewähren, eine klare Haltung gegen Antisemitismus und "jede Form von gruppenspezifischer Menschenfeindlichkeit" zu finden und gleichzeitig den Standort Kassel nicht unattraktiv für die internationale Kunstszene werden zu lassen: "Wir brauchen eine ganz klare Distanzierung von Antisemitismus, und natürlich brauchen wir auch weiterhin die Documenta in Kassel als einen Ort, an dem die globale Kunst der ganzen Welt ihren Platz findet. Nicole Deitelhoff hat gesagt, dass wir einer Position begegnen müssen, die sagt, 'hört mal auf mit eurer deutschen Besessenheit mit dem Antisemitismus', weil ansonsten vielleicht die internationale Kunstszene keine Lust mehr hat, nach Kassel zu kommen. Wir müssen aber auch sicherstellen, dass wir nicht in einen Kontext von Vorabzensur kommen. In Möllers' Gutachten wird sehr konkret eine Unterscheidung vorgeschlagen zwischen der künstlerischen Leitung, die die Kunstfreiheit genießt, und der Geschäftsführung, die eben Teil der staatlichen Kultur- und Kunstverwaltung ist und die damit auch den Schutz vor Diskriminierung zu ihrem Pflichtenkatalog zählt und in Fällen, wo, wie im vergangenen Jahr bei Taring Padi, antisemitische Codes auftauchen, unmittelbar in den Dialog geht."

Das Folkwang-Museum Essen beendete die Kooperation mit dem Kurator Anaïs Duplan, nachdem dieser auf Instagram zur Unterstützung der BDS-Bewegung aufrief (unser Resümee). Duplan schreckte als Gegenreaktion nicht davor zurück, persönliche Daten des Direktors Peter Gorschlüter zu veröffentlichen, berichtet Alexander Menden in der SZ: "Das Angebot zu einem persönlichen Gespräch habe Duplan nicht genutzt, so Gorschlüter. In der Folge beendete Folkwang die Zusammenarbeit mit dem Kurator. Dieser antwortete mit einem Gegenboykott und zog alle Exponate aus der Ausstellung zurück. Zudem veröffentlichte er die Korrespondenz mit Gorschlüter und dessen Kontaktdaten im Internet. Darüber, welche Folgen dieser Schritt Duplans im Einzelnen für ihn und die Folkwang-Mitarbeiter hatte, möchte der Direktor nicht öffentlich sprechen." Mittlerweile habe Duplan in den sozialen Medien Beiträge geteilt, die sich durchaus kritisch mit dem BDS auseinandersetzen.

Weiteres: Lorenz Maroldt unterhält sich für den Tagesspiegel mit dem Berliner Plein-Air Maler Christopher Lehmpfuhl. Stefan Trinks empfiehlt in der FAZ Philip Hoares Buch "Albrecht Dürer und der Wal" über das Leben des Malers.

Besprochen wird die Ausstellung "Van Gogh in Auvers-sur-Oise. Die letzten Monate" im Musée d'Orsay in Paris (FAZ).
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Film

Fritz Göttler porträtiert in der SZ die Schauspielerin Vanessa Kirby. Besprochen werden Milena Aboyans "Elaha" (Tsp), Emerald Fennells "Saltburn" (FAZ), Chris Bucks und Fawn Veerasunthorns Disney-Animationsfilm "Wish" (taz), die fünfte Staffel von "Fargo" (Zeit) sowie die letzte Staffel von "The Crown" (NZZ).
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Stichwörter: Fennell, Emerald

Architektur

Ausstellungsansicht Ideal und Form, mit Doppelstandbild der Prinzessinnen Luise und Friederike von Preußen, sog. Prinzessinnengruppe von Johann Gottfried Schadow, 1795, Friedrichswerderschen Kirche, 2023 © Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / David von Becker 

Die Verbindung von Historie und Poesie bewundert Bernhard Schulz im Tagesspiegel beim Gang durch die Friedrichswerdersche Kirche in Berlin: Hier "hat Karl-Friedrich Schinkel beides verwirklicht, indem er auf die von ihm hochgeschätzte Backsteingotik zurückgriff, gleichzeitig dem Bau auf handtuchschmalem Grundstück eine ganz eigene, so noch nicht dagewesene Form gab. Sie macht es möglich, den ursprünglichen Kirchenraum heute als Hülle eines Museums zu nutzen, für Skulptur, aber eben auch für den Baumeister selbst, den bedeutendsten, den das 19. Jahrhundert in Deutschland gekannt hat." Ihrem Erbauer widmet die Außenstelle der Alten Nationalgalerie nun eine Ausstellung, die dem Besucher historische Hintergründe erläutert, so Schulz, der nun weiß, dass König Friedrich Wilhelm III. für Schinkels Geschmack ein wenig zu knausrig war: "Er war es auch, der Schinkel das Vorhaben untersagte, die Emporen in Gusseisen auszuführen, und sie stattdessen in herkömmlichem Holz ausführen ließ. Gusseisen war zur Bauzeit, zwischen dem Wettbewerbsgewinn 1824 und der Fertigstellung 1830, in Preußen ein kostbares Material und wurde vorrangig für militärische Zwecke produziert."
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Bühne

Buddenbrooks - Pujan Sadri, Liliane Amuat; Foto: Sandra Then.


Eine "Einstiegsdroge" für alle, die bisher die Lektüre von Thomas Manns monumentalem Familienepos "Die Buddenbrooks" scheuten , sieht Nachtkritiker Tobias Hell in Bastian Krafts Adaption für das Münchner Residenztheater. Ein historisches Setting gibt es hier nicht, merkt Hell an, aber das tut dieser dichten und unterhaltsamen Inszenierung keinen Abbruch:"Stattdessen erzählt Kraft eine zeitlich nicht näher verortete und gerade dadurch überraschend zeitgemäß wirkende Geschichte über die Konflikte zwischen den Generationen und die Entscheidung zwischen Pflichterfüllung und persönlichen Gefühlen." Die Bühne wird dementsprechend auch zum die Zeiten überdauernden Familienalbum, in dem die Abgelichteten allerdings nicht brav in ihren Fotos verweilen wollen, freut sich Kraft: "Peter Baur hat für das intime Ambiente des golden verschnörkelte Cuvilliéstheaters einen gleichermaßen nüchternen wie wandelbaren Bühnenraum entworfen, der von rund zwei Dutzend Bilderrahmen dominiert wird, auf denen Video-Designerin Sophie Lux vielsagende Portraits der Familie auftauchen lässt. Mit trügerischer Idylle inszenierte Schnappschüsse, die hin und wieder sogar zum Leben erwachen, um sich mit fordernden Blicken ins Geschehen zu mischen." In der SZ kann Yvonne Poppek den Enthusiasmus nicht so ganz teilen und findet Inszenierung wie Figuren etwas flach, wie Fotos eben. Eine Ausnahme ist für sie Michael Wächter, der den Thomas gibt: "Wächter kommt auch mit zwei Sätzen aus, um eine Figur zu entwerfen, Betonung, Pause, Geste - präzise setzt er die Mittel ein, explodiert in der einen Sekunde, platziert in der anderen nur ätzend das Wort 'so'."

Weiteres: In Bilder und Zeiten der FAZ liest Gerhard Stadelmeier noch einmal Lessings "Nathan der Weise" und kann nur feststellen, wie aktuell dessen humanistische Botschaft immer noch ist: "Man stelle sich vor, man schriebe den 7. Oktober 2023 und einer der muslimischen Palästinenser, die in Gestalt der Hamas-Terroristen über Juden herfallen und 1200 von ihnen töten, schänden, vergewaltigen, massakrieren, einer nur von ihnen fände ein Baby vor, das er nun, obwohl es zu einer anderen, von ihm abgrundtief gehassten Ethnie, Rasse, Religion, was auch immer, gehört, eben nicht zerstückelt und es den Video-Handys zum triumphalen Bilderfraß vorwirft. Und dieser eine, 'denn gnug, es ist ein Mensch', verschonte das Baby und verschonte die anderen auch, die da tanzten, tranken, rauchten, sangen, Musik hörten und einfach nur leben wollten. Dieser eine wenigstens könnte sich einreihen in die stummen 'allerseitigen Umarmungen' am Ende des Dramatischen Gedichts."

Besprochen werden Abel Meirhaeghes Inszenierung "Death Drive" an der Berliner Volkbühne (eine "skurrile Schöpfungsgeschichte", die sich laut Nachtkritikerin Simon Kaempf trotz vieler guter Einfälle "nicht zu Höhen aufschwingen vermag", Christine Wahl schildert die Aufführung im Tagesspiegel als "naiven Spaß" fühlt sich aber trotzdem gut unterhalten.) und Boris Charmatz Tanzstück "Club Amour" im Tanztheater Wuppertal (FAZ) und Karin Baiers Inszenierung von Roland Schimmelpfennigs fünfteiligem Theaterstück "Anthropolis" am Deutschen Schauspielhaus Hamburg (Welt am Sonntag).

Archiv: Bühne

Musik

Die Mitglieder der Boyband Take That sind mittlerweile auch schon über 50. Mit "This Life" melden sie sich mit einem "so friedlichen und umarmenden Album" zurück, "dass Menschen, die einst gegen Take-That-Fans gemobbt haben, nun gar nicht mehr anders können, als sich demütig um Wiedergutmachung zu bemühen", schreibt Laura Ewert auf Zeit Online und will gar zu manchen Liedern "mit Schirm durch den Regen tanzen. Das macht zum Beispiel die Carpe-diem-Hymne 'This Life' aus. Barlows Klavier klingt darin wie aus der Sesamstraße, und ein Chor wie aus der Margarinewerbung verkündet, dass dieses Leben kein Bett aus Rosen sei, dass es alles von uns fordern und uns keine zweiten Chancen geben werde. Aber! Gerade deswegen müsse man dieses Leben eben auch zu seinem eigenen machen und an den morgigen Tag glauben, der einem alle Wünsche erfüllen könnte. Genial! Ein Lied wie eine Fleecedecke, hält warm und lässt einem die Haare zu Berge stehen."



Außerdem: Für "Bilder und Zeiten" der FAZ versenkt sich Andreas Mayer in Leben und Werk (sowie deren Ausdeutung) von Maria Callas. Alina Komorek gratuliert in der taz dem für die deutsche Punkszene einst ziemlich wichtigen Kulturzentrum "die börse" in Wuppertal zum 50-jährigen Bestehen. In der SZ gratuliert Martin Zips Randy Newman zum 80. Geburtstag. Besprochen werden André 3000s Comeback-Album "New Blue Sun" (Tsp, mehr dazu bereits hier und dort) und Sufjan Stevens' neues Album "Javelin" (FR).
Archiv: Musik
Stichwörter: Take That, Pop