Efeu - Die Kulturrundschau

Das imperiale Raunen

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04.12.2023. Die NZZ entdeckt im Museo d'Arte in Mendrisio Roger de la Fresnaye als Dandy unter den Kubisten. Die FAZ besucht Übersetzerinnen russischer Literatur, denen seit der russischen Invasion in der Ukraine die Existenzgrundlage wegbricht. Außerdem sieht sie mit Stephanie Mohrs Inszenierung des "Himbeerpflückers" eine vor Bosheit triefende Komödie in Wien. Die deutschen Produzenten schlagen Alarm: Immer mehr TV-Sender und Auftraggeber ziehen sich aus der deutschen Produktion zurück, sagt Branchensprecher Björn Böhning der SZ. Und die Feuilletons sitzen mit einem jubelnden Kinopublikum im neuen Werbefilm von Beyoncé.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.12.2023 finden Sie hier

Kunst

Roger de La Fresnaye, The Conquest of the Air (La Conquête de l'Air), 1913. Oil on canvas, 235.9 x 195.6 cm, Museum of Modern Art, New York.
NZZ-Kritikerin Uta Appel Tallone entdeckt im Museo d'Arte in Mendrisio die Kunst eines "singulären Exoten": während Picasso und Konsorten in Paris das Bohème-Leben zelebrierten, trat der "Salonkubist" Roger de la Fresnaye als nobler Dandy "mit akkurat gefaltetem Einstecktuch, einem Stock mit Elfenbeinknauf und seinem in melancholischem Gestus zurückgekämmten silbergrauen Haar auf", weiß die Kritikerin zu berichten. Fresnaye gehörte damals zu den bekanntesten Malern, heute kennt ihn kaum jemand mehr, bedauert Appel Tallone und begeistert sich um so mehr für diesen Künstler, der eine ganz eigene Weise fand, sich mit dem Kubismus auseinderzusetzen: "Nicht die Aufgabe der Perspektive, die Vielansichtigkeit oder das Auseinanderbrechen der Formen interessierten den Künstler primär. Er war auf der Suche nach Ausgewogenheit in der Komposition, nach Delikatesse in der Farbgebung, nach Harmonie im Ganzen. Der Kunsthistoriker Federico De Melis verweist in seinem Katalog-Essay auf das dekorative Element in den Werken La Fresnayes. So ordnen sich im Stillleben 'Diabolo' (1913) die auf ihre geometrischen Formen reduzierten Gegenstände - Papierrolle und Bögen, eine runde schwarze Platte, ein brauner Winkelmesser, ein schwarz-weisser Diabolo (Jonglierelement) - zu einer ausgewogenen und dennoch spannungsvollen Komposition."

Weiteres: Jörg Häntzschel resümiert in der SZ die Schwierigkeiten, denen Erben bei der Rückforderung von NS-Raubkunst in Deutschland begegnen: "Deutschland macht es den Nachfahren der beraubten Sammler so schwer wie nur irgend möglich, die Kunst, die ihren Familien gehörte, zurückzubekommen. Nach allem Unheil, das Deutschland ihnen angetan hat, demütigt es sie erneut, indem es sie zu Bittstellern macht und ihnen jahrelange juristische Kämpfe auferlegt."

Besprochen werden die Ausstellungen "El espejo perdido: Judíos y Conversos en la España Medieval" im Prado in Madrid (FAZ), "Discover Liotard & the Lavergne Family Breakfast" in der National Gallery, London (FAZ) und "Reincarnation of Shadows" von Thao Nguyen Phan im HangarBicocca in Mailand (Tsp).
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Literatur

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Lennart Laberenz hat für die FAZ mit Christiane Körner, Maria Rajer und Rosemarie Tietze drei auf Russisch spezialisierte Übersetzerinnen getroffen, die allesamt gerade durch ein Tal der Tränen gehen, wenn ihnen vom Krieg in der Ukraine nicht gar die Existenzgrundlage genommen und das Lebenswerk zerstört wurde. Seit Kriegsbeginn "fragt sich Maria Rajer noch mehr, welche Literatur es gerade braucht. Bei Oxna Wassjakina bin ich mir sicher, ihre drei Romane sind unglaublich wichtig. Sie zeigen eine Welt, die man von hier sonst nicht sehen könnte. Wenn man bei Verlagen nachfragt, wie es mit der russischsprachigen Literatur so läuft, kann man am Telefon spüren, wie Lektoren und Leiterinnen ein Schmerz über das Gesicht zuckt. ... Ein bildungsbürgerliches Fundament ist verloren, die Bereitschaft, sich literarisch auf Unbekanntes einzulassen, sei eine rare Pflanze. Zusammenhänge, die eigenwillig oder sprachlich komplex daherkämen: schwierig zu verkaufen. Außerdem müsste man Klassiker neu durchschauen, den Antimodernismus, das imperiale Raunen herausarbeiten. Gerade lasse das Interesse an ukrainischer Prosa nach, Romane aus Osteuropa, die gesellschaftliche Verwerfungen durchmessen, verkauften sich mau. 'Die Wunde': keine 1800 verkauften Exemplare. Verlagsmenschen rätseln ausführlich über Leseerwartung und Leseinteressen und Überraschungen: Liegt es an der popkulturellen Verbindung zu Anime und Manga, oder warum laufen japanische Romane wie geschnitten Brot? Russische Klassiker lägen dagegen wie Steine in Regalen."

Außerdem: Im Perlentaucher erzählt Marie Luise Knott von ihrer Begegnung mit der uigurischen Lyrik. Tomasz Kurianowicz fasst in der Berliner Zeitung eine Facebook-Diskussion auf dem Profil des Schriftstellers Stephan Wackwitz zusammen, für den der noch junge PEN Berlin seit dem 7. Oktober eine zu BDS-nahe Position einnehme, was wiederum Deniz Yücel so nicht stehen lassen kann. Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch. Der Schriftsteller Hans Platzgumer schreibt im Standard, dass er angesichts der Krisen in der Welt nicht weinen kann, seine Tränen allerdings auch nicht hilfreich wären. In den "Actionszenen der Weltlieratur" erinnert Gisela Trahms daran, wie die Schriftstellerin Clarice Lispector 1968 in Brasilien am "Marsch der Hunderttausend" teilnahm. Angesichts des Schneechaos in Süddeutschland wirft Ursula Scheer für die FAZ einen schnellen Blick darauf, wie in der Literaturgeschichte über Schnee geschrieben wurde. Die Literaturredaktion des Deutschlandradios kürt die besten deutschsprachigen Romane des Jahres. Außerdem gibt die FAZ Krimitipps zum Jahresende.

Besprochen werden Juri Andruchowytschs Essayband "Der Preis unserer Freiheit" (Standard), Pirkko Saisios "Das rote Buch der Abschiede" (Zeit Online), Hans Grunerts Bildband "Was übrig bleibt" über den Nachlass von Günter Grass (SZ), Bertrand Badious Bildbiografie über Paul Celan (taz), Laurent Mauvigniers "Geschichten der Nacht" (FAZ) und die Tolkien-Ausstellung in der Galleria Nazionale d'Arte Moderna e Contemporanea in Rom (taz).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Marleen Stoessel über Bertolt Brechts "Moderne Legende":

"Als der Abend übers Schlachtfeld wehte
Waren die Feinde geschlagen.
Klingend die Telegraphendrähte ..."
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Musik

Die Feuilletons besprechen den Konzert-Dokumentarfilm "Renaissance: A Film by Beyoncé". Der Werbefilm in eigener Sache (Regie, Drehbuch, Produktion, Thema: Beyoncé) gestattet den Blick auf offenbar sehr interessante Details, wie Victor Sattlers Besprechung auf ZeitOnline zu entnehmen ist: "Bei einem Konzert im August zum Beispiel gab es einen zehnminütigen Stromausfall, das Publikum keuchte vor Schreck. Statt gemeinsam mit den Konzertbesuchern in Dunkelheit und Stille ausharren zu müssen, darf das Filmpublikum hinter der Bühne bei Beyoncé sein und ihr beim Lautnachdenken zusehen." Das färbt auch aufs Kinopublikum ab: Da wollen alle "genauso frech und individuell sein wie Beyoncé".

Hin und weg ist SZ-Kritikerin Aurelie von Blazekovic: "Beyoncé feiert eine offensive weibliche Körperlichkeit, die - ja wirklich - nichts mit dem männlichen Blick zu tun hat. Sie steigt wie bei der Geburt der Venus aus einer Muschel, sie ruft 'Where are my virgins', sie ist für 'bad bitches' da, für Twerkende, für Divas, für Verletzte und Betrogene, für elfjährige Mädchen." Auch Andreas Busche vom Tagesspiegel ließ sich mitunter mitreißen: "Der Gegenschuss auf die Fans - und daran besteht nach 'Renaissance' kein Zweifel: Beyoncé hat von allen Popstars ihrer Größenordnung die schönsten, queersten, flamboyantesten Fans - entbehrt natürlich nicht eines gewissen Narzissmus. Die Begeisterung in den Gesichter der 'Beyhive'-Mitglieder, die quasi-religiöse Ekstase, die Epiphanie im Angesicht ihrer Heldin hat auch etwas vom Blick in einen Spiegel: Beyoncé erkennt ihr eigene Größe in den Reaktionen der Fans. Gleichzeitig sind die in 'Renaissance' tatsächlich ein wichtiger Teil der Show, die eben einen 'Safe Space' darstellt." Für den man sich die teuren Tickets allerdings auch erst einmal leisten können muss.

Außerdem: Nachdem Russland die queere Community als "extremistisch" eingestuft hat, wurden entsprechende Clubs von der Polizei durchsucht, meldet Inna Hartwich in der taz. Besprochen werden ein Konzert von Jakub Józef Orliński in Berlin (taz), die Aufführung von William Kentridges neuem Animationsfilm "Oh to Believe in Another World" zu einem Schostakowitsch-Konzert des Luzerner Sinfonieorchesters (Standard, mehr dazu hier), ein Auftritt von Sarah Connor in Berlin (BLZ) und Peter Gabriels neues Album "i/o" (Welt). Außerdem verweist die Presse auf einen neuen Song von Ja Panik:

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Stichwörter: Beyonce, Queer, Kentridge, William

Architektur

Nikolaus Bernau besucht für die FAZ eine internationale Konferenz im Staatlichen Kunstmuseum von Taschkent. Die Bauten der usbekischen Hauptstadt aus der Sowjetzeit sollen unter dem Titel "Tashkent modernism" als Unesco-Weltkulturerbe vorgeschlagen werden. Einige Fragen bleiben dabei offen: "Über alle Technik hinaus kommt die soziale Frage: Wie kann man die Geschichte eines ausdrücklich kollektivistisch angelegten Baus wie etwa des Zhemchug-Turms auch im Zeitalter individuellen Wohnungsbesitzes erhalten? Er wurde als eine Art modernes Mahalla-Viertel gedacht: Die Wohnungen sind hier allerdings nicht horizontal um Gassen angelegt, sondern vertikal um einen gemeinsamen, dreigeschossigen Lufthof. Doch auf die Frage, ob dieses Modell von 1980, in dem Egalität, sozialer Zusammenhalt, Tradition und Modernismus zusammenkommen sollten, auch funktioniert habe, wird trocken geantwortet: nein, nie. Die Bewohner haben sofort angefangen, sich die Balkone als weiteren Wohnraum auszubauen, und die Hofterrassen mit Pflanzen so zugestellt, dass sie einen - immerhin reizvollen - Garten erhielten. Wie in jenen Hofhäusern, die für die Taschkenter Moderne weichen mussten. Sind diese Bewohner nun in das Welterbe-Projekt eingebunden? Bisher nicht."
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Film

Der deutsche Fictionboom ist auch schon wieder vorbei, schreibt Lisa Priller-Gebhardt auf der Medienseite der SZ: Reihenweise Projekte werden eingestellt, manche Streamer stellen ihre deutsche Produktion gar völlig ein. "Aktuell werden die Budgets der Produktionen seitens der Auftraggeber massiv gesenkt", sagt ihr gegenüber Björn Böhning, Geschätsführer der "Allianz Deutscher Produzenten" und führt weiter aus: "Das zeigt sich besonders im Kinofilm, wo die Produktionsbudgets im Vergleich zum Vorpandemieniveau um ein Viertel zurückgingen. Gleichzeitig sind für die Produzenten die Kosten deutlich angestiegen, und zwar um fünfzehn Prozent über die letzten drei Jahre. Unterdessen ziehen sich die Sender auch noch sehr stark aus den Kino-Koproduktionen zurück. ... Es gibt damit deutlich weniger Filme, in denen deutsche Geschichten erzählt werden. Das Erzählformat Kinofilm, das frei und unformatiert immer wieder Neues und Überraschendes wagt, ist akut gefährdet."

Besprochen werden Chris Krikellis' "Souls of a River" über Europas südostliche Grenze am Fluss Evros (Standard) sowie die Serien "Die verlorenen Blumen der Alice Hart" mit Sigourney Weaver (Jungle World) und "The Curse" (Zeit).
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Bühne

Szene aus "Der Himbeerpflücker" im Theater in der Josefstadt in Wien. Foto: Theater in der Josefstadt.

Einen "vor Boshaftigkeit triefenden" Abend hat Martin Lhotkzy für die FAZ im Wiener Theater in der Josefstadt gesehen. Fritz Hochwälders Komödie "Der Himbeerpflücker" spielt in den sechziger Jahren im fiktiven Ort Bad Brauning (zu Recht denkt man dabei an Braunau am Inn, verrät Lhotzky). Ein Fremder taucht auf, angeblich ein ortsbekannter brutaler SS-Scherge - was den Dorfbewohnern aber keine Probleme bereitet, hat doch jeder im Ort von dessen Nachlass, bestehend aus "zwei Koffern voller Zahngold aus dem Konzentrationslager, in dem er stationiert war", profitiert, resümiert der Kritiker. Der Humor ist hier so rabenschwarz, dass man es in dieser Inszenierung von Stephanie Mohr vor allem dem großartigen Ensemble zu verdanken hat, dass man sich trotzdem manchmal traut zu lachen, lobt Lhotzky: "Günter Franzmeier verleiht dem Herrn Bürgermeister weniger Würde als vielmehr Schlitzohrigkeit und boshafte Arroganz. Wenn er sich vor dem vermeintlichen Massenmörder verbeugt, möchte man meinen, er habe wirklich kein Rückgrat. Und wenn er seinem Töchterlein - Paula Nocker verkörpert in ihrem kessen Dirndlkleid (Kostüme: Nini von Selzam) und der überaus üppigen roten Perücke die von sich selbst überzeugte Jugend der Sechziger tadellos - zuredet, sich doch mit dem "Himbeerpflücker" zu … 'treffen', traut man ihm einfach alles zu."

Weiteres: Für die Bayreuther Festspiele wurde ein rigoroser Sparplan verabschiedet, meldet die SZ mit dpa. Der Wirtschaftsplan wurde unter anderem vom Deutschen Musikrat heftig kritisiert.

Besprochen werden Anna Bergmanns Inszenierung von "Miss Golden Dreams" nach Joyce Carol Oates' Roman "Blond" am Staatstheater Karlsruhe (taz, nachtkritik), Toshiki Okadas "No Horizon" am Thalia Theater Hamburg (nachtkritik), Pia Richters Inszenierung von Jelineks "Das Licht im Kasten" am Landestheater Tübingen (nachtkritik), Alireza Daryanavards und Mahsa Ghafaris "Chronik der Revolution" am Berliner Ensemble (nachtkritik), Theresa Thomasbergers Inszenierung von Klaus Theweleits "Männerfantasien" am Deutschen Theater Berlin (taz), Pinar Karabuluts Adaption von Kafkas "Der Prozess" am Schauspiel Köln (nachtkritik), Axel Ranischs Inszenierung von Paul Zachers Stück "Mutti, was machst du da?" am Berliner Ensemble (nachtkritik, Tsp), die Adaption von Jurij Brězans Roman "Die schwarze Mühle" durch Showcase Beat Le Mot auf Kampnagel Hamburg (nachtkritik), Lilja Rupprechts Inszenierung von Elfriede Jelineks "Sonne/Luft" Schauspiel Frankfurt (FR), Stephan Kimmigs Adaption von Michel Friedmans biografischem Langgedicht "Fremd" am Schauspiel Hannover (SZ) und die Performance "Über das Unbehagen zu Wohnen" vom Kollektiv andpartnersincrime im Schweizer 5 (FR).
Archiv: Bühne