Efeu - Die Kulturrundschau

Spaßprogramm für Eingeweihte

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.12.2023. Die FAZ blickt mit Fotografien von Yoichi Okamoto ganz neu auf das Wien der Nachkriegszeit. Artechock sieht mit der Einsetzung von Tricia Tuttle einen fortgesetzten "Sinkflug der Berlinale." Weiterhin Krisenstimmung im PEN Berlin: Die Welt befürchtet eine baldige Bruchlandung. Monopol macht seinem Ärger über die Dominanz der alten weißen Männer im Kunstbetrieb Luft: Eingeplant werde nur, was Erfolg verspricht.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.12.2023 finden Sie hier

Kunst

Yoichi Okamoto: Kriegsheimkehrer. Bildrechte: ÖNB.


Der "unlängst restaurierte Prunksaal der Nationalbibliothek" Wiens ist nicht der richtige Ort für die Fotografien des Amerikaners Yoichi Okamoto, die hier unter dem Titel "Bild Macht Politik. Yoichi Okamoto - Ikone der Nachkriegsfotografie" ausgestellt sind, ärgert sich Hannes Hintermeier in der FAZ. Der opulente Saal überstrahle fast die Auswahl aus dem aus 22.000 Negativen bestehenden Nachlass, den die ÖNB 2019 vom Sohn des Fotografen übernommen hat. Wer dann aber doch genau hinsieht, kann das Nachkriegswien aus der Perspektive eines asiatisch-amerikanischen Soldaten kennenlernen: Immer sei ihm die Fotografie "schöpferisches Mittel zur Verständigung, die eine Verpflichtung zur Wahrheit in sich trägt. Ein Berufsethos, das in fake-geplagten Zeiten tröstlich wirkt."

Für monopol ärgert sich Saskia Trebitz darüber, dass Künstler wie Gerhard Richter, Anselm Kiefer und Georg Baselitz so eine unglaubliche Marktdominanz halten, aber sie weiß auch, dass diese Entwicklung nicht nur die bildende Kunst betrifft: "Wenn Kunst den Weg in den Mainstream findet, sind es meist die großen Namen, die seit Jahrzehnten etabliert sind (nicht ganz zufällig standen dieses Jahr die Beatles wieder auf Platz eins der Charts). Und das Phänomen verstärkt sich selbst: Nach der Pandemie müssen Kulturhäuser ihr Programm auch wieder anhand von Publikumszahlen rechtfertigen, also wird mehr von dem eingeplant, was Erfolg verspricht. Und da sich in der Nahost-Debatte die ideologischen Fallstricke politisch aufgeladener Kunst zeigen (und viele Museen darauf eher hilflos reagieren), besteht durchaus die Gefahr, dass man sich noch mehr auf das Erprobte, vermeintlich Ungefährliche konzentriert, um Kontroversen zu vermeiden." Ihr Appell: "Es ist unerlässlich, dass die Institutionen mutig bleiben und sich einem zu befürchtenden konservativen backlash entgegenstellen."

Die Schau "Sand. Ressource, Leben, Sehnsucht" im Bad Homburger Museum Sinclair zeigt Sylvia Staude in der FR dieses beeindruckende Material aus nächster Nähe: "Durch eine Lupe kann die Besucherin ein einzelnes Sandkorn betrachten, in der Tat würde man es, hätte es die vielfache Größe, einfach für ein Steinchen halten. Es folgt eine ganze Wand mit Sand in Glas(!)röhrchen, es handelt sich um 1680 Sedimentproben aus den Sandsammlungen des Museums Wiesbaden und der Stadt Aulendorf. Nicht nur ist die Körnchengröße unterschiedlich, vor allem die Farbnuancen bezaubern."

Besprochen wird: Die Ausstellung "Flooding" des Ukrainers Nikita Kadan in der Einundneunzig Galerie in Frankfurt, die damit ihre Eröffnung feiert (FAZ).
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Literatur

Am Wochenende tagt der PEN Berlin, in dem es anderthalb Jahre nach Gründung derzeit durchaus kriselt. Der Tagesspiegel lässt drei Experten mit Notizen zur Lage zu Wort kommen: "Natürlich wird in einem Verein wie dem PEN Berlin debattiert und gestritten, das ist sein Sinn und Zweck", schreibt etwa Literaturkritiker Gerrit Bartels. "Es gilt, unterschiedlichste Positionen und Meinungen auszuhalten, am Ende bildet die Schriftstellervereinigung auch nur die globale Disparatheit in Sachen Israel und Palästina ab. Bislang gelingt der Balance-Akt von PEN Berlin, und das müsste er auch nach diesem Wochenende." Auf Redakteurin Caroline Fletscher wirkt BDS derweil "immer schaler. ... Dass der PEN-Berlin darüber streiten muss, ist ein Symptom der Zeit, in der zu viele noch nicht erfasst haben, worum es in den Konflikten der Gegenwart geht. Demokratie oder Autokratie - das ist hier die Frage." Und Schriftsteller und PEN-Berlin-Mitglied Ralf Bönt wundert sich über "Mangel an kommunikativen Fähigkeiten" in seinem Verband und hofft, dass die "die Befürchtung, der Kongress diene als Bühne für Dschihadistenversteherinnen und Identitätsfanatiker hoffentlich entkräftet" werde.

Für Welt-Autor Thomas Schmid ist an den Problemen im PEN Berlin vor allem die Ko-Vorsitzende Eva Menasse schuld: "Eva Menasse nutzt auch ihre PEN-Funktion, um ihre Überzeugung unter die Leute zu bringen, in Deutschland herrsche ein Klima von Verdächtigung und Vorverurteilung und jeder kleine scheinbar antisemitische Vorfall werde gleich zum Menetekel aufgeblasen. Das ist Unsinn und wohl dem Umstand zu verdanken, dass Eva Menasse eine zwar mitteilungsfreudige, aber nicht besonders kluge Zeitgenossin ist." Für Schmid hängt der PEN Berlin an einem Bild von Schrifstellern als Herolden einer höheren Wahrheit und könnte damit selbst verschulden, "dass er mit seinem beträchtlichen Sendungsbewusstsein dabei ist, selbst eine veritable Bruchlandung hinzulegen".

Der Berliner Verleger ist Peter Moses-Krause gestorben. Lothar Müller würdigt die großartige Arbeit, die er eher im Stillen geleistet hat: "Wenn Moses-Krause an jemandem einen Narren gefressen hatte, dann brachte er kleine Werkausgaben heraus, so von dem gebürtigen Berliner Journalisten Victor Auburtin oder dem ungarischen Filmkritiker und Erzähler Béla Balázs. Dem Geist der Kritik, der europäischen Aufklärung blieb er wie den urbanen Intellektuellen der Zwanzigerjahre zeitlebens treu."

Weitere Artikel: Lothar Müller schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Berliner Verleger Peter Moses-Krause. Besprochen werden unter anderem der letzte Band aus Riad Sattoufs Comicepos "Der Araber von morgen" (Intellectures), Ludwig Hohls "Die seltsame Wendung" (Tsp), Mia Coutos "Der Kartograf des Vergessens" (Tsp), Michael Schwarzbach-Dobsons "Verschwundene Wörter des Mittelalters" (FAZ) und Durs Grünbeins "Der Komet" (NZZ).
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Bühne

Richard Strauss: Die schweigsame Frau. Foto: Felix Grünschloß.


Auch wenn die Handlung von Richard Strauss' Oper "Die schweigsame Frau" um einen genervten Alten, der die Opernmusik nicht mehr aushält, Judith von Sternburg in der FR eher an "eine Art Konstruktionsfehler" denken lässt, ist die Inszenierung von Mariame Clément am Staatstheater Karlsruhe musikalisch doch zu empfehlen: "Gleichwohl natürlich eine Gelegenheit, die Musik in sehr guter Form zu hören. Blendend auf einen gewieften, delikaten Strauss-Klang eingestellt ist das Orchester unter der Leitung von Georg Fritzsch, der hellwach die komplexen musikalischen (übrigens auch hübsch anspielungsreichen) Vorgänge im Griff hat." Grund zum Lob geben Sternburg auch die Darsteller: "Danae Kontora brilliert als Titelheldin spielerisch und stimmlich. Es muss eine Herausforderung für eine Sängerin sein, lange still zu sein und dann direkt zu kreischen und zu zicken, dass die Wände beben. Eleazar Rodriguez ist der strahlende Tenor-Neffe. Den musikalischen Höhepunkt bildet das langgestreckte Finale des ersten Aktes. Es ist so rossinimäßig satt und sich noch und noch steigernd, dass es für sich genommen schon jede Bemühung um 'Die schweigsame Frau' belohnt."

Naja: So richtig zufrieden ist Nachtkritikerin Frauke Adrians nicht mit dem etwas unsortierten "Fiddler! A Musical" im Hebbel am Ufer, mit dem das Kollektiv Ariel Efraim Ashbel and friends sein zehnjähriges Jubiläum feiert: Sie sieht "ja, was? Eine Loseblattsammlung zum Thema jüdische und jiddische Unterhaltungskultur? Ein Spaßprogramm für Eingeweihte?" Erst gegen Ende der dreistündigen Aufführung "kann 'Fiddler!' wirklich fesseln. Da wird Tacheles gespielt, da ist das von Ethan Braun geleitete Streicherensemble 'Kaleidoskop' dem Graben entstiegen, da schreit eine Sängerin in einer finsteren, rockigen Blues-Nummer wieder und wieder 'We trusted you!' in den Saal - die Anklage könnte sich gegen die Regierung Netanjahu richten, aber ganz bestimmt gegen Deutschland mit seinem alten und neuen Antisemitismus."

Weiteres: Arno Lücker interviewt die israelische Dirigentin und Komponistin Keren Kagarlitsky anlässlich ihres Stücks "Lass uns die Welt vergessen - Volksoper 1938", mit dem die Volksoper Wien auch ihre eigene Vergangenheit aufarbeitet (VAN).

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Musik

Für VAN spricht Olivia Giovetti mit Shehada Shalalda, dem einzigen auf westliche Saiteninstrumente spezialisierten Instrumentenbauer in Ramallah. Stephanie Grimm resümiert in der taz das portugiesische Festival "MadeiraDig", das jedes Jahr im Dezember der avantgardistischen Elektronik ein Forum bietet (und den angereisten Mittel- und Nordeuropäern eine Auszeit vom grauen Winteralltag). Anna Schors liefert in VAN zwölf alternative Weihnachtsstücke, darunter "Glorious, Glorious" der in Los Angeles lebenden Komponistin Dale Trumbore:



Besprochen werden Nicki Minajs "Pink Friday 2" (taz), die Memoiren von Sly Stone (Standard), die erste Lieferung aus einer von Hans-Christian Rademann dirigierten Gesamtaufnahme aller Bach-Kantaten (SZ-Kritiker Wolfgang Schreiber verspricht "ein Ereignis"), die auf Apple gezeigte Doku-Serie "Murder Without A Trial" über den Mörder von John Lennon (NZZ) und ein neues Album von Resavoir (FR).
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Film

Für Artechock-Kritiker Rüdiger Suchsland reiht sich die Berlinale-Personalie Tricia Tuttle (unser Resümee) nahtlos ein in die jüngere Berliner Tradition, Leute aus London an die Spree zu holen, um angeschlagene Kultur-Kähne in ruhigere Gewässer zu bringen. Tuttle "wird jedenfalls deswegen gewollt, weil sie etwas fürs Publikum getan hat: Schwellen gesenkt, gestreamt, Filme kostenlos nachgespielt. Auf Deutsch: Sie hat die Qualität des Spielorts Kino beschädigt." Im Betrieb ist sie bislang kaum bekannt. "Vielleicht wollte man eine 'schwache' Person, eine, die gegen das BKM nicht gegenhalten kann, eine, die 'formbar' ist, die Anweisungen folgt, für die dieser Job die Chance ihres Lebens ist. Andere mögliche Kandidaten wären keineswegs schwach gewesen. Die Frage ist, ob es ein Pluspunkt ist, dass sie von außen kommt, denn sie spielt nicht auf Augenhöhe mit den Barberas und den Frémaux und den ganzen anderen. Das gefällt zwar manchen, aber auf die kommt es nicht an, und selbst sie werden sofort anders denken, wenn sie selbst unter dem weiteren Sinkflug der Berlinale leiden."

In der NZZ hat Leonie C. Wagner große Freude an der viral gegangen und ziemlich bösen Satire der israelischen Sendung "Eretz Nehederet", die die Verlogenheit der Hamas-Führer aufs Korn nimmt: "In nur zweieinhalb Minuten gelingt es den israelischen Satirikern, den Zynismus der Hamas darzustellen. Deren Anführer werden tatsächlich in Doha vermutet und sind nach Schätzungen des israelischen Außenministeriums Milliardäre."



Besprochen werden Takeshi Kitanos japanisches Historiendrama "Kubi" (taz), Meron Mendels ZDF-Reportage "Rückkehr nach Israel" (FAZ), William Oldroyds gleichnamige Verfilmung von Ottessa Moshfeghs Roman "Eileen" (Tsp), Jeanne Herrys "All eure Gesichter" (Welt, SZ, unsere Kritik hier), John Woos "Silent Night" (Artechock, critic.de, mehr dazu hier), die Stephen-King-Verfilmung "Kinder des Zorns" (Welt), Molly Manning Walkers "How To Have Sex" (Intellectures) und die letzten Folgen der Netflix-Serie "The Crown" (TA).
Archiv: Film