Efeu - Die Kulturrundschau

Die Liebe als gelungener Spaß

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29.12.2023. Impressionistische Unvollkommenheit genießt der Filmdienst in Hayao Miyazakis neuem Film "Der Junge und der Reiher." Was nach der Ära Miyazaki mit dem Studio Ghibli passieren soll, fragt sich bang die FAZ. Außerdem schwelgt die FAZ in der Pracht der Luxusmöbel von José Canops. KI-Gesang oszilliert zwischen Glitch und Magie, stellt die taz bei Rania Kims neuem Album fest. Sergei Gerasimov wittert in der NZZ Cancel Culture bei dem Versuch, Puschkins Literatur aus Charkiw zu verdrängen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.12.2023 finden Sie hier

Film

Kindlicher Blick auf die Welt: "Der Junge und der Reiher"

Nächste Woche startet Hayao Miyazakis "Der Junge und der Reiher", mit dem der 82-jährige Animationsfilmmeister sein Comeback aus dem Ruhestand hinlegt - sehr zur Begeisterung von Filmdienst-Kritiker Michael Kienzl: Der Film handelt von einem Jungen, der aus dem ausgebombten Tokio in die Provinz kommt, und ist damit "an der Schwelle zwischen einem hartnäckigen Trauma und einer ungewissen Zukunft angesiedelt, die zugleich Herausforderung und Chance ist". Miyazaki "erforscht die Umgebung mit einem sinnlichen Realismus, der gekonnt zwischen Lebensnähe und Stilisierung balanciert. Die Animationen sind handgezeichnet und wurden für einen besseren räumlichen Eindruck mit 3D-Computergrafiken erweitert. Besonders werden sie durch ihre Unvollkommenheit. Die Gräser und Büsche, die in saftigem Grün sprießen, sind nicht bis ins kleinste Detail durchgezeichnet, sondern bleiben impressionistisch verwischt. ... Die Ästhetik des Films ist häufig von einem kindlich staunenden Blick geprägt, der das, was er sieht, nie ganz greifen kann. Das traditionelle japanische Holzhaus wirkt mit seinen langen Gängen und knarzenden Dielen geradezu gespenstisch. Die Neugier und Behutsamkeit, mit der Mahito den Schauplatz erforscht, findet ihre Entsprechung im schönen Soundtrack von Joe Hisaishi. Zart, fließend und melancholisch tastet der sich mit einfachen Klaviermelodien vor."

Dazu passend erzählt Tim Kanning in der FAZ von seinem Besuch bei Miyazakis Studio Ghibli in Tokio. Dort ist man zwar stolz auf den riesigen Erfolg von "Der Junge und der Reiher" in Japan und in den USA. In eine ungewisse Zukunft blickt man dennoch, wie Produzent Toshio Suzuki einräumt: "'Das Studio, wie es war, hat sich komplett um Hayao Miyazakis kreativen Geist gedreht - ob das nun gut ist oder schlecht. Um es davon zu befreien, bräuchten wir hier eine neue talentierte junge Person, die eine ähnliche kreative Kraft entfalten kann', sagt Suzuki. ... Derzeit sehe er ein solches Talent nicht, sagt Suzuki, weder im Studio Ghibli noch irgendwo sonst in Japan. Ein Grund dafür sei natürlich, dass die Zeichner, die zu Ghibli kamen, in Miyazaki immer das große Genie gesehen hätten. 'Wenn sie eigene Ideen in die Arbeit einbringen wollten, mussten sie immer sehr dafür kämpfen.' Härter drückt diese Übermacht Miyazakis dessen Sohn Goro aus, der ebenfalls an diesem Tag für ein Gespräch in das Studio gekommen ist. 'Junge Talente hat er immer als Rivalen gesehen und schnell vergrault'."

Außerdem: Es ist kompliziert, sagt Maria Wollburg auf ZeitOnline zum Vorwurf, die Gen-Z (zu der auch Wollburg gehört) sei prüde, was Sexszenen betrifft. Bert Rebhandl empfiehlt im Standard die Retrospektive Carlos Saura im Filmarchiv Wien. Dunja Bialas resümiert für Artechock die Tops und Flops des Kinojahres 2023. Marius Nobach blickt für den Filmdienst auf die Todesfälle aus dem Filmbetrieb im Jahr 2023 zurück.

Besprochen werden Andrew Legges Low-Budget-SF-Film "L.O.L.A." (FD, Artechock, critic.de, Tsp, Welt, mehr dazu hier), Sofia Coppolas nächste Woche startendes Biopic "Priscilla" über Priscilla Presley (FD, NZZ), Karen O'Connors, Miri Navaskys und Maeve O'Boyles Doku "Joan Baez - I Am Noise" (FD, Artechock, critic.de, SZ via TA, unsere Kritik), Olivier Nakaches und Éric Toledanos "Black Friday for Future" (Artechock, FD), Sébastien Tulards "Sterne zum Dessert" (FD, Artechock), Frant Gwos "Die wandernde Erde 2" (Artechock), Zack Snyders Netflix-SF-Epos "Rebel Moon, Teil 1" (FR, Standard, unsere Kritik), die ARD-Dokuserie "Being Michael Schumacher" (TA) sowie ein Spielfilm und eine Doku über den Milli-Vanilli-Skandal (NZZ).
Archiv: Film

Literatur

Mit Unbehagen blickt Sergei Gerasimow in seinem in der NZZ veröffentlichten Kriegstagebuch aus Charkiw darauf, wie in den letzten Monaten allmählich jede Spur von Puschkin aus dem Stadtbild verdrängt wurde. Für Gerasimow ein Übereifer: "Russland hat Puschkin immer benutzt, wie eine läufige Katze ihren Urin benutzt: um ihr Revier zu markieren. Aber das bedeutet nicht, dass Puschkin per se schlecht ist, sondern dass mit Russland etwas nicht stimmt. Die Entkolonisatoren indes verstehen diesen feinen Unterschied nicht und machen Puschkin für alle möglichen und unmöglichen Sünden verantwortlich. ... In der Zwischenzeit lässt der Rektor einer der größten ukrainischen Universitäten wissen, dass die russische Literatur in der Ukraine fortan nur noch unter der Aufsicht eines Spezialisten studiert werden kann. Das muss ein rechter Fachmann sein, der erklären kann, wie die russische Literatur von Dostojewski zu Prilepin, einem wütenden Putinisten, kam. Das heißt dann wohl, man kann nicht einfach einsam in seiner Kammer über Dostojewski brüten, sondern man muss dies unter Aufsicht und im Zusammenhang mit Prilepin tun."

Außerdem: Die SZ sammelt auf zwei Seiten Notizen aus dem Literaturbetrieb, welche Bücher in diesem Jahr besonders wichtig waren. Besprochen werden unter anderem Hans Neubauers "Männer aus Moabit" (Tsp) und Dieter Lampings "Anders leben. Franz Kafka und Dora Diamant" (Welt).
Archiv: Literatur

Bühne

Wolf-Dieter Peter fährt für die Neue Musikzeitung zu den Tiroler Winterfestspielen in Erl und schaut sich mit Freude Florentine Kleppers Inszenierung von Nikolai Rimski-Korsakows "Schneeflöckchen" an. Bühnenbild und Kostüme ergeben zwar "eine beliebig bleibende Mischung aus Abstraktion und Naturalismus", findet Peter, aber "erfreulich zu erleben waren die musikalische und vokale Seite des Abends. Der russische Dirigent Dmitry Liss machte mit dem Erler Festspielorchester den Farbenreichtum, die motivische Vielfalt und dann auch den dramatischen Ausbruch der Gefühlswelt in Rimski-Korsakows dann aber auch mal nur breiter, ausholender Partitur hörbar." Ganz an die "epische Breite russischer Erzähltradition" angelehnt, empfiehlt der Kritiker dieses selten gespielte Stück, das der Komponist selbst "für sein bestes Werk hielt."

Gaetano Donizetti: Liebestrank. Foto: Nils Heck.

"Kindertheater für Erwachsene" sieht Judith von Sternburg für die FR im Staatstheater Darmstadt, das in der Inszenierung von Geertje Boeden die Oper "Liebestrank" von Gaetano Donizetti gibt, aber im guten, Leichtigkeit vermittelnden Sinne, versichert sie. "Die von keiner ehelichen Langeweile der Welt einzuholende Musik" Donizettis sorgt für einen heiteren Opernabend, nicht mehr und nicht weniger, räumt Sternburg ein, "dass aber die Liebenden sich am Ende kringelig lachen, ist natürlich gut. Die Liebe als gelungener Spaß, etwas Schöneres kann es nicht geben. Vielleicht noch die Stimme von Juliana Zara."

Weiteres: Die Nachtkritiker blicken auf das Theaterjahr 2023 zurück.

Besprochen wird: "Die Fledermaus" in der Inszenierung von Barrie Kosky an der Bayerischen Staatsoper (Welt).
Archiv: Bühne

Design

José Canops: Zylinderbureau. Bild: Staatliche Museen zu Berlin, Kunstgewerbemuseum.
Mit der Ausstellung "Canops. Möbel von Welt für Karl III. von Spanien (1759-1788)" im Berliner Kunstgewerbemuseum entdeckt Christoph Schmälzle in der FAZ die Geschichte der europäischen Luxusmöbel neu - dank einer Zusammenarbeit zwischen Berlin und Madrid. Am spanischen Königshof hatte José Canops, geboren als Joseph Cnops im Herzogtum Limburg, gewirkt: Den Rezensenten "beeindrucken Canops' Möbel durch technische Perfektion, beinahe bildhauerische Plastizität und überreichen Intarsiendekor. Der Berliner Schreibtisch gehört zu den wenigen Stücken dieser exklusiven Produktion, die je den Madrider Palast verließen. Er braucht den Vergleich mit dem berühmten 'bureau du roi' Ludwigs XV. nicht zu scheuen, an dem Oeben und Riesener neun Jahre lang gearbeitet haben. Formal innovativ sind die durchgehend dekorierten Seitenwangen - sie negieren die ansonsten übliche Trennung von Tisch und Aufsatz. Vor allem frappieren die elegant gebogenen Beine. Sie haben ein Detail, das man eher in der Postmoderne erwarten würde, nämlich Augen. Das heißt, der Tisch blickt uns mit jedem seiner Beine an - er steht auf vier stilisierten Elefantenrüsseln."
Archiv: Design

Kunst

Weiteres: FAZ und SZ trauern um den Kunsthistoriker Alexander Perrig, der sich besonders um die Erforschung des Werks Michelangelos verdient gemacht hat. Greifswald bereitet sich auf das Caspar-David-Friedrich-Jubiläumsjahr vor, berichtet die FR, rund 200 Veranstaltungen sind geplant.

Besprochen wird: Die Ausstellung "Lyonel Feiniger. Retrospektive" in der Kunsthalle Schirn (taz).
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Musik

Tazlerin Tabea Köbler porträtiert die Musikerin Rania Kim, die als Portrait XO mit "WIRE" ein Album veröffentlicht hat, auf dem sie neben sich auch eine mit ihrer Stimme trainierte KI singen lässt. Das mehrere Stunden umfassende Gesangsmaterial musste erst sorgfältig zusammengestellt werden: "'Da war viel Zeug, das einfach nur glitchy war', sagt Kim und lacht: 'Ich könnte nicht mal versuchen, so zu singen.' Und weil die KI keinerlei Musiktheorie kennt, auf der unsere ästhetischen Gewohnheiten fußen, hält sie sich auch nicht daran. 'Oft entstehen seltsame Melodien, die teils mikrotonal sind. Manchmal klingt es einfach nicht richtig, zumindest nicht im Sinne westlicher Musik', erklärt Kim. Die Imitation ihrer Stimme ergab also keine Kopie. ...  'Es kam zu magischen Momenten, in denen zwischen all dem seltsam wahllosen Material die KI dann plötzlich kleine Fragmente von Melodien ausspuckte, die ich selbst vorher noch nie gesungen habe', erzählt Kim. So entdeckte sie ihre wichtigste Kompositionsmethode, die sie 'neurales Vokalduett' nennt: Im generativen Datenwust lauerte sie kleinen, kenntlichen Melodien und Worten auf, abstrahierte sie und spann sie weiter. 'Manchmal singt die KI etwas, das wie ein Wort klingt, und schweift dann wieder ins Geräusch ab. Das lässt dem menschlichen Verstand Raum, die Lücken auszufüllen.'"



2023 war "im Jazz die Grenzenlosigkeit der einzige gemeinsame Nenner", schreibt Andrian Kreye in seinem Jahresrückblick aufs Genre für die SZ. Neben Chicago (mit dem Label International Anthem als Hotspot), dem seit Jahren brodelnden London und Los Angeles war für Kreye auch München in diesem Jahr ein aufregender, kreativer Ort, wie neue Veröffentlichungen von Web Web, Michael Hornstein mit Oliver Hahn und des Leo Betzel Trios unter Beweis stellten. Doch dränge sich bei all der Fülle auch "das statisch nicht nachgewiesene Gefühl auf, dass es mehr neuen Jazz gibt als je zuvor. Dass zwar alles geht, aber nicht alles zündet, ist da ein Naturgesetz. Nicht jedes freie Gedudel, nicht jedes Hipsterprojekt, nicht jedes Klavierschüleralbum ist gleich guter Jazz. ... Nun verschwinden Mittelmaß und Schrott zwar in der Regel in der Öde der Robo-Playlisten von Spotify. In der Aufmerksamkeitsökonomie drängt das jedoch einiges an wirklich grandioser Musik ab, die zu sperrig für Algorithmen ist. Fantastische Alben von Angelika Niescier, Mareike Wiening und James Brandon Lewis zum Beispiel. Aber die werden bleiben." Auch deshalb hat Kreye eine Jazz-Jahresplaylist 2023 auf Spotify kuratiert:



Außerdem: Standard-Kritiker Ljubiša Tošić ist gespannt auf das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker unter Christian Thielemann und verweist an dieser Stelle auch auf ein alternatives, ausschließlich von Frauen gestemmtes Neujahrskonzert in Wien. Der Tschechische Rundfunk hat für Ausschnitte einer ansonsten von einem Schauspieler gelesenen Hörbuch-Produktion von Karel Gotts Autobiografie eine KI mit dessen Stimme trainiert, berichtet Christoph von Eichhoren in der SZ. Besprochen wird das Minialbum "Hëks Hëks Motherfucker" von Die Person (taz).
Archiv: Musik