Efeu - Die Kulturrundschau

Alternative zum Duckmäusertum

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09.01.2024. Zeit Online reitet durch die Frühgeschichte der Micky Maus und findet eine Kultur der Aneignung. Die FAZ tanzt mit den Figuren aus Simon Stephens neuem Stück am Kammertheater Stuttgart über die Dunkelheit hinweg. Die NZZ geht im Petit Palais in Paris auf einen Streifzug durch die Avantgarde. Der Schriftsteller Reinhard Kaiser-Mühlecker versteht in der SZ die Verzweiflung der Landwirte - weil er selbst einer ist.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.01.2024 finden Sie hier

Bühne

Szene aus "Ein dunkles, dunkles, dunkles Blau" am Kammertheater Stuttgart. Foto: Björn Klein. 

"Tieftraurig" wird FAZ-Kritikerin Grete Götze bei Elmar Goerdens Inszenierung von Simon Stephens neuem Stück am Kammertheater in Stuttgart. Für die Kritikerin keine Überraschung, denn die meisten von Stephens Stücken beschäftigen sich mit den dunklen Seiten des Lebens - doch in all der Schwärze verleiht Stephens seinen Figuren "auch eine Leichtigkeit und einen Lebenshunger, in die die Schauspieler sich in kurzen Dialogen hineinwerfen können". In "Ein dunkles, dunkles, dunkles Blau" geht es um den jungen Christof, der unheilbar an Krebs erkrankt ist und die Menschen, um ihn herum, die mit seinem Tod weiterleben müssen. Auch wenn Götze nicht völlig überzeugt ist, entwickelt das Stück große Wirkkraft: "Stark ist der Abend, wenn es um den Tod geht, die wahre Stille, den eigenen Umgang mit Trauer. Karolina, die beste Freundin von Christof, sucht in einer Szene für das noch ungeborene Baby ihres Bruders einen Strampler in einem dunklen Blau, 'so dunkel, dass man es für schwarz hält, bis man es in einem bestimmten Licht sieht'. Aus manchen Dialogen ergeben sich keine überzeugenden Figuren, was zu kleinen Längen führt, auch weil sich Goerden bei der Uraufführung eng an den Text gehalten hat. Andere Szenen, wie der spontane Tanz von Marie und Tomas über die Dunkelheit hinweg, die das Stück umgibt, treffen genau das richtige dunkle, dunkle, dunkle Blau. So wirkt der Tod in diesem Ensemblestück nicht ganz schwarz, sondern wie etwas, das man gemeinsam begehen kann und wobei man, wenn man Lust darauf hat, auch eine verspiegelte Sonnenbrille tragen kann."

Peter Laudenbach fragt in der SZ nach den wahren Gründen für die fristlose Kündigung von Klaus Steppat, ehemals geschäftsführender Direktor am Deutschen Theater Berlin. Auf Nachfragen reagiert das Theater "betont schmallippig", so Laudenbach. Es scheine allerdings um Budgetfragen zu gehen: "Seit einem Termin vor dem Arbeitsgericht Mitte Dezember, bei dem Steppat gegen seine Kündigung geklagt hat, sind zumindest einige Budget-Zahlen bekannt. Der Vertreter der Kulturverwaltung argumentierte dort, dass Steppat sie nicht rechtzeitig über ein im zweiten Quartal 2023 innerhalb weniger Monate aufgelaufenes Defizit von 1,4 Millionen Euro informiert habe. Das wirft neue Fragen auf, etwa die, wie solch ein stolzes Defizit so schnell zustande kommen konnte und welche Rolle der damalige Intendant dabei gespielt hat. Dass Ulrich Khuon, ein höchst erfahrener und nicht zu Nachlässigkeiten neigender Theaterleiter, nichts von den plötzlichen Mehrausgaben mitbekommen haben soll, ist kaum vorstellbar."

Weiteres: Manuel Brug trifft sich für die Welt mit dem Dirigenten Ricardo Muti. Michael Ernst meldet in der FAZ, dass das Gerhart-Hauptmann-Theater in Görlitz nach einem schlimmen Wasserschaden saniert werden muss.
Archiv: Bühne

Film

Für Zeit Online reitet Jens Balzer durch die äußerst bewegte Frühgeschichte der Micky Maus, deren erste Version aus dem Jahr 1928 ja nun gemeinfrei wurde, nachdem der Disneykonzern in den Jahrzehnten zuvor immer wieder Lobbyarbeit betrieb, damit die US-Urheberrechtsgesetze zu eigenen Gunsten verschärft und Fristen verlängert werden. Durchaus pikant daran: "Die gesamte Geschichte der Disney-Kultur ist eine Geschichte der Aneignungen, Fakes und Simulationen. Der prominente US-amerikanische Juraprofessor Lawrence Lessig hat darum schon vor über 20 Jahren gefordert, ihr Beispiel zu einer umfassenden Revision des restriktiven Urheberrechts zu benutzen. Fast alles, worauf der Erfolg der Disney-Comics und -Filme gründet, habe sich aus fremden Quellen gespeist, schrieb Lessig 2004 in seinem Buch 'Free Culture'. Das gilt für die abendfüllenden Filme, 'Schneewittchen', 'Pinocchio', 'Bambi', 'Cinderella', 'Alice in Wonderland' und so weiter, es gilt aber auch schon für den allerersten Micky-Maus-Film: Denn 'Steamboat Willie' ist tatsächlich nichts anderes als eine Zeichentrickversion des kurz vorher, im Mai 1928, erschienenen Buster-Keaton-Films 'Steamboat Bill, Jr'. Wie kann ein Konzern das Urheberrecht für Schöpfungen beanspruchen, die ihrerseits nichts anderes sind als geklaut?"

Außerdem: Bei den Streamingdiensten tut sich was, fällt Eva Keller in der taz auf: Seit eingeblendete Werbespots in der Netflix-Bilanz immer wichtiger werden, wird auch immer schneller gecancelt, was keinen Umsatz bringt - 2023 sollen demnach die Eigenproduktionen um 16 Prozent zurückgegangen sein. Matthias Kalle (Zeit Online) und Jürgen Schmieder (SZ) resümieren die Golden-Globes-Verleihung.

Besprochen werden Hayao Miyazakis "Der Junge und der Reiher" (Presse, unsere Kritik), die Riesenmonster-Serie "Monarch" auf Apple (FAZ), Chris Kraus' "15 Jahre" mit Hannah Herzsprung (Standard) und eine ARD-Doku über den gestern verstorbenen Franz Beckenbauer (TA, Tsp).
Archiv: Film

Musik

Tazler Julian Weber ärgert sich, dass das angesehene britische Musikmagazin The Wire, sonst eher nicht für konkrete politische Interventionen bekannt, den Londoner Musiker Gaika mit einem sehr einseitigen Beitrag sich zum Nahostkrieg ausbreiten lässt: "Zu israelischen Opfern und der Rolle von Hamas und Iran - kein Wort. ... Beobachter wundern sich, was Gaika dazu befähigt, über diesen komplizierten Konflikt zu schreiben. Künstler:Innen geben auf der letzten Seite des Magazins monatlich über 'Epiphanien' Auskunft, für sie stilbildende Erfahrungen. Gaikas Beitrag ist leider keine solche."

Andreas Hoffmann schwärmt in der taz von den Segnungen des Berliner Labels Altercat, das als Spezialist für Wiederveröffentlichungen mitunter musikarchäologische Grabungsarbeit leistet und dabei Fundstücke zutage fördert, die vorher niemand auf dem Schirm hatte: "Allein schon wie beispielsweise die aktuellste Altercat-Veröffentlichung präsentiert wird, könnte das auch bei Neueinsteigern dazu führen, dass sie sich spätestens jetzt endlich einen Plattenspieler zulegen möchten. Die Platte 'Inpiracion' von Ara Tokatlian sieht so geheimnisvoll aus und das Cover mit dem halbnackten Saxophonisten mit einer Frau in Ekstase wirkt so vielversprechend, dass man sich diese wirklich nicht bloß bei Bandcamp anhören möchte. Dass das ursprünglich 1975 erschienene Album des Argentiniers ein sagenhafter Spiritual-Jazz-Trip ist, eine Mischung aus John Coltrane und Esoterik-Geflöte, macht diese Platte zudem auch rein musikalisch zu einem echten Wunderwerk. Und man fragt sich, wie so oft bei Altercat: Warum bitte hat man nie zuvor etwas von diesem Album gehört?" Wir wagen fürs Erste dennoch ein Ohr im Digitalen:



Weiteres: Harry Nutt (FR), Peter Kemper (FAZ) und Jakob Biazza (SZ) gratulieren Jimmy Page zum 80. Geburtstag. Koljah von der Antilopen Gang erinnert sich für die Jungle World an den vor kurzem verstorbenen Egotronic-Sänger Torsun Burkhardt (weitere Nachrufe bereits hier). Maxi Broecking würdigt in der taz den Jazzschlagzeuger Max Roach, der morgen hundert Jahre alt geworden wäre.



Besprochen wird außerdem das mit 44 Jahren Verspätung nun auch endlich vorliegende Debüt der deutschen Provinzpunkband Brausepöter ("ein Dokument von erfrischender Zeitlosigkeit", frohlockt Karl Fluch im Standard angesichts dieses "herrlich angewiderten Dilettantismus").

Archiv: Musik

Literatur

Die Proteste der Landwirte in diesen Tagen lassen auch den Literaturbetrieb nicht kalt. Der Schriftsteller Reinhard Kaiser-Mühlecker etwa ist selbst ausgebildeter Bio-Landwirt, schreibt in seinen Romanen auch über das Leben auf Bauernhöfen und hat im SZ-Gespräch für die Proteste seiner Kollegen nur Verständnis: "Der Begriff Verzweiflung beschreibt die Stimmung ganz gut. Die Landwirtschaft fühlt sich überhaupt nicht mehr gesehen oder vertreten. Und wenn sie mal gesehen wird, wird sie oft nur gering geschätzt. ... Wir scheinen an allem schuld zu sein - am Insektensterben, an der Trinkwasserqualität, am Klimawandel -, obwohl wir uns doch an die Regeln halten. Und diese Regeln macht die Politik." Im Dlf-Gespräch zieht die Schriftstellerin Karen Duve, die ebenfalls auf einem Landhof lebt (ob sie diesen aber auch bewirtschaftet, ist unklar), derweil mächtig vom Leder: "Die Bauern sind völlig unsolidarisch", sagt sie angesichts dessen, dass die gesamte Bevölkerung derzeit ein Millardendefizit zu stemmen hat. Die Landwirte "arbeiten gegen die Konsumenten und alle anderen Bürger".

Klaus Hillenbrand empfiehlt in der taz die von Edita Koch betreute und in geringer Stückzahl verlegte Literaturzeitschrift Exil über deutsche Exilliteratur der Nazizeit. "Über mehr als zwanzig Jahre hatte die bundesdeutsche Gesellschaft das Thema beschwiegen. So lange, bis sich niemand mehr daran erinnern konnte, dass diese Menschen bewiesen hatten, dass es eine Alternative zum Duckmäusertum gab. Doch die Tschechin Edita Koch erinnerte sich, ebenso wie ihr Mann Joachim. ... 1981 erschien die erste Ausgabe von Exil als reine Privatinitiative. ... Als Edita Koch ihr Mammutwerk begann, waren viele der exilierten Schriftstellerinnen und Schriftsteller noch am Leben. Koch besuchte sie in New York und London. Die Autoren von damals sind längst tot. Der Schriftwechsel mit ihnen liegt jetzt im Keller ihrer Wohnung. So wie Koch selbst sind auch ihre Autoren älter geworden."

Außerdem: Lars von Törne stellt im Tagesspiegel die ersten sechs mit Bundesfördermitteln unterstützten Comics vor. Marc Reichwein erinnert in den "Actionszenen der Weltliteratur" daran, wie Aldous Huxleys Reisetagebuch "Along the Road" einen Militär davon abhielt, die italienische Stadt Sansepolcro zu bombardieren, weil sich in dieser Stadt nach Huxley zwar wenig von Interesse befand, aber mit Piero della Francescas Frescos "Auferstehung Christi" eben auch das "greatest picture in the world". Michael Hesse holt für die FR Thomas Manns vor 100 Jahren erschienenen "Zauberberg" aus dem Regal. Judith von Sternburg schreibt in der FR einen Nachruf auf den Lyriker Harry Oberländer.

Besprochen werden unter anderem die deutsche Erstveröffentlichung von Annie Ernauxs Debütroman "Die leeren Schränke" (online nachgereicht von der FAZ), Evelyn Rolls "Pericallosa" (Zeit), Ann Marks Biografie der erst postum der Öffentlichkeit bekannt gewordenen Fotografin Vivian Maier (SZ), Charles Lewinskys "Rauch und Schall" (NZZ) und Klaus Siblewskis Biografie über den Schriftsteller Peter Härtling (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Mirko Bonné über Jürgen Nendzas "Rotbuche":

"Hingehaucht, so wimpernfein gesäumt
ist das Oval ins Grün gespannt, gebuchtet ..."
Archiv: Literatur

Kunst

La mort et la femme. Marevna, 1917, Huile sur bois, 107 x 134 cm. Association des Amis du Petit Palais, Genève. Photo © Studio Monique Bernaz, Genève.

Auf einen Streifzug durch das avantgardistische Paris nimmt Peter Kropmanns in der NZZ mit. Das "Beste der modernen Kunst" sieht er in der Ausstellung "Le Paris de la modernité" im Petit Palais in Paris versammelt, hervorragend kuratiert von Juliette Singer: "Die räumliche Einbindung der Kunstwerke verdeutlicht Kontexte und Synergien, festgemacht an epochalen Ereignissen, die als Stationen der Moderne zu verstehen sind...Hinzu kommen die Präsentationen technischer Neuheiten, die am gleichen Ort gezeigt wurden, an dem auch die Kunst Furore machte, nämlich im Grand Palais, das dem jetzigen Ausstellungsort genau gegenüberliegt. Hier wurden als Novität erste Schauen mit Automobilen und Flugapparaten veranstaltet, die auch von Künstlern besucht wurden. Bevor Aerodynamik auch in der Kunst einzog, faszinierten die Künstlerschaft außereuropäische Masken, die in der Ausstellung eine besondere Rolle einnehmen, einschliesslich der künstlerischen Auseinandersetzung mit ihnen, wie sie etwa eine Arbeit von Amedeo Modigliani spiegelt. Einen zweiten roten Faden bildet der Kolorismus, den die Fauves neu lanciert haben und der von sogenannten Salonkubisten wie La Fresnaye oder Metzinger aufgegriffen wurde. Wie stark der Erste Weltkrieg das blühende Kunstleben unterbrach und ihm gleichzeitig neue Themen und Motive vermittelte, zeigen Arbeiten von Maria Worobjowa, genannt Marevna, Mela Muter oder Jacqueline Marval."

Mirna Funk unterhält sich in der Welt mit den Künstlerinnen Zoya Cherkassky und Noa Ironic. Der 7. Oktober hat den beiden noch einmal deutlich gezeigt, wie sehr die Kunstwelt von antiisraelischer Propaganda geprägt ist, lesen wir, schlimmer als zu Zeiten der Sowjetunion, meint Ironic. Auch hätten die Menschen Angst mit israelischen Künstlerin zu arbeiten, sagt Ironic: "Mir ist neulich auch etwas passiert mit einer Kuratorin. Sie hatte einen sehr israelischen Namen. Nach einem Künstlergespräch sagte ich zu ihr auf Hebräisch: 'Hey, wie geht es dir?', und sie guckte mich mit dem bösesten Blick an, den ich jemals erlebt habe. Sie sah mich nur an, sagte 'Ja, ja …' und ging weiter. Sie war so sauer, dass ich sie geoutet habe."

Besprochen wird die Ausstellung "Sarah Morris: All Systems Fail" im Kunstmuseen Krefeld (FAZ).
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