Efeu - Die Kulturrundschau

Zwiespältige Apparate der Erkenntnis

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30.01.2024. FAZ und VAN begeistern sich für Nikolai Rimski-Korsakows bitterböse Russland-Oper "Der goldene Hahn" in Berlin, die auch heute noch das Zeug hat, die Eliten zu erzürnen. Der deutschsprachige Filmnachwuchs zeigt wieder mehr Lust am Experiment, nimmt die taz als Erkenntnis vom Filmfestival Max Ophüls Preis mit. In der Musik von Myra Melford beobachtet sie das Licht beim Singen. In den Romanen von Sayaka Murata entdeckt sich Japans junge Generation als stille Nonkonformisten wieder, notiert die NZZ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.01.2024 finden Sie hier

Film

Experimentierfreudig: "Electric Fields" von Lisa Gertsch

Das 45. Filmfestival Max Ophüls Preis ist zu Ende. Lisa Gertschs Langfilmdebüt "Electric Fields" wurde gleich in drei wichtigen Kategorien (Bester Spielfilm, Bestes Drehbuch und Preis der Filmkritik) ausgezeichnet. "Die Schweizer Regisseurin übersetzt für ihren schwarz-weißen Episodenfilm Träume in reale Umgebungen", schreibt dazu Jenni Zylka in der taz und beobachtet: "Das Surreale in Gertschs Film, das sich in ruhigen, an den schwedischen Regisseur Roy Andersson gemahnenden Sequenzen durch das Reale frisst, steht symptomatisch für die aktuelle, fingerfertige Lust am Absurden, die momentan viele deutschsprachige Produktionen umarmen." So zeigte sich beim Festival "ein größeres Genrevertrauen und eine gestiegene Experimentierfreudigkeit der Nachwuchstalente." Hier alle ausgezeichneten Filme mit den Jurybegründungen.

Gut dokumentierte Kaltblütigkeit: "Griselfa" (Netflix)

Für Aufsehen sorgt gerade die Netflix-Miniserie "Griselda" über die Drogenbaronin Griselda Blanco, von der kolportiert wird, dass selbst Escobar vor ihr erzitterte. Noemi Ehrat hat auf Zeit Online allerdings Vorbehalte, denn mit dieser Figur soll man durchaus mitfiebern: Die "gut dokumentierte Kaltblütigkeit Blancos" wird dabei gerne mal unter den Tisch gekehrt, "meistens schreckt die Serienversion der Figur sogar vor Gewalt zurück, setzt sie nur als scheinbar notwendiges Übel ein. ... Gerade weil 'Griselda' die Drogenhändlerin zum feministischen Underdog verklärt, drängt sich die Frage auf, woher das Bedürfnis kommt, ausgerechnet eine Mörderin als mitfühlend und reumütig darzustellen. War es für die Serienschöpfer unvorstellbar, dass auch Frauen gewissenlos und brutal sein und sogar psychopathische Züge tragen können?"

Außerdem: Jean-Martin Büttner verneigt sich in der NZZ vor Larry David, dessen Comedyserie "Curb Your Enthusiasm" Anfang Februar mit ihrer zwölften und letzten Staffel beginnt. Andreas Kilb schreibt in der FAZ einen Nachruf auf die Schauspielerin Sandra Milo. Besprochen werden Adrian Goigingers "Rickerl - Musik is höchstens a Hobby" mit Voodoo Jürgens (FD), Dennis Albrechts Dokumentarfilm "KinoKinoKino" über das Kinosterben (taz), die Disney-Serie "Das große Krabbeln" (FAZ) und die Arte-Doku "USA gegen Hitler" (Tsp).
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Bühne

"Der goldene Hahn" an der Komischen Oper Berlin. Foto: Monika Rittershaus. 

Bitterböse ist Nikolai Rimski-Korsakows schaurig-schöne Oper "Der goldene Hahn", freut sich Egbert Tholl in der SZ: Der Zar war bei der Uraufführung überhaupt nicht erfreut - und auch heute würde dieses Stück, das auf einem Puschkin Märchen basiert, wohl kaum Anklang bei den russischen Eliten finden. Es geht, erzählt Tholl, um einen unfähigen Herrscher, der von einem zweifelhaften Astrologen zum Geschenk einen goldenen Hahn erhält, der bei Gefahr kräht. Aber der Zar hat nur die Königin Proshina im Kopf und stürzt sich ins Verderben, sein Volk gleich mit. Barrie Koskys Inszenierung an der Komischen Oper in Berlin ist "stupende präzis", staunt Tholl, und erst die Musik!: "Die Musik zehrt, malt eine Sehnsucht, eine Begierde, eine Lust an der Begierde, gegen die die "Salome" von Richard Strauss - ein anderes, zur gleichen Zeit entstandenes Opern-Erotikon - fast schon familientauglich ist. Der Dirigent James Gaffigan wirkt, als habe er sich vollkommen in diese Musik verknallt, er umsorgt jedes kleinste Detail, er schildert plastisch, aufregend, elegant. Proshina und Ulyanov müssten gar nichts singen, die Musik erzählte alles, bohrende Neugierde am anderen, von ihr ironisch, spielerisch, verführerisch dargeboten. Proshinas Stimme ist ein Geschenk, federleicht und doch glühend, sie ist die Spielführerin, sie bestimmt die Regeln. Aus Liebe wird der Zar morden, sie schmeißt ihn dann weg wie irgendetwas sehr lästig Gewordenes."

Im VAN-Magazin ist Albrecht Selge ebenfalls begeistert: "Barrie Kosky konstruiert keine direkten Bezüge, die sich zwar nicht aufdrängen, aber irgendwie möglich wären. Stattdessen serviert er uns einen stringenten Albtraum im dichten Steppengras und zugleich ein unterhaltsames Varieté, in dem auch anregend getanzt wird. Der Hofstaat - sowohl Nebenfiguren als auch Chor - tritt als umgekehrte Zentauren auf: oben Pferdekopf, unten bestrapste Beine. Zar Dodons Kriegspferd aber wird eine zentaurische Schindmähre anderen Kalibers sein, nämlich ein hübsch gekurbelter Apparat, vorne Rosskopf, hinten Gerippe." Im Tagesspiegel bespricht Ulrich Amling das Stück.

Weiteres: Im Tagesspiegel betont Rüdiger Schaper die Wichtigkeit des Theaters im Kampf gegen Rechtsextremismus und gibt einen kleinen historischen Abriss bedeutender Theaterereignisse. In der FAZ gratuliert Jürgen Kesting dem Counter-Tenor Jochen Kowalski zum Siebzigsten.

Besprochen werden Katharina Thomas Inszenierung von Jaques Offenbachs Oper "Banditen" an der Oper Frankfurt (FR, FAZ), Michael Schachermaiers Inszenierung von Wagners "Tristan und Isolde" am Anhaltischen Theater Dessau (nmz), Augusta Holmès' Oper "La Montagne Noire" in der Inszenierung von Emily Hehl am Theater Dortmund (Welt), Tatjana Gürbacas Inszenierung von Louise Bertins Faust-Oper am Aalto-Theater in Essen (Welt), Jossi Wielers Inszenierung von Virginia Woolfs "Orlando" am Hamburger Schauspielhaus (SZ), Katie Mitchells Inszenierung von George Benjamins Oper "Written on skin" an der Deutschen Oper Berlin (VAN) und Moritz Sostmanns Adaption von Serhij Zhadans Roman "Internat" am Theater Münster (FAZ).
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Kunst

Provokation und Ironie bestimmen das Werk der feministischen Künstlerin Valie Export, das Jens Hinrichsen für den Tagesspiegel im C/O Berlin gesehen hat. "Eindrucksvoll" findet er diese große Retrospektive, die Werke aus den späten 1960er- bis in die frühen 1980er-Jahre in den Fokus nimmt: "Als 'erweitertes Kino' lässt sich die Installation 'Fragmente der Bilder einer Berührung' von 1994 auffassen. 18 leuchtende Glühbirnen tauchen in mit Altöl, Milch oder Wasser gefüllte Zylinder ein. Das lässt an einen Schwarz-Weiß-Film denken, der am Lichtfenster eines Filmprojektors vorbeirattert. Doch die Bewegung ist entschleunigt und sanft - ein simulierter Liebesakt. Die 'Fragmente' verweisen auf Körper, auf Sexualität und zugleich auf die für Valie Export ungebrochene Faszinationskraft von Medien und Bildermaschinen, diese zwiespältigen Apparate der Erkenntnis und des Verkennens."

Weiteres: Der Historiker Julien Reitzenstein kritisiert in der taz den internationalen Umgang mit der Restitution von Kunstwerken, die jüdische Menschen bei ihrer Flucht aus Nazi-Deutschland verkaufen mussten: "Wer die deutsche Demokratie ernst nimmt, wird keine Probleme damit haben, den vor 1945 als Juden verfolgten Deutschen - viele von ihnen waren schon seit Generationen Christen - ihr Grundrecht auf Eigentum ohne Einschränkung zuzugestehen. Wer aber beim Eigentumsrecht zwischen Juden und Nichtjuden unterscheidet, bewegt sich auf dem Pfad des Antisemitismus - einem Kern der NS-Ideologien."

Besprochen werden eine Jeff Wall-Retrospektive in der Fondation Beyerler bei Basel (FAZ, NZZ tsp), eine Anna Opermann-Retrospektive in der Bundeskunsthalle Bonn (tsp), die Ausstellung "Sieh dir die Menschen an! Das neusachliche Typenporträt in der Weimarer Zeit" im Kunstmuseum Stuttgart (SZ) und die Ausstellung "Postkartenkilometer. Künstlerkarten in Europa von 1960 bis heute" im Residenzschloss Dresden (taz).
Archiv: Kunst

Musik

Maxi Broecking porträtiert für die taz die US-Jazzpianistin Myra Melford, deren neues Album "Hear the Light Singing" (wie auch schon das zuvor entstandene Album) von den Lichtstimmungen in Cy Twomblys in Gaeta bei Neapel enstandendem Bilderzyklus inspiriert ist. Melford habe auf "die Energie der Zeichnungen ... sofort reagiert, 'als spürbare kinästhetische Reaktion, die mich dazu bringt, Klavier zu spielen und Musik zu komponieren'. ... Das intervallische Kompositionssystem von Henry Threadgill hat Melfords Kompositionsweise definitiv beeinflusst, und wie Butch Morris in seinen 'Conductions' durch Gestik improvisierte Stücke gestaltet habe, präge bis heute, wie sie über das Komponieren und improvisatorische Räume nachdenke. Dazu John Zorns Überlegungen, Improvisation zu lenken und den Beteiligten trotzdem künstlerische Freiheit zu lassen, ihr je eigenes Vokabular zu benutzen. Doch sie sei keine Kopistin: 'Ich synthetisiere all diese Ideen auf meine eigene Weise.'" Das hört Broecking auch auf dem neuen Album, "dessen illuminierter Klang und gezeichnete Musik wirklich das Licht zum Singen bringt".



Weiteres: Ziemlich fassungslos steht Philipp Bovermann in der SZ vor dem Deepfake-Pornoskandal rund um Taylor Swift auf Twitter, von einigen auch X genannt: Die Plattform wurde der Schwemme überhaupt erst Herrin, nachdem sie einfach jede Suchanfrage nach dem Popstar ins Leere laufen ließ. Wolfgang Sandner resümiert die viertägige Jazz-Residenz des Trompeters Till Brönner in Frankfurt. Ane Hebeisen schreibt im Tagesanzeiger zum Tod des Luzerner Sängers Bruno Amstad. Besprochen wird der Netflix-Film "The Geatest Night on Earth" über die Entstehung der Benefiz-Kitschapotheose "We are the World" (Welt).
Archiv: Musik

Literatur

Daniela Tan porträtiert für die NZZ die japanische Schriftstellerin Sayaka Murata, die in ihrer Heimat bereits als Stimme ihrer Generation gehandelt wird. "Zurückhaltend im Auftreten, spricht sie mit einer ebenso präzisen wie poetischen Sprache etwas an, was viele ihrer Generation nur zu gut kennen. Es ist ein Gefühl von Ungewissheit angesichts der sozioökonomischen Lage des gegenwärtigen Japan." Unter anderem ein Grund "für Muratas Popularität ist das hohe Potenzial der Identifikation mit ihren prekären Figuren, die gesellschaftliche Erwartungen nicht erfüllen können oder wollen. Es ist demnach weniger ein Scheitern als eine Verweigerung, in der sich eine radikal andere Perspektive auf die scheinbare Normalität wirft. Muratas Antihelden sind stille Nonkonformisten, die zunächst mit Rückzug reagieren."

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Johann Voigt erzählt in der taz von seinem Treffen in Wien mit dem Schriftsteller Elias Hirschl, dessen Roman "Content" eine Herausforderung für jeden Rezensenten darstellt: Es "ist kein konventioneller Roman, der ein Thema von vorne bis hinten durcherzählt. 'Content' funktioniert wie das Web 2.0: Man kann zwar versuchen, einer stringenten Erzählung zu folgen, aber verliert sich dabei in den unzähligen Verlinkungen, Motiven, Gedankensträngen, die in alle Richtungen wuchern. ... Es ist ein Konglomerat aus Themen, Textformen und Genres. Aus Gegenwartsprosa, Nature Writing und magischem Realismus. Der die scheinheiligen Versprechen der Startup-Szene genauso aufgreift wie den Umgang mit Social Media und KI, Arbeitsformen im Spätkapitalismus (Kohlemine vs. Dienstleistungssektor vs. Digital-Prekariat), Popkultur, Internet-Memes, mystische Riesenorganismen, die sich von Content ernähren, und, nun ja, den Weltuntergang."

Weitere Artikel: Hartwig Isernhagen schreibt in der NZZ zum Tod des Pulitzerpreisträgers N. Scott Momaday. Für die SZ spricht Kathleen Hildebrand mit Anke Engelke über deren auf vegan und weniger autoritär umgetextete Version des Kinderbuchklassikers "Die Häschenschule" von Albert Sixtus.

Besprochen werden unter anderem David Grossmans Textesammlung "Frieden ist die einzige Option" (Welt), Simone Meiers "Die Entflammten" (TA), Alex Capus' "Das kleine Haus am Sonnenhang" (NZZ), Viktor Funks "Bienenstich" (FAZ) und László Krasznahorkais Erzählungsband "Im Wahn der Anderen" (SZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur